Urteil des BVerwG vom 07.07.2005

Aufenthalt, Stadt, Jugendhilfe, Jugendamt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 9.04
Verkündet
OVG 4 LB 537/02
am 7. Juli 2005
Hänig
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts
vom 28. Januar 2004 und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Hannover vom 9. November 2001 werden aufgehoben, soweit
sie der Klägerin einen Erstattungsanspruch dem Grunde nach
für Jugendhilfeleistungen in der Zeit vom 1. Juli 1998 bis zum
10. Oktober 2001 zusprechen. Insoweit wird die Klage abge-
wiesen.
Im Übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt 3/5, der Beklagte 2/5 der Kosten des Verfah-
rens.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin, die Stadt M., eine örtliche Trägerin der öffentlichen Ju-
gendhilfe, begehrt vom Beklagten, dem Landkreis Sch., ebenfalls ein örtlicher Träger
der öffentlichen Jugendhilfe, die Erstattung von Jugendhilfeleistungen, die sie in der
Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 10. Oktober 2001 in Höhe von rund 349 000 DM für
die Heimerziehung des Kindes S. erbracht hat.
S. wurde am 6. September 1995 im Bereich des Beklagten geboren. Ihre
im Januar 1979 im ehemaligen Jugoslawien geborene Mutter war 1992 mit Eltern
und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo sie Asyl bean-
tragten und der Stadt C. zugewiesen wurden. Das Asylverfahren blieb erfolglos
(rechtskräftig seit 7. Februar 1996). Die Mutter von S. hielt sich schon vor deren Ge-
burt nicht bei ihrer elterlichen Familie in C., sondern bei ihrem Partner, dem Vater
von S., auf, der ebenfalls aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, erfolglos Asyl
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beantragt hatte, im Bereich des Beklagten in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnte
und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhielt. Die Stadt C. erteilte
der Mutter und ihrem Kind S. am 9. April 1996 eine Duldung, die jeweils verlängert
wurde, mit der Auflage, Wohnsitz in C. zu nehmen. Die Mutter blieb bei ihrem Part-
ner, der am 17. September 1996 die Vaterschaft anerkannte. Am 4. Juli 1997 heira-
teten die Eltern von S. Am 23. April 1998 stimmte der Beklagte und am 7. Mai 1998
die Stadt C. der Umverteilung von Mutter und Kind an den Wohnort des Vaters zu.
Wegen eines angeborenen schweren Herzfehlers wurde S. nach der
Geburt in einer Spezialklinik operiert und danach in der Kinderklinik im Bereich der
Klägerin weiter behandelt. Als im Frühjahr 1996 die Entlassung anstand, sprach sich
das Jugendamt des Beklagten gegen eine Aufnahme des Kindes in die Unterkunft
der Eltern aus, da dort eine der schweren Krankheit angemessene Versorgung nicht
gewährleistet sei. Da die Eltern darauf bestanden, das Kind bei sich aufzunehmen,
bestellte das Vormundschaftsgericht durch Beschluss vom 25. Mai 1996 das Ju-
gendamt der Klägerin vorläufig zum Vormund des Kindes. Das Jugendamt bestimm-
te, dass das Kind ab Entlassung aus der Klinik am 26. Juni 1996 in das Kinderhaus
F. in R., Kreis M.-L., aufzunehmen sei. Dem Kinderhaus erteilte die Klägerin eine
Kostenzusage. Seitdem wurde S. dort auf Kosten der Klägerin betreut. Nach dem
Hilfeplan der Klägerin vom 19. Dezember 1996 wurde die Hilfe ab Beginn als solche
nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung) bezeichnet. Während der streitgegenständli-
chen Zeit wurde der Hilfeplan regelmäßig fortgeschrieben. Durch Beschluss des
Landgerichts vom 19. Januar 1998 wurde die Klägerin aus der Vormundschaft ent-
lassen und das Jugendamt des Kreises M.-L. zum Vormund bestellt. Dieses stellte
am 1. April 1998 einen Asylantrag für S., der durch bestandskräftig gewordenen Be-
scheid vom 20. Juli 1998 abgelehnt wurde.
Alsbald nach Einsetzen der Jugendhilfe wandte sich die Klägerin an den
Beklagten und die Stadt C. und beantragte Erstattung der Kosten. Der Beklagte
lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Mutter habe keinen gewöhnlichen
Aufenthalt in seinem Bereich, da sie der Stadt C. zugewiesen sei. Diese meinte da-
gegen, dass die Mutter nicht nur ihren tatsächlichen, sondern auch ihren gewöhnli-
chen Aufenthalt im Bereich des Beklagten bei ihrem Partner, dem Vater von S., be-
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gründet habe. Auch der überörtliche Träger der Jugendhilfe lehnte eine Kostener-
stattung ab.
Der Klage der Klägerin gegen den Beklagten - die Klagen gegen die
Stadt C. und gegen den überörtlichen Träger sind ausgesetzt - auf Erstattung der in
der Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 10. Oktober 2001 aufgewendeten Jugendhilfe-
kosten in Höhe von 348 837,07 DM hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom
9. November 2001 dem Grunde nach stattgegeben. Die Berufung hiergegen hat das
Oberverwaltungsgericht mit im Wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen:
Die Kostenerstattungspflicht des Beklagten ergebe sich aus § 89c Abs. 1
Satz 2 i.V.m. § 86 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 86d SGB VIII. Die Klägerin, in deren Be-
reich sich das Kind tatsächlich aufgehalten habe, sei nach § 86d SGB VIII verpflichtet
gewesen, vorläufig tätig zu werden, da kein anderer Jugendhilfeträger dazu bereit
gewesen sei. Örtlich zuständig sei aber nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nach der
Vaterschaftsanerkennung nach Satz 1 dieser Vorschrift, der Beklagte gewesen, da in
seinem Bereich die Mutter und der Vater von S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt ge-
habt hätten. Die Mutter habe sich schon vor der Geburt ihres Kindes bei ihrem Part-
ner aufgehalten. Die Wohnsitzauflage für Mutter und Kind in der Duldung der Stadt
C. vom 9. April 1996 habe der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne
des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I durch die Mutter im Bereich des Beklagten nicht ent-
gegengestanden. Die Auflage habe faktisch keine Bedeutung gehabt, weil keine
Ausländerbehörde sie durchgesetzt habe (und hinsichtlich des Kindes auch nicht
hätte durchsetzen können, ohne dessen Leben akut zu gefährden). Ihrer Durchset-
zung habe auch der die Familie schützende Art. 6 GG entgegengestanden, da die
Mutter mit dem Vater des gemeinsamen Kindes habe zusammenleben wollen und
sie bestrebt gewesen seien, das Kind bei sich aufzunehmen. Also schon lange vor
der - formalen - Umverteilung im April/Mai 1998, nämlich vor Beginn der Jugendhil-
femaßnahme am 26. Juni 1996, habe die Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Bereich des Beklagten gehabt. An der örtlichen Zuständigkeit des Beklagten und
damit an seiner Kostenerstattungspflicht habe sich durch die Einleitung des Asylver-
fahrens für S. durch den Antrag des Amtsvormundes am 1. April 1998 und auch
durch die Neufassung des § 86 Abs. 7 SGB VIII durch Gesetz vom 29. Mai 1998
(BGBl I S. 1188) mit Wirkung vom 1. Juli 1998 nichts geändert. Mit der Neufassung
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habe der Gesetzgeber nur solche Fälle erfassen wollen, die ab Inkrafttreten der Än-
derung neu aufgetreten seien, nicht aber habe er in bestehende und anders geregel-
te Leistungsfälle ändernd eingreifen wollen. Gegen eine Anwendung des § 86 Abs. 7
SGB VIII n.F. auf "Altfälle" spreche, dass nach Satz 1 Halbsatz 1 der örtliche Träger
als zuständig bestimmt werde, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der
Leistung tatsächlich "aufhält". Aber selbst wenn § 86 Abs. 7 SGB VIII n.F. auch auf
"Altfälle" anzuwenden wäre, wäre die Klägerin für die Leistung nicht zuständig gewe-
sen, weil sich das Kind S. vor Beginn der Leistung nicht im Sinne dieser Vorschrift
tatsächlich im Bereich der Klägerin aufgehalten habe. Dessen tatsächlicher Aufent-
halt im Sinne dieser Vorschrift sei vielmehr weiter bei seiner Mutter im Bereich des
Beklagten gewesen.
Mit seiner Revision begehrt der Beklagte, die Klage auf Erstattung ab-
zuweisen. Nicht er, sondern die Stadt C. sei kostenerstattungspflichtig.
Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil.
II.
1. Die Revision des Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen
(§ 144 Abs. 2 VwGO), soweit sie sich gegen seine Verpflichtung zur Kostenerstat-
tung dem Grunde nach für die von der Klägerin in Bezug auf das Kind S. in der Zeit
vom 26. Juni 1996 bis zum 30. Juni 1998 erbrachten Jugendhilfeleistungen richtet.
Denn insoweit entspricht das Berufungsurteil Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO).
Wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, ist Rechtsgrundlage
für diesen Erstattungsanspruch § 89c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §§ 86d, 86 Abs. 1 Sätze 1
und 2 SGB VIII. Nach § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher
Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86d SGB VIII aufgewendet hat, von
dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen
Aufenthalt nach den §§ 86, 86a und 86b SGB VIII begründet wird. Die Klägerin war
nach § 86d SGB VIII zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet. Denn zum einen hat
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sich das Kind S. vor Beginn der Jugendhilfeleistung in der Kinderklinik und damit im
Bereich der Klägerin tatsächlich aufgehalten (1.1) und zum anderen ist der zuständi-
ge örtliche Träger, der Beklagte (1.2), nicht tätig geworden.
1.1 Die Jugendhilfeleistung für S. setzte am 26. Juni 1996 ein. An die-
sem Tage wurde S. aus der Kinderklinik entlassen und in das Kinderhaus F. in R.,
Kreis M.-L., aufgenommen. Zu Recht hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass für
eine Inobhutnahme des Kindes kein Anlass bestand. Vielmehr hatte das Jugendamt
der Klägerin als damals bestellter Vormund für S. im Rahmen seiner Personensorge
für die Zeit nach der Entlassung des Kindes aus der Klinik vorgesorgt und bestimmt,
dass S. in das Kinderhaus F. aufzunehmen sei. Da das Jugendamt der Klägerin als
Vormund das Kind nicht selbst pflegen, erziehen und beaufsichtigen konnte, war
damals, und zwar zukunftsoffen, eine Unterbringung der S. in einem Heim erforder-
lich. Hierfür war Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII zu gewähren. Nach den tat-
sächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts verstand die Klägerin nach Erstel-
lung eines Hilfeplans ihre Hilfe rückwirkend ab 26. Juni 1996 als Hilfe nach § 34 SGB
VIII (Heimerziehung).
1.2 In der Zeit bis zum 30. Juni 1998 war der Beklagte der zuständige
örtliche Träger für die Hilfe zur Heimerziehung.
1.2.1 Für die Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 16. September 1996 ergibt
sich die örtliche Zuständigkeit des Beklagten aus § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII.
Danach ist, wenn und solange die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich fest-
gestellt ist, für Jugendhilfeleistungen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich
die Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Da die Vaterschaft am 17. September
1996 anerkannt worden ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit für die Hilfeleistung
bis zum 16. September 1996 allein nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter
von S.
Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, zu dem sich für den hier zu beurteilen-
den Fall aus dem Achten Buch Sozialgesetzbuch Abweichendes nicht ergibt (§ 37
Satz 1 SGB I), hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter
Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Ge-
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biet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines "gewöhnlichen Aufent-
halts" ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich; es genügt viel-
mehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf Weiteres" im
Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urteile vom 26. September 2002 - BVerwG 5 C
46.01 - und 18. März 1999 - BVerwG
5 C 11.98 - ).
Hiervon ausgehend haben die Vorinstanzen übereinstimmend und zu-
treffend dahin erkannt, dass die Mutter von S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in H. im
Gebiet des Beklagten hatte. Nach den tatsächlichen Feststellungen auch des Ober-
verwaltungsgerichts war die Mutter zwar nach der Einreise im Jahre 1992 der Stadt
C. in Niedersachsen zugewiesen worden, hielt sich aber schon vor der Geburt ihres
Kindes tatsächlich nicht in C., sondern bei ihrem Partner, dem Vater von S., in H. auf.
Auch als die Mutter nach erfolglosem Asylverfahren von der Stadt C. für sich und ihr
Kind im April 1996 eine Duldung mit der Auflage, Wohnsitz in C. zu nehmen, erhalten
hatte sowie nach den jeweiligen Verlängerungen dieser Duldung, lebte sie weiterhin
bei ihrem Partner in H.
Durch die Auflage (allein), Wohnsitz in C. zu nehmen, wurde für die
Mutter dort kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet, weil sie dort nicht tatsächlich
Aufenthalt genommen hat. Denn der tatsächliche Aufenthalt ist zwar nicht hinrei-
chende, aber notwendige Bedingung für die Begründung eines gewöhnlichen Auf-
enthalts (BVerwG, Urteil vom 26. September 2002, a.a.O.). Eine Regelung, die, wie
§ 10a Abs. 3 Satz 4 AsylbLG für das Asylbewerberleistungsrecht, im Falle der Vertei-
lung oder Zuweisung einer Person (nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) den Bereich,
in den verteilt oder zugewiesen worden ist, unabhängig von einem tatsächlichen
Aufenthalt dort als gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt, gibt es im Jugendhilferecht
nicht. Während § 10a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG - dem § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ent-
sprechend - als gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Asylbewerberleistungsgeset-
zes allgemein den Ort bezeichnet, an dem sich jemand unter Umständen aufhält, die
erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorüberge-
hend verweilt, enthält § 10a Abs. 3 Satz 4 AsylbLG eine Sonderregelung im Bereich
des Asylbewerberleistungsrechts für den Fall der Verteilung oder Zuweisung einer
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Person nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Da diese Sonderregelung allein für den
Bereich des Asylbewerberleistungsrechts getroffen worden ist, lässt sie sich zum
einen nicht auf das Jugendhilferecht übertragen und ist zum anderen der Gegen-
schluss gerechtfertigt, dass ausgehend von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I im Jugendhil-
ferecht ein gewöhnlicher Aufenthalt ohne tatsächlichen Aufenthalt nicht begründet
werden kann.
Zu Recht haben die Vorinstanzen im vorliegenden Streitfall entschie-
den, dass die Auflage in der Duldung, Wohnsitz in C. zu nehmen, der Begründung
eines gewöhnlichen Aufenthalts durch die Mutter in H. im Bereich des Beklagten
nicht entgegenstand. Dazu haben sie im Tatsächlichen festgestellt, dass die Wohn-
sitzauflage faktisch keine Bedeutung erlangt habe, weil die Behörden sie nicht
durchgesetzt, sondern hingenommen hätten, dass sich die Mutter bei ihrem Partner
und späteren Ehemann, dem Vater ihres Kindes, in H. aufgehalten habe. Damit war
es der Mutter von S. schon vor ihrer förmlichen Umverteilung an den Wohnort ihres
(seit 4. Juli 1997) Ehemannes im Mai 1998 möglich, sich in H. "bis auf Weiteres" im
Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufzuhalten und dort den Mittelpunkt ihrer
Lebensbeziehungen zu haben, wobei es auf die ausländerrechtliche Rechtmäßigkeit
dieses Aufenthalts nicht ankommt.
1.2.2 Für die Zeit ab dem 17. September 1996 (Anerkennung der Va-
terschaft) ergibt sich die örtliche Zuständigkeit des Beklagten aus § 86 Abs. 1 Satz 1
SGB VIII, wonach für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen, hier für die Hilfe zur
Heimerziehung nach § 34 SGB VIII, der örtliche Träger zuständig ist, in dessen Be-
reich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Wie bereits ausgeführt, war
der gewöhnliche Aufenthalt nicht nur des Vaters, sondern auch der Mutter von S. in
H. im Gebiet des Beklagten.
1.2.3 An dieser Zuständigkeit hat sich durch den Asylantrag der S. vom
1. April 1998 bis zum 30. Juni 1998 nichts geändert. Denn nach § 86 Abs. 7 SGB VIII
in seiner für diese Zeit maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 15. März
1996 (BGBl I S. 477) richtete sich für Leistungen an Asylsuchende die örtliche
Zuständigkeit nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde
und war bis zur Zuweisung der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich der
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Asylsuchende vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhielt. Diese Zuständigkeit für
Leistungen an Asylsuchende galt nur für die Zeit "bis zur Zuweisung" und die Zeit
"nach der Zuweisungsentscheidung", also nur für Asylsuchende, die dem Vertei-
lungsverfahren nach §§ 44 ff. AsylVfG unterlagen. Dazu gehörte die damals zwei-
einhalb Jahre alte S. nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht.
2. Die Revision des Beklagten ist begründet, soweit sie sich gegen
dessen Verpflichtung zur Kostenerstattung dem Grunde nach für die von der Klägerin
in Bezug auf das Kind S. in der Zeit vom 1. Juli 1998 bis zum 10. Oktober 2001
erbrachten Jugendhilfeleistungen richtet. Insoweit ist die Klage abzuweisen.
Für diese Zeit steht der Klägerin kein Anspruch auf Kostenerstattung
zu, weil sie für die in dieser Zeit erbrachte Jugendhilfe selbst zuständig war. Denn
durch Gesetz vom 29. Mai 1998 (BGBl I S. 1188) ist § 86 Abs. 7 SGB VIII mit Wir-
kung vom 1. Juli 1998 wie folgt neu gefasst worden:
Für Leistungen an Kinder oder Jugendliche, die um Asyl nach-
suchen oder einen Asylantrag gestellt haben, ist der örtliche Träger zustän-
dig, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der Leistung tatsächlich
aufhält; geht der Leistungsgewährung eine Inobhutnahme voraus, so bleibt
die nach § 87 begründete Zuständigkeit bestehen. Unterliegt die Person ei-
nem Verteilungsverfahren, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach der
Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde; bis zur Zuwei-
sungsentscheidung gilt Satz 1 entsprechend. Die nach Satz 1 oder 2 begrün-
dete örtliche Zuständigkeit bleibt auch nach Abschluss des Asylverfahrens so
lange bestehen, bis die für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit maß-
gebliche Person einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich eines anderen
Trägers der öffentlichen Jugendhilfe begründet. Eine Unterbrechung der Leis-
tung von bis zu drei Monaten bleibt außer Betracht.
2.1 Entgegen dem Berufungsgericht kann die Neufassung nicht dahin
verstanden werden, dass sie nur solche Leistungsfälle erfasse, die insgesamt erst ab
Inkrafttreten der Gesetzesänderung neu aufgetreten sind. Das Gesetz bestimmt
ausdrücklich, dass die Neufassung mit dem 1. Juli 1998 in Kraft tritt und damit die
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Zuständigkeit bestimmend wirksam wird. Deshalb richtet sich die Zuständigkeit für
Jugendhilfeleistungen ab 1. Juli 1998 auch in den Fällen nach § 86 Abs. 7 SGB VIII
n.F., in denen der Asylantrag bereits vor dem 1. Juli 1998 gestellt war und Jugendhil-
fe auch schon vor dem 1. Juli 1998 geleistet worden ist. Eine Übergangsregelung
dahin, dass § 86 Abs. 7 SGB VIII a.F. für Altfälle weitergelte, hat der Gesetzgeber
nicht getroffen.
2.2 § 86 Abs. 7 SGB VIII n.F., der die Zuständigkeit für Leistungen "an"
Kinder oder Jugendliche regelt, erfasst nicht nur Leistungen, die dem Kind oder
Jugendlichen selbst zustehen, sondern auch die Jugendhilfeleistungen, für die, wie
für die Hilfe zur Erziehung, zwar der Personensorgeberechtigte anspruchsberechtigt
ist, die aber, wie die Hilfe zur Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen, be-
zogen auf ein Kind oder einen Jugendlichen erbracht werden (vgl. Kunkel, LPK-SGB
VIII, 2. Aufl. 2003, § 86 Rn. 58; Wiesner, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 86 Rn. 44;
Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., Stand 1998, § 86
Rn. 81 - 83).
2.3 Nach § 86 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII n.F. ist der örtliche Träger zu-
ständig, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der Leistung tatsächlich auf-
hält. Dabei bezeichnet der Begriff "vor Beginn der Leistung" im Rahmen der jugend-
hilferechtlichen Zuständigkeitsregelungen nicht die Zeit vor der konkreten Jugendhil-
feleistung, für die die Zuständigkeit zu klären ist, hier die Zeit vor dem 1. Juli 1998,
sondern die Zeit vor Beginn der - nicht für längere Zeit unterbrochenen - Jugendhilfe-
leistung insgesamt (vgl. BVerwGE 120, 116 zum Begriff "vor Beginn der Leistung" in
§ 86 Abs. 2 und 4 SGB VIII), hier also die Zeit vor der am 26. Juni 1996 begonnenen
Hilfe zur Erziehung. Vor dem 26. Juni 1996 hat sich S. in der Kinderklinik im Gebiet
der Klägerin tatsächlich aufgehalten. Der Einschätzung des Berufungsgerichts, das
Kind S. habe sich "jedenfalls am Tag seiner Geburt bei seiner Mutter im Bereich des
Beklagten aufgehalten" und deshalb sei "sein tatsächlicher Aufenthalt … weiter (also
auch vor dem 26. Juni 1996) bei seiner Mutter im Bereich des Beklagten gewesen",
kann nicht gefolgt werden. Denn S. hielt sich bereits kurze Zeit nach ihrer Geburt
nicht mehr bei ihrer Mutter auf und lebte vor ihrer Aufnahme in das Kinderhaus F. ein
dreiviertel Jahr in Kliniken, wobei bereits einige Zeit vor ihrem Wechsel in das Kin-
derhaus F. feststand, dass sie nicht zu ihrer Mutter werde entlassen werden können.
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2.4 Die nach § 86 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII n.F. begründete Zuständigkeit
der Klägerin blieb nach § 86 Abs. 7 Satz 3 SGB VIII n.F. auch nach Abschluss des
Asylverfahrens bestehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf einen Streit-
wert bis 185 000 € festgesetzt.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Kinder- und Jugendhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
SGB I
§ 30 Abs. 3 Satz 2
SGB VIII
§ 86 Abs. 1 und 7, §§ 86d, 89c
Stichworte:
Gewöhnlicher Aufenthalt und tatsächliche Aufenthaltsnahme;
tatsächliche Aufenthaltsnahme, Voraussetzung eines gewöhnlichen Aufenthalts;
Zuständigkeitsänderung während des Leistungsbezugs, Asylantrag, jugendhilferecht-
liche Zuständigkeit nach -.
Leitsätze:
1. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2
SGB I bzw. § 86 Abs. 1 SGB VIII setzt eine tatsächliche Aufenthaltsnahme voraus
(wie BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 - BVerwG 5 C 46.01 -
436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 1>).
2. Die Zuständigkeit für Jugendhilfeleistungen richtet sich auch dann nach § 86
Abs. 7 SGB VIII in seiner ab dem 1. Juli 1998 geltenden Fassung, wenn der Asylan-
trag bereits vor dem 1. Juli 1998 gestellt war und Jugendhilfe auch schon vor dem
1. Juli 1998 geleistet worden ist.
Urteil des 5. Senats vom 7. Juli 2005 - BVerwG 5 C 9.04
I. VG Hannover vom 09.11.2001 - Az.: VG 9 A 5911/00 -
II. OVG Lüneburg vom 28.01.2004 - Az.: OVG 4 LB 537/02 -