Urteil des BVerwG vom 28.05.2003
Haftpflichtversicherung, Sozialhilfe, Unbestimmter Gesetzesbegriff, Angemessenheit
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 8.02
OVG 12 A 5824/00
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 28. Mai 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungs-
gerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 2001
wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
I.
Die 1959 geborene Klägerin zu 1 und ihre beiden Kinder, die 1980 und 1988 geborenen
Kläger zu 3 und 4, erhielten vom Beklagten seit September 1994 ergänzende Hilfe zum Le-
bensunterhalt, weil die Erwerbsunfähigkeitsrente des pflegebedürftigen Ehemannes der Klä-
gerin zu 1, des früheren Klägers zu 2, nur dessen eigenen sozialhilferechtlichen Bedarf ab-
deckte und außer dem Kindergeld kein Einkommen bezogen wurde.
Von Oktober 1989 bis einschließlich März 1994 waren die Kläger bei der A-Versicherung
privat haftpflichtversichert. Mit Wirkung vom 1. September 1996 schloss der Ehemann der
Klägerin zu 1 eine Privathaftpflichtversicherung bei der B-Versicherung ab, deren Versiche-
rungsschutz sich auch auf den Ehegatten und die unverheirateten Kinder bezog, so lange sie
sich noch in einer Schul- oder sich unmittelbar anschließenden Berufsausbildung befanden.
Der Jahresbeitrag belief sich von September 1996 bis einschließlich August 1997 auf
120,80 DM.
Mit Schreiben vom 5. September 1996 beantragte der Ehemann der Klägerin zu 1, im Rah-
men der Hilfegewährung die Beiträge für die Haftpflichtversicherung zu übernehmen. Der
Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, die Kosten einer Haftpflichtversicherung könn-
ten im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nur einkommensbereinigend berücksichtigt
werden, wenn die Versicherung bereits bei erstmaliger Bewilligung von Hilfe zum Lebensun-
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terhalt bestanden habe und nicht zugemutet werden könne, aus dem bestehenden Vertrag
auszuscheiden (Bescheid vom 3. Januar 1997).
Das Verwaltungsgericht hat die nach erfolgslosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom
18. Juli 1997) erhobene Klage, in deren Rubrum auch die Kläger zu 3 und 4 aufgenommen
wurden, als unbegründet abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hingegen hat auf die
Berufung der Kläger zu 1, 3 und 4 den Beklagten in entsprechender Änderung des
erstinstanzlichen Urteils und der angefochtenen Bescheide verpflichtet, den Klägern weitere
Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 5. September 1996 bis zum 31. Juni 1997 unter
anteiliger Berücksichtigung des Jahresbeitrages von 120,80 DM für die Haftpflichtversiche-
rung zu bewilligen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Zwar gehörten die Kosten einer privaten Haftpflichtversicherung nicht zum notwendigen Le-
bensunterhalt im Sinne von § 12 BSHG, doch sei die Prämie für die streitbefangene Haft-
pflichtversicherung gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG von dem einzusetzenden Einkommen
abzusetzen. Der Einkommensabsetzung stehe nicht entgegen, dass die Versicherung erst
während laufender Sozialhilfe abgeschlossen worden sei. Weder aus Wortlaut und Entste-
hungsgeschichte des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG noch aus der inneren Systematik des Bun-
dessozialhilfegesetzes lasse sich ableiten, dass Beiträge für eine erst während des Sozialhil-
febezugs abgeschlossene Versicherung allein deshalb als nicht "angemessen" von der Ab-
setzung vom Einkommen auszunehmen seien. Bei der Bestimmung des Begriffs der Ange-
messenheit aus der inneren Systematik des § 76 BSHG sowie aus Sinn und Zweck der Vor-
schrift unter Berücksichtigung der dem Sozialhilferecht insgesamt innewohnenden Zielset-
zungen sei zunächst zu fragen, ob die Versicherung einen vernünftigen, nachvollziehbaren
Zweck verfolge; dies sei mit Blick auf Schäden, die von Kindern und Jugendlichen insbeson-
dere durch mangelnde Vorsicht beim Spielen oder durch Unachtsamkeit im Verkehr ver-
schuldet würden, der Fall. Unter dem Blickwinkel der Daseinsvorsorge werde der Abschluss
einer Familienhaftpflichtversicherung, in die zwei minderjährige Kinder einbezogen seien,
von einem vernünftigen und vorausschauenden Bürger, der kein überzogenes Sicherheits-
bedürfnis habe, als ratsam eingestuft; bereits bei nur geringer Unachtsamkeit und aufgrund
kleinster Ursachen könnten in heutiger Zeit "ruinöse" Schäden, die nicht mehr oder nur über
einen langen Zeitraum hin aus eigenen Mitteln zu ersetzen seien, entstehen. Der Abschluss
der Versicherung erst während des laufenden Sozialhilfebezuges gereiche den Klägern unter
dem Gesichtspunkt der Daseinsvorsorge nicht zum Nachteil. Bei mehrköpfigen Familien mit
minderjährigen Kindern sei die Schadenswahrscheinlichkeit grundsätzlich höher als z.B.
einem Erwachsenen, und ein vernünftiger und vorausschauend planender Bürger würde die
Versicherung jedenfalls dann abschließen, wenn er sich des Risikos durch besondere Ereig-
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nisse bewusst werde, wie dies angesichts vom Beklagten nicht bestrittener Vorfälle betref-
fend die Kläger zu 3 und 4 der Fall gewesen sei, welche ihren Vater zum erneuten Abschluss
einer Haftpflichtversicherung veranlasst hätten. Zwar entspreche es grundsätzlich dem
Prinzip des Nachrangs der Sozialhilfe, den Einkommensabzug bei gesetzlich nicht vor-
geschriebenen Versicherungsbeiträgen auf Vorsorgeaufwendungen zu beschränken, die
eine der gesetzlichen Sozialversicherung vergleichbare Bedeutung für die grundlegende
Daseinsvorsorge hätten, einen engen Bezug zur Erwerbstätigkeit und den damit einherge-
henden Risiken aufwiesen und einen bescheidenen Rahmen nicht überschritten, doch sei
der enge Bezug zur Erwerbstätigkeit ausnahmsweise entbehrlich, wenn mit der Versicherung
Risiken abgedeckt würden, die nach Art und Bedeutung gleichzuachten seien. Die Fa-
milienhaftpflichtversicherung falle nicht zu weit aus dem Zusammenhang der übrigen durch
§ 76 Abs. 2 BSHG berücksichtigten Risiken heraus, denn sie habe zumindest bei Familien
mit minderjährigen Kindern nach Art und Bedeutung des versicherten Risikos eine ver-
gleichbare Bedeutung für die grundlegende Daseinsvorsorge wie die übrigen durch § 76
Abs. 2 BSHG berücksichtigten Risiken. Schulden zu vermeiden, gehöre im Rahmen der
Vermögenssorge zu der im § 1626 Abs. 1 BGB geregelten Pflicht der Eltern, für das minder-
jährige Kind zu sorgen. Die mit dem Abschluss einer Familienhaftpflichtversicherung be-
zweckte Sicherung sei ein Beitrag zur Erlangung und Beibehaltung einer eigenständigen,
vom dauerhaften Sozialhilfebezug unabhängigen wirtschaftlichen Stellung, ohne über das
Ziel einer elementaren Hilfe in der Not hinauszuweisen. Zwar werde der Sozialhilfeträger
durch die Familienhaftpflichtversicherung in einem Schadensfall nur geringfügig entlastet, da
er Schadensersatzansprüche nicht übernehmen müsse, doch werde mit dem Abschluss
einer Familienhaftpflichtversicherung die Möglichkeit eines "ruinösen" Schadens weitestge-
hend ausgeschlossen, der den Weg in ein von der Sozialhilfe unabhängiges Leben langfris-
tig, wenn nicht lebenslang, versperren könne. In einem solchen Schadensfalle würden ins-
besondere die Kläger zu 3 und 4 in der Sozialhilfe "festgehalten", und der Zusammenhalt der
Familie, deren Selbsthilfekräfte anzuregen seien (§ 7 BSHG), wäre gefährdet. Auch nach der
Höhe entspreche der Beitrag dem, was ein in bescheidenen Verhältnissen lebender, aber
nicht sozialhilfebedürftiger Bürger in einer ansonsten vergleichbaren Lage für sinnvoll und
tragbar erachten würde.
Mit seiner (vom Berufungsgericht zugelassenen) Revision rügt der Beklagte eine Verletzung
von § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG.
Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil.
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II.
Die Revision, über die das Bundesverwaltungsgericht infolge des Einverständnisses der Be-
teiligten gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne
mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist nicht begründet. Das Berufungsurteil steht mit
Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) im Einklang, so dass die Revision zurückzuweisen
ist (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht ent-
schieden, dass die Beiträge für die Haftpflichtversicherung der Kläger nach § 76 Abs. 2 Nr. 3
BSHG abzusetzen sind.
Von dem vor Bezug von Sozialhilfe einzusetzenden Einkommen sind nach § 76 Abs. 2 Nr. 3
BSHG u.a. Beiträge zu privaten Versicherungen abzusetzen, soweit diese Beiträge gesetz-
lich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind. Der Begriff "angemessen"
ist unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift auszulegen, zu
deren Tatbestandsmerkmalen er gehört; er ist ein unbestimmter Gesetzesbegriff, dessen
Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung gerichtlich voll überprüfbar sind (vgl. Urtei-
le des Senats vom 21. Dezember 2001 - BVerwG 5 C 27.00 - und vom
27. Juni 2002 - BVerwG 5 C 43.01 -
Entscheidungssammlung bestimmt>).
Das Oberverwaltungsgericht hat die Beiträge zu Recht mit der Begründung als angemessen
im Sinne von § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG angesehen, dass "ein in bescheidenen Verhältnissen
lebender, aber nicht sozialhilfebedürftiger Bürger in einer ansonsten vergleichbaren Lage"
den Abschluss der Familienhaftpflichtversicherung auch als sinnvoll erachtet hätte. Diese
Betrachtungsweise entspricht den Kriterien, welche der Senat in seinem Urteil vom 27. Juni
2002 - BVerwG 5 C 43.01 - (a.a.O.) betreffend die Absetzungsfähigkeit von Beiträgen zu
einer Sterbegeldversicherung zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals "angemessen" im
§ 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG mit Blick auf Sinn und Zweck dieser Regelung entwickelt hat.
Als Beurteilungsmaßstab für die Absetzungsfähigkeit u.a. von Beiträgen zu privaten Versi-
cherungen unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit hat der Senat (a.a.O.) dem Um-
stand Rechnung getragen, "dass (gerade) auch Bezieher geringer Einkommen Risiken ab-
zusichern pflegen, bei deren Eintritt ihre weitere Lebensführung außerordentlich belastet
wäre ...". Dies trifft insbesondere auf Haftpflichtschäden, welche jedermann aus alltäglichen
Anlässen in nicht vorhersehbarer Höhe treffen können, ohne weiteres zu. Für die relevante
Vergleichsgruppe der Bezieher von Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze ist
sodann eine Abwägung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten vorzunehmen "zwischen dem
Umstand, dass eine Vorsorge gegen die allgemeinen Lebensrisiken als solche kaum jemals
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'unvernünftig' ist und dementsprechend auch unter wirtschaftlich beengten Verhältnissen
getroffen zu werden pflegt, und der Rücksicht auf die Sparzwänge ..., die davon abhalten,
ohne Not finanzielle Verpflichtungen einzugehen, die nur unter Gefährdung des notwendigen
Lebensunterhalts erfüllt werden können. Die 'Angemessenheit' von Vorsorgeaufwendungen
beurteilt sich somit sowohl danach, für welche Lebensrisiken (Grund) und in welchem
Umfang (Höhe) Bezieher von Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze solche
Aufwendungen zu tätigen pflegen, als auch nach der individuellen Lebenssituation des
Hilfesuchenden ...".
Danach würde auch ein in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen lebender Bezieher von
Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze bei Abwägung der versicherten Risiken
einerseits und der Sparzwänge andererseits eine Haftpflichtversicherung abschließen. Es
kann dahingestellt bleiben, ob deshalb im Rahmen des Üblichen liegende Beiträge für eine
Haftpflichtversicherung grundsätzlich als im Rahmen des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG angemes-
sen anzusehen sind, wovon - soweit ersichtlich - Rechtsprechung und Literatur ausgehen
(vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. Juli 1982 - 4 B 74/82 - ; Urteil vom
25. Januar 1989 - 4 A 30/87 - ; Urteil vom 29. November 1989 - 4 A
205/88 - ; offen gelassen in VGH Mannheim, Urteil vom 21. Januar
1991 - 14 S 494/89 - LS 3 ; Gutachten des Deutschen Vereins für Öf-
fentliche und Private Fürsorge vom 17. April 2001, NDV 2001, 385; Eichhorn-Fergen, Praxis
der Sozialhilfe, Stand 1. April 1998, S. 524; Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, 2. Aufl. 2003,
§ 76 Rn. 26; Gottschick-Giese, Das Bundessozialhilfegesetz, Kommentar, 9. Aufl. 1985, § 76
Rn. 8.3; Brühl in: LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, § 76 Rn. 69; Mergler/ Zink, BSHG, 4. Aufl.,
Stand März 2001, § 76 Rn. 90 m.w.N.; Schellhorn, BSHG, Kommentar, 16. Aufl. 2002, § 76
Rn. 38; Schmitt/ Hillermeier, BSHG, Stand August 2002, § 76 Rn. 19), oder darüber hinaus
noch auf individuelle Besonderheiten der jeweiligen Lebenssituation abzustellen ist. Bei einer
Familie mit minderjährigen Kindern ist der Abschluss einer Familienhaftpflichtversicherung
allemal angemessen. Gerade bei mehrköpfigen Familien mit minderjährigen Kindern besteht
eine höhere Schadenswahrscheinlichkeit; Schadensersatzpflichten bedeuten für geringere
als "ruinöse Schäden" bei geringem Familieneinkommen eine Belastung des Familienlebens
und können den Zusammenhalt in der Familie, deren Kräfte zur Selbsthilfe anzuregen sind
(§ 7 BSHG), gefährden. Der Abschluss einer Familienhaftpflichtversicherung, der auch Fa-
milien mit einem Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze Schutz vor die Lebens-
führung außerordentlich belastenden Risiken bietet, zu denen neben den von der Vorinstanz
angeführten "ruinösen Schäden" auch die zahlreichen kleineren Schadensrisiken des Alltags
gehören, ist für vernünftige und vorausschauende Eltern aus den in Betracht kommenden
Einkommensgruppen sozialhilferechtlich als sachgerechte Vorsorge - unabhängig vom Be-
stehen einer dahin gehenden unterhaltsrechtlichen Verpflichtung - anzuerkennen.
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Zu Recht hat die Vorinstanz die Angemessenheit der Versicherungsbeiträge nach Grund und
Höhe nicht unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt einer Berufsbezogenheit des ver-
sicherten Risikos geprüft; die Auffassung der Revision, grundsätzlich erfordere der Tatbe-
stand des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG einen engen Zusammenhang zu den Risiken einer Er-
werbstätigkeit, findet im Gesetz selbst keine Stütze, denn anders als Absatz 2 a dieser Be-
stimmung stellt Absatz 2 nicht auf einen Erwerbsbezug oder Zusammenhang mit einer Er-
werbstätigkeit ab.
Soweit die Revision im Zusammenhang mit der Frage nach den verfassungsrechtlichen
Grenzen einer Schuldenhaftung Minderjähriger unter dem Gesichtspunkt des im allgemeinen
Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) verankerten Rechts Minder-
jähriger, ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare (Schulden-)Belastungen - hier:
aus einer gesetzlichen Haftpflicht - gestalten zu können, auf die Beschränkungen der
rechtsgeschäftlichen Vertretungsmacht der Eltern gemäß der Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts vom 13. Mai 1986 - 1 BvR 1542/84 - (BVerfGE 72, 155 = FamRZ 1986,
769) und für den Bereich der deliktischen Haftung auf die gemäß Beschluss der 1. Kammer
des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. August 1998 - 1 BvL 25/96 -
(NJW 1998, 3557) bestehende rechtliche Möglichkeit eines Forderungserlasses durch den
Sozialversicherungsträger nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV hinweist, lässt sich daraus nicht
herleiten, es bedürfe deshalb nicht der sozialhilferechtlichen Anerkennung privater Vorsorge
im Rahmen des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG. Die Revision verkennt, dass mit dem Rechtsbegriff
der Angemessenheit nicht erst der Bereich verfassungsrechtlicher Schutzpflichten, sondern
bereits der Bereich wirtschaftlich sinnvollen Umgangs mit versicherbaren Risiken als Maß-
stab in Bezug genommen ist. Auch soweit die Revision mit Blick auf die Pfändungsschutz-
bestimmung des § 850 c ZPO meint, das vollstreckungsrechtliche Ziel, Vollstreckungs-
schuldnern einen Anreiz zur Behebung ihrer Notlage aus eigener Kraft zu belassen, werde
damit ausreichend gewährleistet und es bedürfe keines weiteren sozialhilferechtlichen
Schutzes, verkennt sie, dass der Begriff der Angemessenheit im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 3
BSHG sich an einem wirtschaftlich sinnvollen und sparsamen Verhalten, nicht aber an den
Maßstäben des Zwangsvollstreckungsrechts orientiert. Die nach Grund und Höhe angemes-
sene Absicherung gegen Risiken ist nicht mit der Begleichung bereits bestehender Schul-
den, der Ermöglichung eines schuldenfreien Lebens oder der rechtlichen Sicherung dagegen
zu verwechseln, durch Schuldenbegleichung sozialhilfebedürftig zu werden.
Soweit die Berücksichtigung der Versicherungsbeiträge bei der Berechnung des einzuset-
zenden Einkommens Einkommensbezieher im Vergleich zu einkommenslosen Sozialhilfe-
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empfängern begünstigt, sieht der Senat hier unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen
Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Beden-
ken. Denn die unterschiedlichen Rechtsfolgen sind durch unterschiedliche Voraussetzungen
(vorhandenes bzw. fehlendes Einkommen) bedingt.
Schließlich trifft aus den von der Vorinstanz zutreffend angeführten Gründen auch die An-
sicht der Revision nicht zu, die Haftpflichtversicherung der Kläger sei nach dem Individuali-
sierungsprinzip deshalb unangemessen, weil der Vater der Kläger zu 3 und 4 sie erst wäh-
rend des laufenden Bezugs von Sozialhilfe abgeschlossen habe. Der Umstand, dass die
Kläger vor Bezug von Sozialhilfe mehrere Monate ohne Versicherungsschutz gelebt haben,
schließt den Abzug der Haftpflichtbeiträge vom einzusetzenden Einkommen nicht aus.
Grundsätzlich gehen gesetzlich begründete Ansprüche oder Vergünstigungen für die Zukunft
nicht dadurch verloren, dass der Berechtigte sie (aus welchen Gründen auch immer)
zeitweise nicht geltend macht. Darin liegt kein rechtlich relevanter Verzicht der Eltern auf die
Inanspruchnahme des Schutzes einer Haftpflichtversicherung unter Abzug der Beiträge vom
sozialhilferechtlich einzusetzenden Einkommen, und es ist auch nicht zu erkennen, warum
ein nach Art des versicherten Risikos und den individuellen Lebensumständen angemesse-
ner Versicherungsschutz dadurch unangemessen werden sollte, dass der Hilfesuchende
sich der Bedeutung eines solchen Schutzes erst nach Bezug von Sozialhilfe (erneut) be-
wusst wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 188
Satz 2 VwGO.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Sozialhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
BSHG § 76 Abs. 2 Nr. 3
Stichworte:
Haftpflichtversicherung, Übernahme der Beiträge zu einer - im
Rahmen der Sozialhilfe;
Sozialhilfe, Übernahme der Beiträge zu einer Haftpflichtversicherung.
Leitsatz:
Beiträge zu einer Familienhaftpflichtversicherung sind jedenfalls bei Familien mit minderjäh-
rigen Kindern nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG einkommensmindernd zu berücksichtigen.
Urteil des 5. Senats vom 28. Mai 2003 - BVerwG 5 C 8.02
I. VG Düsseldorf vom 22.11.2000 - Az.: VG 20 K 2136/00 -
II. OVG Münster vom 12.12.2001 - Az.: OVG 12 A 5824/00 -