Urteil des BVerwG vom 26.02.2015

Entschädigung, Ablauf der Frist, Erledigung des Prozesses, Eltern

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Entschädigungsrecht nach Art. 8 des Gesetzes über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
Rechtsquelle/n:
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1
EMRK Art. 6 Abs. 1
GVG § 198 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 und 4, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5
Satz 1 und 2, Abs. 6 Nr. 1
ÜblVfRSchG Art. 23 Satz 1, Art. 24
VwGO § 6 Abs. 1, § 82 Abs. 1 Satz 2, § 87a Abs. 2 und 3, § 103
Abs. 3
Stichworte:
Zulässigkeit der Entschädigungsklage; Bestimmtheit des Klageantrags;
unbezifferter Klageantrag; Größenordnung; Abweichung von der Größenordnung;
Teilabweisung der Klage; Kostenteilung; Kostenquotelung; Wartefrist;
Verzögerungsrüge; Sachurteilsvoraussetzung; teleologische Reduktion;
Entschädigungsanspruch; Entschädigungsanspruch bei überlanger
Verfahrensdauer; Entschädigung; angemessene Entschädigung;
Gerichtsverfahren; rechtskräftiger Abschluss; anderweitige Erledigung;
Verfahrensdauer; angemessene Verfahrensdauer; überlange Verfahrensdauer;
Verzögerung; Einzelfallmaßstab; durchschnittlicher Schwierigkeitsgrad; geringe
finanzielle Bedeutung; Musterprozess; Einzelrichterübertragung;
Prozessverhalten; Verhalten der Verfahrensbeteiligten; säumiges Verhalten der
Verfahrensbeteiligten; Verfahrensführung; Verfahrensgestaltung;
Entscheidungsreife; Gestaltungsspielraum; Gesamtabwägung; Ausgleich;
Kompensation; Anrechnung; Zurechnung; Verantwortungsbereich; Nachteil;
immaterieller Nachteil; Regelbetrag; Pauschalbetrag; Billigkeitsentscheidung.
Leitsatz/-sätze:
1. Der Klageantrag auf Gewährung einer angemessenen Entschädigung für den
erlittenen immateriellen Nachteil genügt dem Bestimmtheitserfordernis des § 82
Abs. 1 Satz 2 VwGO, wenn der Kläger die für die Bemessung der Höhe des
Anspruchs erforderlichen Tatsachen benennt und die Größenordnung der geltend
gemachten Entschädigung (etwa einen Mindestbetrag) angibt.
2. Das Fristerfordernis des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG ist im Wege der
teleologischen Reduktion dahin einzuschränken, dass es keine Anwendung
findet, wenn das als verspätet gerügte Verfahren schon vor Ablauf der
Sechsmonatsfrist abgeschlossen wurde.
Urteil des 5. Senats vom 26. Februar 2015 - BVerwG 5 C 5.14 D
I. OVG Greifswald vom 4. Juni 2013
Az: OVG 2 K 9/12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 5.14 D
OVG 2 K 9/12
Verkündet
am 26. Februar 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Februar 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Fleuß
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Harms
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom
4. Juni 2013 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1 800 € zu zah-
len. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt 1/3 und der Beklagte 2/3 der Kosten des
Verfahrens in beiden Rechtszügen.
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten um eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrens-
dauer.
Im Ausgangsverfahren, dessen Überlänge der Kläger rügt, stand der Anspruch
auf Förderung seiner ganztägigen Betreuung in einer Kindestageseinrichtung
für August und September 2008 im Streit. Die Mutter des Klägers befand sich
nach der Geburt ihres zweiten Kindes am 12. Juli 2008 bis zum 6. September
2008 in Mutterschutz, anschließend in Elternzeit. Mit Rücksicht darauf hatte die
Stadt Neubrandenburg die ursprünglich bewilligte Ganztagsförderung mit Wir-
kung zum 1. August 2008 aufgehoben und dem Kläger für die Monate August
und September 2008 nur noch einen Anspruch auf Teilzeitförderung zuerkannt.
Mit der nach erfolglosem Widerspruchsverfahren am 21. Dezember 2008 beim
Verwaltungsgericht erhobenen Klage verfolgte der Kläger, vertreten durch seine
Eltern, den Anspruch auf Ganztagsförderung weiter. Die Differenz zwischen
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dem Elternbeitrag und der Verpflegungspauschale für die beanspruchte Ganz-
tags- und die bewilligte Teilzeitbetreuung in den streitgegenständlichen Mona-
ten belief sich nach seinen Angaben auf 195,32 €. Das Verwaltungsgericht trug
die Eltern des Klägers als Kläger ein.
Mit Schreiben vom 29. Dezember 2008 fragte der Berichterstatter bei den Betei-
ligten an, ob sie mit einer Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter
sowie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei-
en. Mit am 20. Januar 2009 und 4. Februar 2009 beim Verwaltungsgericht ein-
gegangenen Schriftsätzen erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit dieser
Verfahrensweise. Klagebegründung, Klageerwiderung, Replik, Duplik und
Triplik lagen dem Verwaltungsgericht am 28. April 2009 vor. Von der ihr auf-
grund der Verfügung des Berichterstatters vom 29. April 2009 gegebenen Ge-
legenheit zur Stellungnahme auf die Triplik des Klägers machte die Stadt
Neubrandenburg keinen Gebrauch.
In dem Zeitraum vom 29. April 2009 bis zum 30. August 2011 verfügte der Be-
richterstatter im Abstand von drei bzw. vier Monaten wiederholt die Wiedervor-
lage der Sache.
Mit Schreiben vom 31. August 2011 wies der Berichterstatter die Eltern des
Klägers darauf hin, dass der geltend gemachte Anspruch nicht ihnen, sondern
dem Kläger selbst zustehen, der Rechtsstreit in der Hauptsache vor Klageerhe-
bung erledigt gewesen und das Vorliegen der materiellrechtlichen Anspruchs-
voraussetzungen zu verneinen sein dürfte. Er forderte die Eltern des Klägers
auf, binnen drei Wochen mitzuteilen, ob eine verfahrensbeendende Erklärung
abgegeben werde. Die Stellungnahme der Eltern des Klägers ging am 19. Sep-
tember 2011 beim Verwaltungsgericht ein.
Mit Schreiben vom 29. September 2011 forderte der Berichterstatter den inzwi-
schen anstelle seiner Eltern als Beteiligten erfassten Kläger auf mitzuteilen, ob
an dem im Januar 2009 erklärten Einverständnis mit einer Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung festgehalten werde. Für die Beantwortung der Anfrage
setzte er dem Kläger keine Frist. Aufgrund seiner Verfügung wurde ihm die Akte
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am 21. Oktober 2011 wiedervorgelegt. Das Antwortschreiben des Klägers ging
nach zweimaliger Erinnerung am 9. November 2011 beim Verwaltungsgericht
ein.
Mit Beschluss vom 10. November 2011 wurde der Rechtsstreit zur Entschei-
dung auf den Einzelrichter übertragen. Die mündliche Verhandlung fand am
8. Dezember 2011 statt. Der damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers er-
hob darin eine Verzögerungsrüge. Sodann beendeten die Beteiligten den
Rechtsstreit durch Vergleich.
Mit der am 4. Juni 2012 beim Oberverwaltungsgericht eingegangenen Klage hat
der Kläger die Gewährung einer angemessenen Entschädigung und hilfsweise
die Feststellung begehrt, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Er ist
von einer sachlich nicht gerechtfertigten Verzögerung von mehr als zwei Jahren
ausgegangen. Die Höhe der Entschädigung müsse sich am Regelbetrag orien-
tieren.
Mit Urteil vom 4. Juni 2013 hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewie-
sen. Die Dauer des Verfahrens sei noch als angemessen zu bewerten. Haupt-
grund hierfür sei, dass es lediglich um einen denkbar geringen Betrag gegan-
gen sei. Dass der Kläger bzw. dessen Eltern nach den persönlichen oder wirt-
schaftlichen Verhältnissen auf den Betrag von 195,32 € angewiesen gewesen
seien, sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Mehr als diese finanzielle
Bedeutung habe das Verfahren von Anfang an für die Klägerseite nicht gehabt.
Hinzu komme, dass sich die Verfahrensbeteiligten in der Zeit von Ende April
2009 bis Ende August 2011, als das Gericht die Sache nicht gefördert habe,
ebenfalls vollkommen passiv verhalten hätten. Demgegenüber wiege die zu-
gunsten des Klägers unterstellte grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens
nicht besonders schwer, weil die Beteiligten ihr selbst offenbar keine besondere
Bedeutung beigemessen hätten. Dass das Verfahren, wovon zugunsten des
Klägers auszugehen sei, keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder
rechtlicher Art aufgewiesen habe, rechtfertige keine andere Entscheidung.
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Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 198 GVG. Das Ober-
verwaltungsgericht habe nicht zu seinen Lasten berücksichtigen dürfen, dass er
nicht auf eine Beschleunigung des Verfahrens hingewirkt oder auch nur nach
dem Sachstand gefragt habe, als das Verwaltungsgericht das Verfahren nicht
betrieben bzw. gefördert habe. Soweit das Oberverwaltungsgericht erkennen
lasse, dass bei einem Streit um einen - wie hier - geringen Geldbetrag eher eine
längere, bei einem Streit um einen höheren Geldbetrag eher eine kürzere Ver-
fahrensdauer als angemessen anzusehen sei, finde sich hierfür weder im Bun-
desrecht noch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine
Stütze. Angesichts der von der Stadt Neubrandenburg vertretenen Auffassung,
während des Mutterschutzes sei eine tatsächliche Verhinderung der Mutter
schwerlich anzunehmen, habe das Verfahren für ihn und seine Eltern auch eine
erhebliche emotionale Bedeutung gehabt. Zudem sei es im Sinne eines Mus-
terverfahrens für die Allgemeinheit von Bedeutung gewesen. Unter Berücksich-
tigung aller Umstände ergebe sich eine sachlich nicht gerechtfertigte Verzöge-
rung von zwei Jahren und vier Monaten. Wegen der dargestellten Bedeutung
des Verfahrens für ihn und die Allgemeinheit erscheine eine Wiedergutmachung
anders als in Form einer Entschädigung nicht ausreichend. Die Höhe der Ent-
schädigung dürfte sich an dem Regelbetrag des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG zu
orientieren haben und mit 2 800 € angemessen sein.
Der Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bun-
desrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit das Oberverwaltungsgericht ent-
scheidungstragend angenommen hat, der Kläger müsse sich bei der Beurtei-
lung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu seinem Nachteil anrechnen
lassen, dass er nicht auf eine Beschleunigung des Verfahrens hingewirkt oder
auch nur nach dem Sachstand gefragt habe. Es erweist sich auch nicht im Er-
gebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die mit dem Hauptantrag verfolgte Ent-
schädigungsklage ist zulässig (1.) und im tenorierten Umfang begründet (2.).
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1. Die Entschädigungsklage ist zulässig, obwohl der Kläger die begehrte Ent-
schädigung für die erlittenen immateriellen Nachteile in seinem Antrag nicht
beziffert (a) und die Sechsmonatsfrist des § 198 Abs. 5 Satz 1 des Gerichtsver-
fassungsgesetzes - GVG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai
1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Januar 2015
(BGBl. I S. 10), nicht abgewartet hat (b).
a) Der auf Gewährung einer angemessenen Entschädigung lautende Klagean-
trag ist hinreichend bestimmt.
Das Erfordernis eines bestimmten Klageantrags ist in § 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO
als bloße Sollvorschrift ausgestaltet. Ihm muss aber mit der Antragstellung in
der mündlichen Verhandlung (§ 103 Abs. 3 VwGO) genügt werden. Welche An-
forderungen sich hieraus ergeben, hängt von den Besonderheiten des jeweili-
gen materiellen Rechts und von den Umständen des Einzelfalles ab (BVerwG,
Urteil vom 5. September 2013 - 7 C 21.12 - BVerwGE 147, 312 Rn. 54). Wird
im Verwaltungsprozess unmittelbar auf Leistung eines Geldbetrages geklagt, ist
die Forderung grundsätzlich der Höhe nach im Klageantrag zu beziffern. Ein
unbezifferter Klageantrag ist aber ausnahmsweise zulässig, wenn die Schwie-
rigkeit, den Klageantrag hinreichend genau zu bestimmen, durch außerhalb der
Klägersphäre liegende Umstände verursacht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom
7. September 1989 - 7 C 4.89 - Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 93 S. 60). Das
gilt für die Klage auf Zahlung einer Entschädigung für immaterielle Nachteile
nach den gemäß § 173 Satz 2 VwGO im Verwaltungsprozess entsprechend
anwendbaren Vorschriften des § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 GVG jeden-
falls deshalb, weil sie eine Ermessensausübung des Gerichts nach § 198
Abs. 2 Satz 4 GVG erfordert. Das Gericht hat danach stets von Amts wegen zu
prüfen, ob der Pauschalbetrag gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nach den Um-
ständen des Einzelfalles unbillig und daher ein höherer oder niedrigerer Betrag
festzusetzen ist. Um das Erfordernis eines bestimmten Klageantrags in diesem
Fall zu erfüllen, muss der Kläger die
für die Bemessung der Höhe des An-
spruchs erforderlichen Tatsachen benennen und die Größenordnung der gel-
tend gemachten Entschädigung (etwa einen Mindestbetrag) angeben (vgl.
stRspr zu § 253 Abs. 2 Nr. 2, § 287 ZPO, z.B. BGH, Urteile vom 24. September
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1991 - VI ZR 60/91 - NJW 1992, 311 <312>; vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95 -
BGHZ 132, 341 <350> und vom 10. Oktober 2002 - III ZR 205/01 - NJW 2002,
3769). Das hat der Kläger getan.
Der Klagebegründung war hinreichend deutlich zu entnehmen, dass der Kläger
von einer unangemessenen Verfahrensdauer von mehr als zwei Jahren ausge-
gangen ist und eine sich am Regelbetrag orientierende Entschädigung begehrt
hat. Dieses Vorbringen hat er in der Revisionsbegründung dahingehend konkre-
tisiert, dass eine sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung von zwei Jahren
und vier Monaten angenommen und eine Entschädigung von 2 800 € als an-
gemessen angesehen werde. Damit hat der Kläger die geltend gemachte For-
derung jedenfalls nach unten durch diesen Betrag begrenzt.
b) Die Einhaltung der Wartefrist war nicht erforderlich.
Nach § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG i.V.m. § 173 Satz 2 VwGO kann eine Klage zur
Durchsetzung eines Anspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG frühestens sechs Mo-
nate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Dies gilt gemäß
Art. 23 Satz 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts-
verfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011
- ÜblVfRSchG - (BGBl. I S. 2302) auch für Verfahren, die - wie hier - bei dem
Inkrafttreten des Gesetzes am 3. Dezember 2011 (vgl. Art. 24 ÜblVfRSchG)
bereits anhängig waren. Die Einhaltung dieser Frist ist eine besondere Sachur-
teilsvoraussetzung, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen
ist. Eine vor Fristablauf erhobene Klage wird nach Ablauf der Frist nicht zulässig
(BSG, Urteil vom 3. September 2014 - B 10 ÜG 2/14 R - juris Rn. 19; BGH, Ur-
teil vom 17. Juli 2014 - III ZR 228/13 - NJW 2014, 2588 Rn. 17 m.w.N.). Das
Fristerfordernis des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG ist allerdings im Wege der teleo-
logischen Reduktion dahin einzuschränken, dass es keine Anwendung findet,
wenn das als verspätet gerügte Verfahren schon vor Ablauf der Sechsmonats-
frist abgeschlossen wurde.
Die Befugnis der Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten
unter anderem dann zu, wenn diese nach ihrer grammatikalischen Fassung
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Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers
nicht erfassen soll. In einem solchen Fall ist eine zu weit gefasste Regelung im
Wege der sogenannten teleologischen Reduktion auf den ihr nach Sinn und
Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (BVerwG, Urteil vom
25. März 2014 - 5 C 13.13 - Buchholz 436.36 § 8 BAföG Nr. 14 Rn. 25 m.w.N.).
Diese Voraussetzungen liegen vor.
Die Vorschrift des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG bezieht sich ihrem Wortlaut nach
auf alle Verfahren, in denen eine Verzögerungsrüge erhoben wird, ohne Rück-
sicht darauf, wann das Verfahren im Anschluss daran abgeschlossen wird. Die-
ser zu weit gefasste Wortlaut erfasst auch Fälle, die er nach Sinn und Zweck
der Vorschrift nicht erfassen sollte. Nach der gesetzgeberischen Vorstellung,
die insbesondere in der Gesetzesbegründung ihren Niederschlag gefunden hat
(vgl. BT-Drs. 17/3802 S. 22), soll die Wartefrist der präventiven Funktion der
Verzögerungsrüge Rechnung tragen und dem Gericht die Möglichkeit einräu-
men, auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken und dadurch (weite-
ren) Schaden zu vermeiden. Wird ein Verfahren vor Ablauf der Sechsmonats-
frist beendet, würde ein Abwarten insofern keinen Sinn mehr machen. Deshalb
ist es geboten, die Bestimmung im Wege teleologischer Reduktion dahin einzu-
schränken, dass ihr Anwendungsbereich nicht eröffnet ist, wenn das Verfahren
innerhalb von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge beendet
wird. In diesem Fall ist die Entschädigungsklage ausnahmsweise vom Moment
des Verfahrensabschlusses an zulässig (vgl. BGH, Urteile vom 21. Mai 2014
- III ZR 355/13 - NJW 2014, 2443 Rn. 17 und vom 17. Juli 2014 - III ZR 228/13 -
NJW 2014, 2588 Rn. 18 m.w.N.; Schenke, NVwZ 2012, 257 <261>). So verhält
es sich hier. Das Verfahren ist in der mündlichen Verhandlung des Verwal-
tungsgerichts am 8. Dezember 2011, in der auch die Verzögerungsrüge erho-
ben wurde, durch Vergleich beendet worden.
2. Der Kläger hat einen Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nach-
teils in Höhe von 1 800 €.
Der Anspruch folgt aus § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 GVG. Nach § 198
Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener
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Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erlei-
det. Der durch eine unangemessene Verfahrensdauer eingetretene immaterielle
Nachteil ist nach Maßgabe des § 198 Abs. 2 GVG zu entschädigen. Diese
Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Dauer des vom Kläger in Bezug genom-
menen Gerichtsverfahrens (a) war unangemessen (b). Hierdurch hat er einen
immateriellen Nachteil erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht
werden kann (c) und in Höhe von 1 800 € zu entschädigen ist (d).
a) Gegenstand des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs ist das ver-
waltungsgerichtliche Verfahren im Ausgangsrechtsstreit vom Zeitpunkt der Er-
hebung der Klage am 21. Dezember 2008 bis zu dessen Beendigung durch den
in der mündlichen Verhandlung am 8. Dezember 2011 geschlossenen Ver-
gleich.
Nach der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbs. 1 GVG ist Gerichtsver-
fahren im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG jedes Verfahren von der Einlei-
tung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder
Verfahrenskostenhilfe. Der Begriff "Einleitung" erfasst alle Formen, mit denen
ein Verfahren in Gang gesetzt werden kann, unabhängig davon, ob dies durch
Antrag oder Klageerhebung geschieht oder ein Verfahren von Amts wegen ein-
geleitet wird (vgl. BT-Drs. 17/3802 S. 22). Mit rechtskräftigem Abschluss ist
zum einen die formelle Rechtskraft einer Entscheidung gemeint (BVerwG,
Urteile vom 11. Juli 2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 Rn. 19 und - 5 C
27.12 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 2 Rn. 11). Zum anderen wird hiervon
auch die anderweitige Erledigung des Verfahrens insbesondere durch Antrags-
oder Klagerücknahme, Einstellung, Vergleich oder Erledigungserklärung erfasst
(vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts-
verfahren, 2013, A. § 198 GVG Rn. 54). Für Letzteres spricht insbesondere der
systematische Rückschluss aus § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG. Diese Vorschrift
stellt für den Beginn der Ausschlussfrist die Beendigung des Verfahrens durch
rechtskräftige Entscheidung und die Beendigung des Verfahrens durch eine
andere Erledigung gleichberechtigt nebeneinander.
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In Anwendung dieses Maßstabes erfasst der materielle Bezugsrahmen des von
dem Kläger geltend gemachten Entschädigungsanspruchs die Gesamtdauer
des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht.
b) Die Dauer des Gerichtsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht war bei der
gebotenen Gesamtabwägung im Umfang von einem Jahr und sechs Monaten
unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
Die Verfahrensdauer ist unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2
GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände
des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen
Normen (Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten - EMRK - in der Fassung vom 22. Oktober 2010
S. 1198>, Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende
Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Ab-
schluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzöge-
rungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Be-
rücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestal-
tungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (BVerwG, Urteil vom 27. Februar
2014 - 5 C 1.13 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 Rn. 18 m.w.N.).
In Übereinstimmung mit dem darlegten rechtlichen Maßstab hat sich das Ober-
verwaltungsgericht bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrens-
dauer zwar zu Recht nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientie-
rungs- bzw. Anhaltswerten leiten lassen, sondern eine Einzelfallprüfung vorge-
nommen (vgl. BVerwG, Urteile vom 11. Juli 2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147,
146 Rn. 28 ff. und - 5 C 27.12 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 2 Rn. 20 ff.; s.a.
BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August 2013 - 1 BvR 1067/12 - NJW 2013,
3630 <3631 f.>). Auch hat es zutreffend angenommen, das Verfahren habe
keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufgewie-
sen (aa) und nur eine geringe finanzielle Bedeutung für den Kläger gehabt (bb).
Eine grundsätzliche Bedeutung kann dem Verfahren aufgrund der festgestellten
Tatsachen daneben nicht zugesprochen werden (cc). Das angefochtene Urteil
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beruht aber insoweit auf einer Verletzung von Bundesrecht, als das Oberver-
waltungsgericht dem Kläger angelastet hat, seinerseits nicht auf eine Beschleu-
nigung hingearbeitet zu haben, als das Verwaltungsgericht das Verfahren nicht
betrieben bzw. gefördert habe (dd). In die einzelfallbezogene Angemessen-
heitsprüfung ist hingegen einzustellen, dass der Kläger durch sein prozessuales
Verhalten eine Verzögerung bewirkte (ee) und es durch die Verfahrensführung
des Verwaltungsgerichts unter Berücksichtigung des ihm insoweit eingeräumten
Gestaltungsspielraums zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Verzögerung von
einem Jahr und sieben Monaten kam (ff). Bei der gebotenen Gesamtabwägung
aller Umstände ergibt sich eine unangemessene Verfahrensdauer von einem
Jahr und sechs Monaten (gg).
aa) Die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, das Verfahren sei nicht tat-
sächlich oder rechtlich besonders schwierig gewesen, ist unter Berücksichti-
gung seiner hierzu getroffenen Feststellungen nicht zu beanstanden. Sie wird
auch vom Kläger nicht angegriffen.
Aus den festgestellten Tatsachen ist wertend zu folgern, dass der Sachverhalt
überschaubar, einfach gelagert und zwischen den Verfahrensbeteiligten unstrei-
tig war. Die entscheidungserhebliche Frage, ob dem Kläger gemäß § 4 Abs. 3
i.V.m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung von Kindern in Kindertagesein-
richtungen und in Kindertagespflege (Kindertagesförderungsgesetz - KiföG
M-V) vom 1. April 2004 (GVOBl. M-V S. 146) nach der Geburt seiner Schwester
für die Zeit des gesetzlichen Mutterschutzes nur noch ein Anspruch auf Förde-
rung einer Teilzeitbetreuung oder weiterhin ein Anspruch auf Förderung einer
ganztätigen Betreuung in einer Kindertagesstätte zustand, war für sich genom-
men nicht besonders komplex. Entsprechendes galt für die damit verbundene
Frage, wer Inhaber des Anspruchs ist. Auch die Frage, ob der Rechtsstreit be-
reits vor Klageerhebung erledigt gewesen ist, war als Standardproblem eines
verwaltungsgerichtlichen Verfahrens anzusehen. Dafür, dass es sich bei dem
Ausgangsverfahren vor dem Verwaltungsgericht um einen in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht allenfalls durchschnittlich schwierigen Fall gehandelt hat,
spricht zudem, dass die Kammer des Verwaltungsgerichts den Rechtsstreit auf
den Einzelrichter übertragen hat (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
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bb) Das Oberverwaltungsgericht ist auf der Grundlage der festgestellten Tatsa-
chen rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, das Verfahren habe für den Kläger
nur eine finanzielle Bedeutung gehabt, die mit 195,32 € als äußerst gering zu
bewerten sei.
Für die Bewertung der finanziellen Bedeutung als gering hat sich das Oberver-
waltungsgericht nicht allein auf die Höhe des streitgegenständlichen Betrages
gestützt. Vielmehr hat es seine Einschätzung vor allem auch damit begründet,
der Kläger habe weder vorgetragen noch sei ersichtlich, dass er bzw. dessen
Eltern nach den persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen auf den streit-
gegenständlichen Betrag angewiesen gewesen seien. Die geringe finanzielle
Bedeutung hat es somit in Übereinstimmung mit dem aufgezeigten bundes-
rechtlichen Maßstab an die Umstände des konkreten Falles geknüpft. Mit Rück-
sicht darauf geht der Einwand des Klägers ins Leere, das Oberverwaltungsge-
richt habe sich bei der Beurteilung der Bedeutung des Verfahrens von einem
festen abstrakten Rechtssatz des Inhalts leiten lassen, bei einem Streit um ei-
nen geringen Geldbetrag sei eher eine längere, bei einem Streit um einen höhe-
ren Geldbetrag eher eine kürzere Verfahrensdauer als angemessen anzuse-
hen, wofür sich weder im Bundesrecht noch in der Rechtsprechung des Euro-
päischen Gerichtshofs eine Stütze finde.
Soweit der Kläger im entschädigungsrechtlichen Revisionsverfahren geltend
macht, das Verfahren habe für ihn und seine Eltern angesichts der von der
Stadt Neubrandenburg vertretenen Auffassung, während des Mutterschutzes
sei eine tatsächliche Verhinderung der Mutter schwerlich anzunehmen, (auch)
eine erhebliche emotionale Bedeutung gehabt, findet dies in den Feststellungen
des Oberverwaltungsgerichts, gegen die Verfahrensrügen nicht erhoben wur-
den, keine Stütze.
cc) Die vom Oberverwaltungsgericht lediglich unterstellte grundsätzliche Bedeu-
tung ist zu verneinen. Nach den insoweit getroffenen Feststellungen fehlt eine
hinreichende tatsächliche Grundlage für die Annahme, dass das Verfahren als
Musterprozess grundsätzlich bedeutsam war.
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Entgegen der Revisionsbegründung des Klägers hat das Oberverwaltungsge-
richt nicht festgestellt, dass die Stadt Neubrandenburg - wie vom Kläger be-
hauptet - in einer größeren Zahl von Fällen eine zuvor bewilligte Ganztagsbe-
treuung für die Zeit des Mutterschutzes in eine Teilzeitbetreuung geändert hät-
te, sodass sich die Entscheidung auf eine größere Zahl von Verfahren oder die
Verwaltungspraxis auswirken könnte. Eine Verfahrensrüge hat der Kläger inso-
weit nicht erhoben. Als Indiz für die fehlende grundsätzliche Bedeutung ist viel-
mehr der Umstand zu werten, dass das Verwaltungsgericht diese Behauptung
nicht zum Anlass genommen hat, um von der Übertragung des Rechtsstreits
auf den Einzelrichter nach § 6 Abs. 1 VwGO abzusehen. Denn diese soll - im
Unterschied zu der auf dem Einverständnis der Beteiligten gründenden Über-
tragung auf den sogenannten konsentierten Einzelrichter nach § 87a Abs. 2,
Abs. 3 VwGO (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2008 - 5 C 30.07 -
BVerwGE 132, 10 Rn. 10 m.w.N.) - bei grundsätzlicher Bedeutung der Sache
gerade nicht erfolgen.
dd) Das Oberverwaltungsgericht hat das in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausdrück-
lich genannte Kriterium des "Verhaltens der Verfahrensbeteiligten" nicht richtig
erfasst, soweit es angenommen hat, es gereiche dem Kläger zum Nachteil,
nicht auf eine Beschleunigung hingewirkt oder zumindest nach dem Sachstand
gefragt zu haben, als das Verwaltungsgericht das Verfahren nicht betrieben
bzw. gefördert habe.
In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass die Verfahrensbeteilig-
ten - abgesehen von der Obliegenheit zur Erhebung der Verzögerungsrüge -
grundsätzlich nicht verpflichtet sind, aktiv (durch Aufforderungen) darauf hinzu-
arbeiten, dass das Gericht das Verfahren in angemessener Zeit zu einem Ab-
schluss bringt. Mangels einer derartigen Pflicht kann ihnen eine diesbezügliche
Passivität bei der im Rahmen der Ermittlung der angemessenen Dauer eines
Gerichtsverfahrens erforderlichen Prüfung, ob die Verfahrensbeteiligten durch
ihr Verhalten eine Verzögerung des Rechtsstreits bewirkt haben, nicht angelas-
tet werden. Die Verpflichtung des Gerichts, das Verfahren in angemessener
Zeit zum Abschluss zu bringen, ergibt sich unmittelbar aus der dem Staat oblie-
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genden Justizgewährleistungspflicht, aus dem Gebot des effektiven Rechts-
schutzes und aus Art. 6 Abs. 1 EMRK (BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 - 5 C
27.12 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 2 Rn. 41). Von diesen Rechtssätzen
weicht das angefochtene Urteil ab, soweit das Oberverwaltungsgericht seine
Bewertung der Verfahrensdauer als noch angemessen entscheidungstragend
darauf stützt, der Kläger habe sich in der Zeit, als das Gericht die Sache nicht
gefördert habe, ebenfalls vollkommen passiv verhalten.
ee) Im Hinblick auf das prozessuale Verhalten des Klägers ist allerdings ergän-
zend zu berücksichtigten, dass dieser durch sein Verhalten das Verfahren um
etwa neunzehn Tage verzögert hat.
Aus dem festgestellten Verfahrensablauf ist wertend zu folgern, dass dem Klä-
ger in diesem Umfang die verspätete Beantwortung der gerichtlichen Anfrage
vom 29. September 2011 zuzurechnen ist. Zwar ist ihm für die erbetene Mittei-
lung, ob der im Januar 2009 erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung wei-
terhin Bestand habe, keine ausdrückliche Frist gesetzt worden. Entsprechend
der von dem Berichterstatter verfügten Wiedervorlage durfte das Verwaltungs-
gericht davon ausgehen, dass der Kläger die Anfrage spätestens bis zum
21. Oktober 2011 beantwortet. Seine Antwort ist jedoch erst nach zweimaliger
Erinnerung am 9. November 2011 und damit 19 Tage später als erwartet beim
Verwaltungsgericht eingegangen.
ff) Aus den zur Verfahrensführung getroffenen Feststellungen des Oberverwal-
tungsgerichts ist zu schließen, dass das Verwaltungsgericht unter Berücksichti-
gung des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums das Verfahren
vom Beginn des Monats Februar 2010 bis zum Ende des Monats August 2011,
also für ein Jahr und sieben Monate, ohne sachlichen Rechtfertigungsgrund
nicht gefördert hat.
Im Hinblick auf den Verfahrensgang hat das Oberverwaltungsgericht neben der
Chronologie des Verfahrens festgestellt, dass das Verwaltungsgericht in der
Zeit von Ende April 2009 bis Ende August 2011, also für zwei Jahre und vier
Monate, keine Handlungen vorgenommen hat, um die Erledigung des Verfah-
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rens zu fördern. Der festgestellten Chronologie ist bei wertender Betrachtung zu
entnehmen, dass der Rechtsstreit mit der am 28. April 2009 eingegangenen
Triplik des Klägers entscheidungsreif war. Der Sachverhalt war zu diesem Zeit-
punkt in tatsächlicher Hinsicht ausreichend aufgearbeitet. Den Beteiligten war
zu allen bis dahin vom Verwaltungsgericht für relevant gehaltenen Fragen in
hinreichender Weise rechtliches Gehör gewährt worden. Dafür, dass auch das
Verwaltungsgericht die Sache Ende April 2009 für "ausgeschrieben" hielt,
spricht, dass es die Triplik des Klägers dem Beklagten lediglich mit der Gele-
genheit zur Stellungnahme zuleitete.
Im vorliegenden Einzelfall erscheint es angemessen, dem Verwaltungsgericht
für das konkrete erstinstanzliche Verfahren ab Entscheidungsreife einen (Ge-
staltungs-)Zeitraum von neun Monaten für seine Entscheidung zuzugestehen,
wann und wie es das Verfahren im Sinne eines Hinwirkens auf eine Erledigung
des Prozesses fördert.
Der zugestandene Zeitraum trägt dem Umstand Rechnung, dass - auch vor
dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängig-
keit (Art. 97 Abs. 1 GG) - die Verfahrensgestaltung in erster Linie dem mit der
Sache befassten Gericht obliegt und ihm hinsichtlich der Entscheidung, wann
und wie es eine bestimmte Sache in Abstimmung mit anderen bei ihm anhängi-
gen Sachen terminiert oder sonst fördert, ein Spielraum zusteht. Er berücksich-
tigt weiter, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder
Entscheidung zur Sache Zeit zur rechtlichen Durchdringung benötigt, um dem
rechtsstaatlichen Anliegen zu genügen, eine grundsätzlich umfassende tatsäch-
liche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes vorzunehmen. Der ab Ein-
tritt der Entscheidungsreife zugestandene Zeitraum ist im Einzelfall in Relation
zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maß-
geblich ist insoweit - genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus
ihrer Ex-ante-Sicht einschätzen durften. Hingegen ist eine Überlastung der
Verwaltungsgerichtsbarkeit oder des konkreten Ausgangsgerichts bzw. Spruch-
körpers für die Bemessung des richterlichen Gestaltungsspielraums ohne Be-
lang. Sie gehört zu den strukturellen Mängeln, die sich der Staat zurechnen las-
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sen muss und die er zu beseitigen hat (BVerwG, Urteil vom 27. Februar
2014 - 5 C 1.13 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 Rn. 28 m.w.N.).
Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt
markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Ent-
scheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechts-
position des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr
vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwä-
gung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr ge-
rechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeit-
punkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer "optimalen Verfah-
rensführung" des Gerichts auszugehen ist. Entschädigungsrechtlich relevant
sind nur die nach Ablauf des Gestaltungszeitraums auf die Verfahrensführung
des Gerichts zurückzuführenden Verzögerungen. Denn zur Begründung des
Entschädigungsanspruchs reicht nicht jede Abweichung von der optimalen Ver-
fahrensführung aus. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198
Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfah-
rens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtli-
chen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine ge-
wisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, Urteile vom 11. Juli 2013
- 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 Rn. 39 und - 5 C 27.12 D - Buchholz 300
§ 198 GVG Nr. 2 Rn. 31 m.w.N.).
In Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe ist bei der Bemessung des gericht-
lichen Gestaltungsspielraums zu berücksichtigen, dass das Ausgangsverfahren
allenfalls einen durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad aufwies, seine Bedeutung
für den Kläger rein finanzieller Natur und diese als äußerst gering zu bewerten
war sowie ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse an dem Rechts-
streit nicht festgestellt werden konnte. Angesichts dessen war die fehlende Be-
arbeitung bzw. Förderung des Verfahrens durch das Verwaltungsgericht für den
Kläger ab Anfang Februar 2010 nicht mehr hinnehmbar. Das ergibt einen ge-
richtlichen Gestaltungszeitraum ab Entscheidungsreife von neun Monaten.
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gg) Die Dauer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht war bei der gebote-
nen Gesamtabwägung im Umfang von einem Jahr und sechs Monaten unan-
gemessen.
In die Gesamtabwägung sind alle festgestellten Umstände des Einzelfalles ein-
zustellen und zu gewichten. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, ob und
gegebenenfalls in welchem Umfang die Verzögerung in einem Stadium des
Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten innerhalb einer anderen
Phase des Verfahrens ausgeglichen wurde (vgl. BVerwG, Urteile vom 11. Juli
2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 Rn. 17 und 44 m.w.N. und vom
27. Februar 2014 - 5 C 1.13 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 Rn. 30). Des
Weiteren hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem
Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder
in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch ge-
nommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen
ist.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die auf die Verfahrensführung des
Verwaltungsgerichts zurückzuführende sachlich nicht gerechtfertigte Verzöge-
rung von einem Jahr und sieben Monaten mit Blick auf das säumige Verhalten
des Klägers bei der Beantwortung der gerichtlichen Anfrage vom 29. Septem-
ber 2011 um aufgerundet einen Monat zu reduzieren. Im Ergebnis ist somit auf
eine unangemessene Verfahrensdauer von einem Jahr und sechs Monaten zu
erkennen.
c) Der Kläger hat durch die überlange Verfahrensdauer einen immateriellen
Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten, der nicht auf andere
Weise wiedergutgemacht werden kann.
Dass der Kläger Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich
aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immateriel-
ler Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren - wie hier - unangemessen
lange gedauert hat. Diese Vermutung ist hier nicht widerlegt.
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Entschädigung kann gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG nur beansprucht werden,
soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf an-
dere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Eine Wiedergutmachung
auf andere Weise ist gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich
durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer
unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend im Sinne des
§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassen-
den Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (BVerwG, Urteil vom
27. Februar 2014 - 5 C 1.13 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 Rn. 34 m.w.N.).
Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der
Verzögerung des vom Schwierigkeitsgrad allenfalls durchschnittlich gelagerten
Falles nicht ausreichend. Der Umstand, dass das Verfahren für den Kläger kei-
ne besondere Bedeutung im entschädigungsrechtlichen Sinne besaß, vermag
das Gewicht des durch die Verzögerung von einem Jahr und sechs Monaten
bedingten immateriellen Nachteils nicht entscheidend zu mindern.
Der Beklagte kann sich zur Begründung seiner gegenteiligen Ansicht nicht mit
Erfolg darauf berufen, die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer
sei zur Wiedergutmachung ausreichend, weil die Höhe der gesetzlichen Ent-
schädigung den Streitwert des Ausgangsverfahrens um ein Vielfaches über-
steige. Damit werden die anspruchsbegründenden Voraussetzungen, zu denen
auch die Feststellung gehört, dass nach den Einzelfallumständen eine Wieder-
gutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist, in unzulässiger Weise mit
der Höhe des Entschädigungsanspruchs vermischt.
d) Der Entschädigungsbetrag beträgt 1 800 €.
Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2
Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von
1 200 € für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter
einem Jahr lässt diese Regelung eine zeitanteilige Berechnung zu (BSG, Urteil
vom 21. Februar 2013 - B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 Rn. 50 m.w.N.; vgl.
auch BT-Drs. 17/3802 S. 20). Nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht
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einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag von 1 200 €
nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Eine derartige Billigkeitsent-
scheidung ist - entgegen der Ansicht des Beklagten - hier nicht deshalb veran-
lasst, weil der Gesamtbetrag der Entschädigung um ein Vielfaches höher liegt
als der Streitwert des Ausgangsverfahrens.
Damit werden Dinge miteinander verglichen, die nicht vergleichbar sind. Die
Entschädigung betrifft den Ausgleich für die durch die Verfahrensverzögerung
erlittenen immateriellen Nachteile wie beispielsweise psychische Belastungen,
körperliche Beeinträchtigungen oder Rufschädigungen (vgl. BT-Drs. 17/3802
S. 19), während der Streitwert des Ausgangsverfahrens nach Maßgabe des
§ 52 Abs. 1 GKG angibt, welche (wirtschaftliche) Bedeutung dieses Verfahren
für den Kläger hatte.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Bei einer we-
sentlichen Abweichung von der angegebenen Größenordnung (hier: 35,71 v.H.)
ist eine teilweise Abweisung der Klage und eine dem Verhältnis des Obsiegens
und Unterliegens entsprechende Kostenteilung erforderlich (vgl. BGH, Urteile
vom 1. Februar 1966 - VI ZR 193/64 - BGHZ 45, 91 <93> und vom 18. Februar
1977 - I ZR 112/75 - GRUR 1977, 539 <542>). Hiernach waren die Kosten im
Verhältnis des zuerkannten Betrages zu der vom Kläger angegebenen Größen-
ordnung der geltend gemachten Entschädigung zwischen den Beteiligten zu
verteilen.
Vormeier
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Fleuß
Dr. Harms
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