Urteil des BVerwG vom 20.03.2012

Geldstrafe, Überschreitung, Besondere Härte, Anwendungsbereich

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 5.11
OVG 19 A 644/10
Verkündet
am 20. März 2012
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler
und Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 14. März 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger begehrt die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
Der 1977 in Bagdad geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste
im Dezember 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Das Bundes-
amt stellte auf diesen Antrag im Februar 2001 Abschiebungshindernisse fest.
Der Kläger erhielt fortan Aufenthaltstitel, zuletzt im Dezember 2007 eine Nieder-
lassungserlaubnis.
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Das Amtsgericht verurteilte den Kläger Anfang 2004 wegen gefährlicher Kör-
perverletzung zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen.
Im Dezember 2007 beantragte der Kläger seine Einbürgerung. Auf dem Form-
blatt der Beklagten füllte er die Rubrik für Strafverurteilungen nicht aus, sondern
kreuzte das Feld „keine Straftaten“ an. Ferner gab er an, seit September 2006
als freier Journalist bei der D. tätig zu sein, wobei sein journalistischer Arbeits-
bereich den Nahen Osten betreffe. Er habe eine repräsentative Funktion für das
Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland.
Mit Bescheid vom 16. Juni 2008 lehnte die Beklagte den Einbürgerungsantrag
des Klägers ab, weil seine Strafverurteilung die Unbedenklichkeitsgrenze von
90 Tagessätzen mehr als geringfügig übersteige.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Einbürgerung mit Urteil vom 10. Feb-
ruar 2010 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungs-
gericht mit Urteil vom 14. März 2011 die Entscheidung der Vorinstanz geändert
und die Beklagte unter Aufhebung ihres Ablehnungsbescheides verpflichtet,
den Einbürgerungsantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts neu zu bescheiden. Der Kläger habe weder einen Einbürgerungs-
anspruch aus § 10 Abs. 1 StAG noch aus § 8 Abs. 1 StAG, weil er die Voraus-
setzung der Straffreiheit nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG nicht erfülle und
die Bagatellgrenze des § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG (Geldstrafe bis zu 90
Tagessätzen) nicht einhalte. Er habe jedoch einen Anspruch auf Neubeschei-
dung seines Einbürgerungsantrags aus § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG, da die gegen
ihn verhängte Geldstrafe von 120 Tagessätzen den Rahmen von 90 Tagessät-
zen nur geringfügig übersteige. Das Tatbestandsmerkmal „geringfügig“ im Sin-
ne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG sei so auszulegen, dass es bei einer Über-
schreitung der Bagatellgrenze um nicht mehr als 30 Tagessätze Geldstrafe
oder einen Monat Freiheitsstrafe noch erfüllt sei. Andernfalls werde der Vor-
schrift kein ausreichendes praktisches Anwendungsspektrum insbesondere bei
Freiheitsstrafen belassen. Denn eine oberhalb der Bagatellgrenze von
drei Monaten liegende Verurteilung zu einer Einzelfreiheitsstrafe betrage in der
Praxis fast immer mindestens vier Monate, weil die Strafgerichte nahezu aus-
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schließlich nach Monaten bemessene Einzelstrafen verhängten. Wenn dem-
nach eine Überschreitung um einen Monat Freiheitsstrafe geringfügig sei, müs-
se dies auch für eine Überschreitung um 30 Tagessätze gelten. Denn die Ge-
ringfügigkeitsgrenze müsse für Geld- und Freiheitsstrafen einheitlich festgelegt
werden.
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision eine Verletzung des § 12a Abs. 1 Satz 3
StAG. Bereits der Wortsinn des Merkmals „geringfügig“ schließe es aus, dieses
im Fall des Überschreitens der Bagatellgrenze um ein Drittel - wie hier - als er-
füllt anzusehen. Was unter dem unbestimmten Rechtsbegriff geringfügig zu ver-
stehen sei, sei nach dem Willen des Gesetzgebers der Präzisierung in einer
Verwaltungsvorschrift, nämlich den Vorläufigen Anwendungshinweisen des
Bundesministeriums des Innern, zu entnehmen. Deshalb sei eine Überschrei-
tung nur geringfügig, wenn die Strafe oder die Summe der Strafen die Bagatell-
grenze um nicht mehr als 21 Tagessätze Geldstrafe bzw. drei Wochen Frei-
heitsstrafe übersteige.
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteres-
ses beim Bundesverwaltungsgericht schließt sich der Rechtsansicht der Be-
klagten an.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts steht mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht in
Einklang. Weil der Senat mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht
abschließend entscheiden kann, ist die Sache an das Berufungsgericht zurück-
zuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend ausgeführt, dass dem Kläger kein
Anspruch auf Einbürgerung aus § 10 Abs. 1 StAG zusteht, weil er die Einbürge-
rungsvoraussetzung der Straffreiheit nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG nicht
erfüllt und seine Verurteilung zu 120 Tagessätzen Geldstrafe nicht nach § 12a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG unbeachtlich ist. Es hat jedoch zu Unrecht angenom-
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men, dass der Kläger einen Anspruch auf Neubescheidung seines Einbürge-
rungsantrags nach § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG besitzt, weil die Überschreitung
des Rahmens um 30 Tagessätze noch geringfügig im Sinne dieser Vorschrift
sei (1.). Ob dem Kläger ein Anspruch auf eine Ermessensentscheidung der Be-
klagten nach § 8 Abs. 2 StAG zusteht, kann auf der Grundlage der vom Beru-
fungsgericht festgestellten Tatsachen nicht abschließend beurteilt werden, so
dass die Sache der Zurückverweisung bedarf (2.).
1. Die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung der Beklagten nach
§ 12a Abs. 1 Satz 3 StAG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist im Einzel-
fall zu entscheiden, ob eine Verurteilung außer Betracht bleiben kann, wenn die
Strafe oder die Summe der Strafen geringfügig den Rahmen nach den Sätzen 1
und 2 übersteigt. Diese Tatbestandsvoraussetzung ist entgegen der Ansicht
des Oberverwaltungsgerichts hier nicht erfüllt.
a) Bei dem Merkmal geringfügig handelt es sich um einen unbestimmten
Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. So-
weit sich die Verwaltungspraxis - auch der Beklagten - auf die Vorläufigen An-
wendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörig-
keitsgesetz (in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörig-
keitsgesetzes vom 5. Februar 2009 Stand: 17. April 2009 -
VAH-StAG -) stützt, nach deren Ziffer 12a.1.3 eine geringfügige Überschreitung
vorliegt, wenn die Strafe oder die Summe der Strafen die Bagatellgrenze um
nicht mehr als 21 Tagessätze bzw. drei Wochen Freiheitsstrafe übersteigt, ist
dies für die Gerichte nicht bindend. Daran vermag auch der Hinweis in der Be-
gründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 23. April 2007
(BTDrucks 16/5065 S. 230) zur neu gefassten Regelung des § 12a Abs. 1
Satz 3 StAG, dass der unbestimmte Rechtsbegriff geringfügig durch Verwal-
tungsvorschriften präzisiert werde, nichts zu ändern. Zwar ist damit nicht aus-
geschlossen, dass die in Ziffer 12a.1.3 VAH-StAG genannte Zahl von 21 Ta-
gessätzen (bzw. 3 Wochen Freiheitsstrafe) eine gesetzeskonforme Bestimmung
dieses Rechtsbegriffs enthält. Ob dies zutrifft, bedarf jedoch keiner Entschei-
dung, weil jedenfalls die hier in Rede stehende Überschreitung des gesetzli-
chen Rahmens bei Geldstrafen um 30 Tagessätze nicht mehr geringfügig ist.
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b) Eine Strafverurteilung, welche die gesetzliche Unbeachtlichkeitsgrenze von
Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen oder Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten
(§ 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StAG) um ein Drittel überschreitet, übersteigt
diese nicht „geringfügig“ im Sinne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG. Das ergibt
sich aus einer Gesamtschau von Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte
sowie Sinn und Zweck dieser Gesetzesbestimmung.
aa) Bereits der Wortlaut des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG weist deutlich in die
Richtung, dass eine Verurteilung zu 120 Tagessätzen nicht vernachlässigt wer-
den darf. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort geringfügig in seinem
Bedeutungsgehalt mit den Worten unbedeutend, unwesentlich, nicht ins Ge-
wicht fallend und belanglos umschrieben; dementsprechend wird das Substan-
tiv Geringfügigkeit mit Unbedeutendheit, Belanglosigkeit, Kleinigkeit und unwe-
sentliche Sache gleichgesetzt (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl.
2006, S. 676; Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 9. Aufl. 2011, S. 603.). Daran
gemessen spricht ganz Überwiegendes dagegen, dass die Überschreitung ei-
nes vorgegebenen Rahmens um ein Drittel noch als geringfügig angesehen
werden kann. 30 Tagessätze Geldstrafe (mehr) erweisen sich im Verhältnis zu
dem Bezugsrahmen von 90 Tagessätzen nicht als eine Kleinigkeit, als unbe-
deutend oder als unwesentlich.
Diese Bewertung entspricht der Bedeutung, die dem Begriff „geringfügig“ in
Vorschriften beigemessen wird, in denen das Wort - wie in § 12a Abs. 1 Satz 3
StAG - auf eine quantitativ bestimmte oder bestimmbare Größe bezogen ist. So
wird etwa für die Frage, ob eine Zuvielforderung kostenrechtlich noch verhält-
nismäßig „geringfügig“ im Sinne von § 92 Abs. 2 ZPO ist, allgemein davon aus-
gegangen, dass die Grenze der Geringfügigkeit bei 10 % der Bezugsgröße ver-
läuft (s. Hüßtege, in: Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl. 2011, § 92 Rn. 8;
Schneider, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 3. Aufl. 2011, § 92 Rn. 8; vgl. auch
Bayerischer VerfGH, Entscheidung vom 20. November 2000 - Vf. 14-VI-00 -
juris Rn. 6, 14 m.w.N.; vgl. ferner die weiteren Nachweise und Beispiele im Ur-
teil des erstinstanzlich entscheidenden VG Köln vom 10. Februar 2010 - 10 K
4788/08 - juris Rn. 32 f.).
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Die klare Tendenz der Wortlautauslegung, dass eine Überschreitung um ein
Drittel nicht mehr geringfügig ist, wird durch die Anwendung weiterer Ausle-
gungskriterien bestätigt.
bb) Dies gilt zunächst für die Auslegung am Maßstab der Gesetzessystematik.
§ 12a Abs. 1 Satz 3 StAG steht in einem engen Kontext mit § 12a Abs. 1 Satz 1
und 2 StAG sowie mit § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG. Die zuletzt genannte Vor-
schrift statuiert den Grundsatz, dass Ausländer, die wegen einer rechtswidrigen
Tat zu einer Strafe verurteilt worden sind, keinen Anspruch auf Einbürgerung
haben. Eine Ausnahme macht das Gesetz in § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3
StAG, indem es die sog. Bagatellgrenzen konkretisiert und anordnet, dass Ver-
urteilungen von bis zu 90 Tagessätzen Geldstrafe oder 3 Monaten Freiheitsstra-
fe bei der Einbürgerung außer Acht bleiben. Werden diese Grenzen nicht ein-
gehalten, so lässt § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG eine weitere Ausnahme zu, indem
die Vorschrift noch eine Einzelfallprüfung ermöglicht; dies jedoch nur unter der
einschränkenden Voraussetzung, dass die Überschreitung des Rahmens ge-
ringfügig ist. Diese systematische Stellung des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG als
(weitere) Ausnahme spricht dagegen, den Bedeutungsgehalt des Wortes ge-
ringfügig entgegen dem Befund der grammatikalischen Auslegung weit zu fas-
sen.
Die Gesetzessystematik streitet ferner dagegen, das Merkmal der Geringfügig-
keit einer auf den Einzelfall bezogenen wertenden Betrachtung zu unterziehen
(vgl. aber Berlit, in: GK-StAR, Stand: November 2010, § 12a Rn. 42;
Hailbronner, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht,
5. Aufl. 2010, § 12a StAG Rn. 9). Zum einen liefe dies darauf hinaus, bereits bei
der Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Geringfügigkeit eine Interessenab-
wägung vorzunehmen, wie sie erst für die Ermessensentscheidung geboten ist.
Hierdurch würde die oben beschriebene Normstruktur des § 12a Abs. 1 Satz 3
StAG durchbrochen. Zum anderen bezieht sich die Vorschrift mit ihrer Verwei-
sung auf den Rahmen der Sätze 1 und 2 gerade auf die dort vorgegebenen
Quantitäten (nämlich die in § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StAG genannten
90 Tagessätze Geldstrafe bzw. 3 Monate Freiheitsstrafe). Diese Bezugnahme
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spricht dafür, auch den Begriff geringfügig in quantitativer Weise zu bestimmen.
Der bei einer solchen Betrachtungsweise nahe liegende Schluss, dass jeden-
falls eine Überschreitung der Bezugsgröße um ein Drittel nicht mehr geringfügig
ist, trägt überdies auch dem im Staatsangehörigkeitsrecht bedeutsamen Be-
dürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rechnung (vgl. dazu Urteil
vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 28.10 - DVBl 2012, 106 Rn. 20).
cc) Die Gesetzgebungsgeschichte bestätigt diese Auslegung. § 12a StAG hat
seine hier anwendbare und seit dem 28. August 2007 geltende Fassung durch
das Änderungsgesetz vom 19. August 2007 erhalten (Art. 5 Nr. 10 des EU-
Richtlinienumsetzungsgesetzes - BGBl I S. 1970). Mit diesem Gesetz ist die
Regelung in dreifacher Hinsicht verschärft worden. Zunächst sind die Grenz-
werte für Bagatellstraftaten in § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 StAG deutlich
herabgesetzt worden. Nach der bis August 2007 geltenden Fassung des Ge-
setzes blieben noch Verurteilungen zu Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen und
zu Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten außer Betracht. Des Weiteren ist eine
Verschärfung gegenüber der alten Rechtslage herbeigeführt worden, indem der
Gesetzgeber im neu gefassten § 12a Abs. 1 Satz 2 StAG die Zusammenrech-
nung von Bagatellstraftaten vorgesehen hat, und zwar auch dann, wenn das
Strafgericht keine Gesamtstrafe gebildet hat. Eine dritte und hier ebenfalls be-
deutsame Verschärfung ist im Hinblick auf das Nichtberücksichtigungsermes-
sen bei Verurteilungen zu einer höheren als der in Bezug genommenen Strafe
eingetreten. Während nach der früheren Regelung (§ 12a Abs. 1 Satz 2 StAG
a.F.) bei allen Überschreitungen eine Ermessensentscheidung zu treffen war,
ob die Straftat im Einzelfall außer Betracht bleiben konnte, ordnet der Gesetz-
geber nach dem nunmehr geltenden § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG nur noch dann
eine Ermessensentscheidung über das Absehen von einer Verurteilung an,
wenn die Strafe oder die Summe der Strafen den genannten Rahmen geringfü-
gig überschreitet. Diese vom Gesetzgeber bewusst angestrebten Verschärfun-
gen würden in ihrer Wirkung umso stärker relativiert werden, je weiter das
Merkmal geringfügig ausgelegt wird. Deshalb gebietet es die in der Verschär-
fung zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Intention, die Anzahl der Fäl-
le, in denen trotz Überschreitung der Unbeachtlichkeitsgrenze noch eine Er-
messensentscheidung über die Nichtberücksichtigung der Verurteilung nach
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§ 12a Abs. 1 Satz 3 StAG zu treffen ist, auf ein solches Maß zu beschränken,
wie es der Wortlaut nahe legt.
Der dahin gehende gesetzgeberische Wille kommt auch in den Gesetzesmate-
rialien zum Ausdruck. In der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung (BTDrucks 16/5065 S. 229 f.) heißt es zur Änderung des Sat-
zes 1 von § 12a Abs. 1 StAG, dass die bisherigen Grenzen für Bagatellstrafta-
ten, die nicht einbürgerungshinderlich sind, als zu hoch angesehen werden und
deshalb um die Hälfte gesenkt werden sollen. Dies entspreche auch einer An-
regung der Innenministerkonferenz vom Mai 2006. Der damit in Bezug genom-
mene Beschluss Nr. 7 der 180. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenmi-
nister und -senatoren der Länder stellte fest, dass die bisherigen Bagatellgren-
zen, innerhalb derer Straftaten die Einbürgerung nicht hindern, unverhältnismä-
ßig hoch seien. Um die Rechtstreue des Einbürgerungsbewerbers sicherzustel-
len, solle „in der Regel künftig bereits eine Verurteilung zu einer Geldstrafe von
90 Tagessätzen die Einbürgerung ausschließen“. Wenn sich der Gesetzgeber
durch diese Bezugnahme die Forderung der Innenministerkonferenz zu eigen
gemacht hat, dass „in der Regel“ bereits eine Verurteilung zu einer Geldstrafe
von 90 Tagessätzen die Einbürgerung ausschließen soll, darf die im Gesetz
vorgesehene Ausnahmeregelung des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG (Einzelfallprü-
fung bei geringfügiger Überschreitung) nicht entgegen dem Ergebnis der Wort-
lautinterpretation weit verstanden werden.
dd) Auch der Sinn und Zweck der Regelung steht einem weiten Verständnis
entgegen.
Mit dem grundsätzlichen Erfordernis der Straffreiheit in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5
StAG will der Gesetzgeber zum einen demjenigen Einbürgerungsbewerber kei-
nen Anspruch auf Einbürgerung einräumen, der ein Rechtsgut verletzt hat, das
die Bundesrepublik Deutschland als der Staat, in den er eingebürgert werden
will, für so wesentlich hält, dass dessen Verletzung mit Strafe bewehrt ist. Zum
anderen stellt der Gesetzgeber damit klar, dass es nicht Aufgabe der Einbürge-
rungsbehörde ist, selbst festzustellen, ob der Ausländer eine Straftat begangen
hat. Erforderlich aber auch hinreichend ist, dass der Verstoß gegen ein Strafge-
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setz in einer strafgerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist (Urteil vom
29. März 2007 - BVerwG 5 C 33.05 - BVerwGE 128, 271 Rn. 18). Mit der Rege-
lung in § 12a Abs. 1 Satz 1 StAG über die Unbeachtlichkeit sog. Bagatellstrafta-
ten wird dabei im Interesse der Rechtssicherheit eine klare Grenze vorgegeben,
welche Straftaten bei der Entscheidung über die Einbürgerung unbeachtlich
sind und welche nicht. Dies erleichtert zugleich den Verwaltungsvollzug, zumal
die Einbürgerungsbehörden und im Streitfall die Verwaltungsgerichte grund-
sätzlich von der Richtigkeit der (rechtskräftigen) Verurteilung und des Strafma-
ßes ausgehen dürfen (vgl. Beschluss vom 16. Juli 2010 - BVerwG 5 B 2.10 -
juris Rn. 18).
Der Zweck des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG besteht vor diesem Hintergrund darin,
in „Grenzfällen“ eine (weitere) Ausnahme durch die Möglichkeit einer Einzelfall-
prüfung zuzulassen. Diese individuelle Prüfung soll aber - wie sich insbesonde-
re aus der bewussten Verschärfung der Vorschrift durch die Einfügung des
Merkmals der Geringfügigkeit ergibt - nur bei unbedeutenden bzw. marginalen
Abweichungen von der Unbeachtlichkeitsgrenze stattfinden. Dieser Zweckset-
zung entspricht das schon durch den allgemeinen Wortsinn nahe gelegte Aus-
legungsergebnis, dass eine Überschreitung der Bezugsgröße um 30 Tagessät-
ze - also um ein Drittel - nicht mehr geringfügig ist.
c) Das im Wege der grammatikalischen, systematischen, genetischen und
teleologischen Auslegung gewonnene Ergebnis wird durch die Begründung des
Berufungsgerichts nicht in Frage gestellt. Seinem hiergegen vorgebrachten Ar-
gument, dass der Vorschrift wegen der Praxis der Strafgerichte, Einzelfreiheits-
strafen nahezu ausschließlich in monatlicher Stufung zu verhängen, kein genü-
gendes praktisches Anwendungsspektrum belassen werde (UA S. 11), vermag
der Senat nicht zu folgen.
Dabei geht der Senat für die revisionsgerichtliche Prüfung von der tatsächlichen
Feststellung des Berufungsgerichts aus, dass die Strafgerichte in der Praxis
„nahezu ausschließlich“ nach Monaten bemessene (Einzel-)Freiheitsstrafen
verhängen. Es bedarf insoweit keiner abschließenden Entscheidung, ob diese
Feststellung für das Revisionsgericht bindend ist, weil es sich um eine Tatsa-
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chenfeststellung im Sinne von § 137 Abs. 2 VwGO handelt, die von der Beklag-
ten nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden ist. Auch wenn es sich - wo-
für Überwiegendes spricht - bei den Erhebungen zur Strafzumessungspraxis
der Strafgerichte um generelle, der allgemeinen Auslegung der materiellrechtli-
chen Rechtsnorm (hier des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG) dienende Tatsachen
(sog. legal facts) handelt, die von § 137 Abs. 2 VwGO nicht erfasst werden und
vom Revisionsgericht im Zweifel selbst aufgeklärt werden dürften (vgl. Urteil
vom 6. November 2002 - BVerwG 6 C 8.02 - Buchholz 402.5 WaffG Nr. 89
S. 24 f.; Beschluss vom 2. Februar 2011 - BVerwG 6 B 37.10 - juris Rn. 11),
kann sie der Senat hier zugrunde legen. Denn die Feststellung des Berufungs-
gerichts über die Strafzumessungspraxis der Strafgerichte bei Freiheitsstrafen
steht weder zwischen den Beteiligten im Streit noch ergeben sich sonst aufklä-
rungsbedürftige Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt.
aa) Im Hinblick auf die hier in Rede stehende Regelung über Geldstrafen liegt
die Gefahr eines praktischen Leerlaufens des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG aber
auch dann nicht vor, wenn eine Überschreitung um 30 Tagessätze nicht mehr
als geringfügig angesehen wird. Das Berufungsgericht hat nämlich nicht festge-
stellt, dass die Strafgerichte Geldstrafen nur in Stufen von 30 Tagessätzen ver-
hängen. Hierfür gibt es auch sonst keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr kann es
- wie in der mündlichen Verhandlung erörtert und zwischen den Beteiligten un-
streitig - als offenkundig angesehen werden, dass in der Strafpraxis auch Ab-
stufungen in geringeren Schritten (etwa von 10 Tagessätzen) häufig sind (vgl.
VG Ansbach, Urteile vom 18. Mai 2011 - AN 15 K 10.01673 - juris Rn. 27 und
vom 16. März 2011 - AN 15 K 10.02233 - juris Rn. 25). Die gesetzliche Rege-
lung sieht vor, dass die Geldstrafe mindestens 5 Tagessätze beträgt (§ 40
Abs. 1 Satz 2 StGB).
bb) Ebenso wenig besteht die Gefahr, dass bei Zugrundelegung der Auslegung
des Senats die Regelung des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG insgesamt leerläuft.
Das Berufungsgericht hat nämlich auch nicht festgestellt, dass für das Merkmal
der Geringfügigkeit im Sinne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG (insgesamt) kein
praktischer Anwendungsbereich vorhanden sei. Neben den Anwendungsfällen
im Hinblick auf Geldstrafen verbleibt ein solcher, wie auch das Berufungsgericht
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(UA S. 11) einräumt, sowohl im Hinblick auf die Bildung von Gesamtstrafen als
auch auf diejenigen Fälle, in denen mehrere Geldstrafen oder Freiheitsstrafen
und Geldstrafen gemäß § 12a Abs. 1 Satz 2 StAG zusammenzurechnen sind.
cc) Dem Oberverwaltungsgericht ist auch nicht deshalb zu folgen, weil bei iso-
lierter Betrachtung der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe dem § 12a Abs. 1
Satz 3 StAG insoweit nur dann ein ins Gewicht fallender praktischer Anwen-
dungsbereich verbleibt, wenn die Geringfügigkeitsgrenze auf vier Monate fest-
gesetzt wird. Zweifelhaft ist bereits, ob dem Hinweis auf die Strafzumessungs-
praxis der Strafgerichte bei Freiheitsstrafen überhaupt durchgreifende Bedeu-
tung für die Auslegung des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG zukommen kann. Es be-
gegnet nicht unerheblichen Bedenken, die Bestimmung des Inhalts von § 12a
Abs. 1 Satz 3 StAG maßgeblich an der Verfahrensweise der Strafgerichte aus-
zurichten, die von Gesetzes wegen nicht gehalten sind, (kürzere) Freiheitsstra-
fen allein in Monatsschritten zu verhängen. § 39 StGB sieht nämlich eine Be-
messung der Freiheitsstrafe unter einem Jahr nach vollen Wochen und Mona-
ten vor, weshalb in der Rechtspraxis auch Stufungen in Wochen vorgekommen
und für zulässig erachtet worden sind (vgl. BayObLG, Urteil vom 10. Juni 1976
- RReg 2 St 73/76 - NJW 1976, 1951 f.; KG Berlin, Beschluss vom 15. Novem-
ber 2005 - (3) 1 Ss 398/05 - juris Rn. 3).
Selbst wenn man unter Zurückstellung dieser Bedenken dem Ansatz des Beru-
fungsgerichts folgt, greift seine Argumentation nicht durch. Aus seiner Feststel-
lung zum praktischen Anwendungsbereich des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG im
Hinblick auf (Einzel-)Freiheitsstrafen folgt nicht, dass etwa aus teleologischen
Gründen eine Auslegung geboten ist, welche eine Überschreitung des Bezugs-
rahmens um ein Drittel (also um einen Monat Freiheitsstrafe) noch als geringfü-
gig im Sinne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG ansieht. Soweit aus der genannten
Feststellung zu schließen ist, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift bei
(Einzel-)Freiheitsstrafen numerisch deutlich kleiner ist als bei Geldstrafen, steht
dies mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerade in Einklang.
Denn die Freiheitsstrafe ist, auch wenn ihre Vollstreckung zur Bewährung aus-
gesetzt wird, gegenüber der Geldstrafe kein geringeres Übel (BGH, Urteil vom
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17. Januar 1989 - 1 StR 730/88 - JR 1989, 425 f.), sondern regelmäßig die
schwerere Strafe (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 2 StR 464/97 -
wistra 1998, 58; Häger, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007,
Vor § 38 Rn. 39 m.w.N.). Sie darf gerade bei kurzen Freiheitsstrafen nur unter
besonderen Voraussetzungen angeordnet werden. Diese Wertung kommt ins-
besondere in § 47 Abs. 1 StGB zum Ausdruck, wonach das Gericht eine Frei-
heitsstrafe unter sechs Monaten nur verhängen darf, wenn besondere Umstän-
de, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung
einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der
Rechtsordnung unerlässlich machen. Der zurückhaltende Gebrauch von der
Freiheitsstrafe, die grundsätzlich nur als ultima ratio verhängt werden soll, ergibt
sich im Verhältnis zur Geldstrafe als Folge des Grundsatzes, das zugefügte
Übel möglichst gering zu halten (Theune, in: Leipziger Kommentar zum StGB,
§ 47 Rn. 2). Wenn aber die Freiheitsstrafe im Verhältnis zur Geldstrafe regel-
mäßig die schwerere Strafe ist, darf sie wegen der oben erörterten Zweckset-
zung des § 12a Abs. 1 StAG im Hinblick auf die Überschreitung der Geringfü-
gigkeitsgrenze nach Satz 3 nicht großzügiger behandelt werden als die Geld-
strafe. Vielmehr ist die Ein-Drittel-Grenze für (Einzel-)Freiheitsstrafen - auch
wenn es insoweit rechtstatsächlich nur wenige praktische Anwendungsfälle ge-
ben mag - erst recht anzuwenden.
Diesem Ergebnis lässt sich - anders als das Berufungsgericht meint - nicht ent-
gegenhalten, dass im Falle der Zusammenrechnung von Straftaten nach der
Umrechnungsvorschrift des § 12a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 StAG einem Tages-
satz Geldstrafe ein Tag Freiheitsstrafe entspricht. Diese Regel findet ihre Vor-
bilder in den Umrechnungsregelungen des Strafgesetzbuchs (vgl. etwa § 54
Abs. 3, § 51 Abs. 4 Satz 1, § 47 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2, § 43 Satz 2 StGB). Die-
ser Umrechnungsfaktor liegt auch der Regelung des § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
und Nr. 3 StAG zugrunde, weil die Bagatellgrenzen für Freiheits- und Geldstra-
fen im Verhältnis zueinander dem Umrechnungsmaßstab entsprechen (90 Ta-
gessätze = 3 Monate Freiheitsstrafe). Aus diesem systematischen Zusammen-
hang lässt sich zwar folgern, dass eine abstrakte Festlegung, wann eine Über-
schreitung bei Freiheitsstrafen einerseits und bei Geldstrafen andererseits noch
geringfügig ist, der Umrechnungsregel entsprechen sollte. Dem wird jedoch ge-
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rade auch dadurch Rechnung getragen, dass eine Überschreitung des jeweili-
gen Rahmens um ein Drittel entsprechend dieser Regel sowohl für die Geld-
strafe als auch für die Freiheitsstrafe als nicht mehr geringfügig anzusehen ist.
Diese Begrenzung führt schließlich auch nicht zu vom Gesetz nicht gewollten
Härtefällen. In zeitlicher Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass einem Einbürge-
rungsbewerber die im Bundeszentralregister erfassten Straftaten nur solange
entgegengehalten werden dürfen, wie die Tilgungsfristen noch laufen und das
Verwertungsverbot des § 51 BZRG nicht eingreift (vgl. Urteil vom 20. März 2012
- BVerwG 5 C 1.11 - UA S. 37 ff., zur Veröffentlichung vorgesehen). Überdies
können im Rahmen einer Entscheidung über die Ermessenseinbürgerung (§ 8
Abs. 1 StAG) - auch wenn Verurteilungen vorliegen, die den Rahmen mehr als
geringfügig übersteigen - etwaige Besonderheiten des Einzelfalles nach § 8
Abs. 2 StAG (im Falle eines „öffentlichen Interesses“ an der Einbürgerung oder
„zur Vermeidung einer besonderen Härte“) berücksichtigt werden.
d) Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen hatte die Beklagte hier keine
Ermessensentscheidung nach § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG zu treffen, weil die
Tatbestandsvoraussetzung des geringfügigen Übersteigens im Fall des Klägers
wegen seiner Verurteilung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen nicht erfüllt
ist.
2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist weiterhin die Prüfung der Ermes-
senseinbürgerung nach § 8 StAG (a). Der Senat kann jedoch hierüber auf der
Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht
selbst abschließend entscheiden (b).
a) Ein Einbürgerungsbegehren ist grundsätzlich hinsichtlich aller in Betracht
kommender Einbürgerungsgrundlagen zu prüfen (Urteile vom 17. März 2004
- BVerwG 1 C 5.03 - NVwZ 2004, 997; vom 20. April 2004 - BVerwG 1 C 16.03
- BVerwGE 120, 305 <308> und vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 5 C 8.05 -
BVerwGE 124, 268 <276>). Etwas anderes kann zwar ausnahmsweise gelten,
wenn der Einbürgerungsbewerber seinen Antrag auf die Prüfung der An-
spruchsnorm des § 10 StAG begrenzt. Für eine solche Begrenzung des Begeh-
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rens, die eine Prüfung der Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG ausnimmt,
bedürfte es jedoch eindeutiger Hinweise (vgl. Urteil vom 20. März 2012
- BVerwG 5 C 1.11 - UA S. 13 f., zur Veröffentlichung vorgesehen). Daran fehlt
es hier. Der Kläger hat seinen Antrag, wovon - wie in der mündlichen Verhand-
lung erörtert - auch die Beteiligten übereinstimmend ausgehen, weder im be-
hördlichen noch im gerichtlichen Verfahren in dieser Weise beschränkt.
b) Ob eine Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG in Betracht kommt, lässt
sich mangels genügender Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurtei-
len.
Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen
einer Ermessenseinbürgerung nach § 8 Abs. 1 StAG insofern nicht vorliegen,
als der Kläger die Einbürgerungsvoraussetzung der Straffreiheit nach § 8 Abs. 1
Nr. 2 StAG i.V.m. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG nicht erfüllt. Daran ändert sich
auch dadurch nichts, dass - wie das Berufungsgericht (UA S. 7) ebenfalls zu-
treffend ausführt - die Regelung des § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG in ihrer seit
August 2007 geltenden Fassung ausweislich ihres klaren Wortlauts nicht mehr
nur bei der Anspruchseinbürgerung nach § 10 Abs. 1 StAG, sondern auch bei
der Ermesseneinbürgerung nach § 8 Abs. 1 StAG Anwendung findet (so zutref-
fend OVG Saarlouis, Beschluss vom 10. Juni 2010 - 1 A 88/10 - juris Rn. 6 ff.;
Marx, in: GK-StAR, Stand: Oktober 2009, § 8 Rn. 93; Berlit, in: GK-StAR,
Stand: November 2010, § 12a Rn. 13.3). Denn die Verurteilung des Klägers zu
120 Tagessätzen Geldstrafe ist - wie bereits dargelegt - nicht nach § 12a Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 StAG unbeachtlich.
Das Berufungsgericht hat hingegen nicht geprüft, ob die Beklagte verpflichtet
war, eine Ermessensentscheidung nach § 8 Abs. 2 StAG zu treffen. Nach die-
ser Vorschrift kann im Einzelfall aus Gründen des öffentlichen Interesses oder
zur Vermeidung einer besonderen Härte von der Voraussetzung der Straffrei-
heit in § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG abgesehen werden. § 8 Abs. 2 StAG ist auch dann
noch anwendbar, wenn - wie hier - die Grenze der Bagatellstraftaten mehr als
geringfügig im Sinne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG überschritten worden ist
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(vgl. OVG Saarlouis, Beschluss vom 10. Juni 2010 a.a.O. Rn. 10 ff.; Berlit,
InfAuslR 2007, 457 <465>).
Zwar lässt sich auf der Grundlage der vom Oberverwaltungsgericht getroffenen
Feststellungen eine „besondere Härte“ im Sinne von § 8 Abs. 2 StAG nicht an-
nehmen. Denn eine solche Härte muss durch atypische Umstände des Einzel-
falles bedingt sein und gerade durch die Verweigerung der Einbürgerung her-
vorgerufen werden und deshalb durch eine Einbürgerung vermieden oder zu-
mindest entscheidend abgemildert werden können (so zutreffend etwa OVG
Saarlouis, Urteil vom 12. Oktober 2011 - 1 A 246/11 - juris Rn. 79; OVG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 11. Juni 2009 - 5 M 30.08 - juris Rn. 2 m.w.N.).
Für solche Umstände, deren Vorbringen der Mitwirkungsobliegenheit des Ein-
bürgerungsbewerbers unterfällt, gibt es nach den bisherigen Feststellungen
keinen Anhalt.
Der Senat kann aber jedenfalls deshalb nicht abschließend in der Sache ent-
scheiden, weil es an der nötigen Tatsachengrundlage für die Beurteilung fehlt,
ob ein öffentliches Interesse im Sinne von § 8 Abs. 2 StAG besteht. Das Beru-
fungsgericht (UA S. 4) hat lediglich auf den Vortrag des Klägers im Verwal-
tungsverfahren Bezug genommen, dass sein journalistischer Arbeitsplatz bei
der D. den Nahen Osten betreffe und er eine repräsentative Funktion für das
Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland erfülle. Es hat jedoch
keine Feststellungen dazu getroffen, ob und inwieweit dieser Vortrag zutrifft,
und es hat nicht geprüft, wie diese und gegebenenfalls weitere bedeutsame
Umstände im Hinblick auf das Vorliegen eines öffentlichen Interesses im Sinne
von § 8 Abs. 2 StAG zu bewerten sind. Dies führt zur Zurückverweisung der
Sache (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Sollte das Berufungsgericht im Anschluss an die nachzuholende Prüfung zu der
Einschätzung gelangen, dass der Kläger die Tatbestandsvoraussetzung des § 8
Abs. 2 StAG erfüllt und dementsprechend eine Ermessensentscheidung nach
dieser Vorschrift zu treffen war, wird es im Rahmen der Kontrolle dieser Ent-
scheidung zum einen zu berücksichtigen haben, dass die Beklagte im Zeitpunkt
der Stellung des Einbürgerungsantrags im Dezember 2007 wie auch ihrer Ent-
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scheidung hierüber (am 16. Juni 2008) für die Ermessenseinbürgerung nach
§ 8 StAG noch nicht zuständig war (vgl. § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Zu-
ständigkeit in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten vom 5. Oktober 2004 -
GVBl I S. 612), sondern diese Zuständigkeit erst ab 1. Juli 2008 erlangt hat (vgl.
§ 1 Abs. 1 der Verordnung über die Zuständigkeit in Staatsangehörigkeitsange-
legenheiten vom 3. Juni 2008 - GVBl NRW I S. 468). Insoweit weist der Senat
darauf hin, dass es § 114 Satz 2 VwGO in Fällen, in denen es für die Prüfung
der Rechtmäßigkeit auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung ankommt, nicht ausschließt, dass die Behörde eine Ermessens-
entscheidung erstmals im gerichtlichen Verfahren trifft und zur gerichtlichen
Überprüfung stellt, wenn sich aufgrund neuer Umstände die Notwendigkeit ei-
ner Ermessensausübung erst nach Klageerhebung ergibt (Urteil vom 13. De-
zember 2011 - BVerwG 1 C 14.10 - juris Rn. 8). Zum anderen wird das Beru-
fungsgericht - worauf es im Zusammenhang mit § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG be-
reits eingegangen ist (UA S. 15) - im Fall einer etwaigen Kontrolle der Ermes-
sensentscheidung nach § 8 Abs. 2 StAG zu berücksichtigen haben, dass die
Behörde auch im Rahmen dieser Entscheidung als gewichtigen Gesichtspunkt
zu Lasten des Klägers in Ansatz bringen darf, dass er die Strafverurteilung in
seinem Einbürgerungsantrag verschwiegen hat.
Vormeier
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Häußler
Dr. Fleuß
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Staatsangehörigkeitsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
StAG
§ 8 Abs. 1 und 2; § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5,
§ 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, Satz 3
Stichworte:
Anspruch auf Einbürgerung; Ausschlussgrund, -tatbestand; Bagatellgrenze;
Bagatellstraftaten; Einbürgerung; Einbürgerungsbewerber; Ermessen; Ermes-
senseinbürgerung; geringfügig; Geringfügigkeit; Geringfügigkeitsgrenze; Härte,
besondere; öffentliches Interesse; Staatsangehörigkeit; Unbeachtlichkeitsgren-
ze.
Leitsatz:
Eine Strafverurteilung, welche die gesetzliche Unbeachtlichkeitsgrenze von
Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen oder Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten
(§ 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StAG) um ein Drittel überschreitet, übersteigt
diese nicht „geringfügig“ im Sinne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG.
Urteil des 5. Senats vom 20. März 2012 - BVerwG 5 C 5.11
I. VG Köln vom 10.02.2010 - Az.: VG 10 K 4788/08 -
II. OVG Münster vom 14.03.2011 - Az.: OVG 19 A 644/10 -