Urteil des BVerwG vom 14.11.2013

Eltern, Elterliche Sorge, Aufenthalt, Jugendhilfe

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 34.12
OVG 7 A 10868/12
Verkündet
am 14. November 2013
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer,
Dr. Häußler und Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache
übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Ver-
fahren eingestellt. Insoweit sind das Urteil des Oberverwal-
tungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Oktober 2012 und
das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 12. Juli 2012
wirkungslos.
Im Übrigen wird auf die Revision des Klägers das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Oktober
2012 abgeändert und die Berufung des Beklagten gegen
das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 12. Juli 2012
insoweit zurückgewiesen, als der Beklagte zur Erstattung
von aufgewendeten Jugendhilfeleistungen in Höhe von
4 912,89 € und zur Verzinsung dieses Betrags verurteilt
wurde.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Re-
visionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die beteiligten Landkreise streiten in ihrer Eigenschaft als örtliche Träger der öf-
fentlichen Jugendhilfe um die Erstattung von Kosten, die der Kläger ab dem
1. September 2011 für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen in dem Fall
„T. K.“ aufgewendet hat.
Die Ehe der Eltern des im Januar 1996 geborenen T. wurde im November 2009
rechtskräftig geschieden. Die elterliche Sorge für ihren Sohn steht beiden Eltern
gemeinsam zu. T.s Vater wohnte bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhand-
lung vor dem Berufungsgericht im Kreis E. T. und seine Mutter verzogen zum
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1. Oktober 2009 aus dem Kreis E. in den Zuständigkeitsbereich des Klägers.
Zum 1. September 2011 zogen beide in das Kreisgebiet des Beklagten um, in-
nerhalb dessen sie zum 1. November 2011 erneut den Wohnort wechselten.
Nachdem T. bereits im Jahr 2007 durch einen sehr unregelmäßigen Schulbe-
such aufgefallen und es in diesem Jahr wie auch in den Folgejahren immer
wieder zu erheblichen Fehlzeiten gekommen war, bewilligte der Kläger der Kin-
desmutter ab dem 20. Juni 2011 sozialpädagogische Familienhilfe. Ab dem
1. Januar 2012 gewährte er ihr zudem Leistungen in Form des Erziehungsbei-
stands. Die Hilfeleistung wurde zum 31. März 2013 bzw. 30. Juni 2013 einge-
stellt, nachdem ein weiterer Hilfebedarf nicht mehr bestand.
Ohne Erfolg ersuchte der Kläger den Beklagten aus Anlass der Ummeldung T.s
und seiner Mutter zum 1. September 2011, den Fall in die eigene Zuständigkeit
zu übernehmen und ein Kostenanerkenntnis ab Zuzug zu erteilen.
Auf seine Klage hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verurteilt, dem Klä-
ger die in dem Zeitraum vom 1. September 2011 bis zum 31. Mai 2012 aufge-
wendeten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 4 912,89 € zu erstatten, wobei der
Betrag mit fünf Prozent über dem Basiszinssatz ab Klageerhebung aus einem
Betrag von 2 392,84 € und ab dem 12. Juli 2009 aus einem Betrag von
4 912,89 € zu verzinsen sei. Zugleich hat es festgestellt, dass der Beklagte ver-
pflichtet sei, den Fall in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen. Wegen wei-
tergehend beantragter Prozesszinsen hat es die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des
Verwaltungsgerichts geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Dem Klä-
ger stehe ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 des
Achten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VIII - nicht zu. Es fehle bereits an dem
hiernach erforderlichen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit. Der Kläger sei
gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII selbst zuständig geblieben. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfasse diese Vorschrift sämt-
liche Fallgestaltungen, in denen Eltern nach Leistungsbeginn verschiedene ge-
wöhnliche Aufenthalte besäßen. Im Übrigen stehe einem Erstattungsanspruch
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des Klägers auch § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII entgegen. Die Erfüllung der Auf-
gaben in dem betreffenden Jugendhilfefall habe nicht den Vorschriften des Ach-
ten Buches Sozialgesetzbuch entsprochen. Die Gewährung sozialpädagogi-
scher Familienhilfe habe zumindest das Einverständnis von T.s Vater erfordert.
Dieser habe jedoch weder die Bewilligung der Hilfe zur Erziehung beantragt
noch deren Gewährung zugestimmt.
Im November 2012 hat T.s Vater rückwirkend seine Zustimmung zu den bislang
gewährten Jugendhilfeleistungen erklärt und die Fortführung der bewilligten
Maßnahmen beantragt.
Mit Schriftsätzen vom 28. Oktober 2013 und 4. November 2013 haben die Be-
teiligten den Rechtsstreit hinsichtlich des Feststellungsbegehrens übereinstim-
mend in der Hauptsache für erledigt erklärt.
Im Übrigen verfolgt der Kläger sein Erstattungsbegehren im Revisionsverfahren
weiter. Er ist der Auffassung, das Berufungsurteil verletze § 89c Abs. 1 i.V.m.
§ 86c i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. In Fällen, in denen der sorgeberech-
tigte Elternteil in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Trägers der öffentli-
chen Jugendhilfe verziehe, sei die durch § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII bewirkte
Festschreibung der örtlichen Zuständigkeit für eine effektive Aufgabenwahr-
nehmung der Jugendämter kontraproduktiv, da sie dem Gebot zuwiderlaufe, die
räumliche Nähe zwischen dem maßgeblichen sorgeberechtigten Elternteil und
dem Kind einerseits und dem Jugendamt andererseits zu wahren. Während die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf Fallgestaltungen gründe,
in denen beide Elternteile nicht mehr sorgeberechtigt gewesen seien, werde
ihre Erstreckung auf den Fall, dass beide Elternteile weiterhin die Personensor-
ge ausüben würden, dem Zweck der Sicherstellung einer effektiven Aufgaben-
wahrnehmung durch die Jugendämter nicht gerecht. In einer solchen Konstella-
tion könne das zuständige Jugendamt seiner Verantwortung auf Grund der
räumlichen Entfernung zu dem sorgeberechtigten Elternteil und dem Kind im
Wege der hierdurch erforderlich werdenden Inanspruchnahme von Amtshilfe
nicht mehr in der gebotenen Weise gerecht werden. Eine entsprechende Fest-
schreibung der örtlichen Zuständigkeit stünde zudem in Widerspruch zu § 86
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Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, der von einer grundsätzlich dynamischen Zuständigkeit
ausgehe. § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII widerstreite einer Erstattung nicht. Un-
geachtet der zwischenzeitlich abgegebenen Zustimmungserklärung des Kin-
desvaters sei die Beantragung ambulanter Hilfen nach § 1687 Abs. 1 Satz 2
BGB eine Angelegenheit des täglichen Lebens. Eine Fremdunterbringung habe
nicht in Rede gestanden. Durch die Gewährung sozialpädagogischer Familien-
hilfe in geringem Umfang und die Bewilligung der Erziehungsbeistandschaft
seien erhebliche Entscheidungen nicht getroffen worden. Deren Auswirkungen
seien zudem ohne Weiteres abänderbar.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich des Feststellungsbegehrens
übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war das Verfah-
ren gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO in entsprechender Anwen-
dung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Im Umfang der Teilerledigung
sind das erstinstanzliche und das Berufungsurteil wirkungslos geworden (§ 173
Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO).
Im Übrigen hat die Revision des Klägers Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht
hat die Erstattungsklage zu Unrecht abgewiesen. Dem Kläger steht ein An-
spruch gegen den Beklagten auf Erstattung der Kosten, die ihm in dem Ju-
gendhilfefall im Zeitraum vom 1. September 2011 bis zum 31. Mai 2012 ent-
standen sind, aus § 89c Abs. 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (Art. 1
des Gesetzes vom 26. Juni 1990, BGBl I S. 1163) - SGB VIII - i.d.F. der Be-
kanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl I S. 2022) zu. Danach sind
Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c
SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem
Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist.
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Der Kläger hat als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe im maßgebli-
chen Zeitraum vom 1. September 2011 bis zum 31. Mai 2012 der Kindesmutter
Hilfe zur Erziehung in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe gemäß § 31
SGB VIII gewährt und Leistungen in Form der Erziehungsbeistandschaft gemäß
§ 30 SGB VIII erbracht und dafür die Kosten getragen, deren Höhe zwischen
den Beteiligten nicht im Streit steht. Er hat die Kosten im Rahmen einer Ver-
pflichtung naci.d.F. der Bekanntmachungen vom 14. Dezem-
ber 2006 (BGBl I S. 3134) bzw. vom 11. September 2012 (BGBl I S. 2022) auf-
gewendet.verpflichtet den bisher zuständigen
örtlichen Jugendhilfeträger, die Leistung so lange zu gewähren, bis der infolge
des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit nunmehr zuständige örtliche Jugend-
hilfeträger die Leistung fortsetzt. Der bei Beginn der Leistung am 20. Juni 2011
(vgl. Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 25.10 - BVerwGE 141, 77
= Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII/KJHG Nr. 15 jeweils Rn. 18 m.w.N.) nach
§ 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständige Kläger war im maßgeblichen
Zeitraum nicht mehr örtlich zuständig.
Das Oberverwaltungsgericht hat unter Verletzung von Bundesrecht (§ 137
Abs. 1 Nr. 1 VwGO) angenommen, dass sich die örtliche Zuständigkeit des Klä-
gers mit dem Umzug der Kindesmutter in den Zuständigkeitsbereich des Be-
klagten am 1. September 2011 auf § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII i.d.F. der Be-
kanntmachungen vom 14. Dezember 2006 (BGBl I S. 3134) bzw. vom 11. Sep-
tember 2012 (BGBl I S. 2022) gründe (1.). Auf diesem Rechtsverstoß beruht
das Berufungsurteil, weil der Beklagte zu diesem Zeitpunkt nach § 86 Abs. 2
Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig geworden und bis zum Ende des entschei-
dungserheblichen Zeitraums geblieben ist (2.).
1. Gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der vorstehenden Fassung - die Än-
derung der Norm durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfa-
chung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfevereinfachungs-
gesetz - KJVVG) vom 29. August 2013 (BGBl I S. 3464) beansprucht Geltung
erst mit Wirkung vom 1. Januar 2014 - bleibt die bisherige Zuständigkeit be-
stehen, solange die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder kei-
nem Elternteil zusteht. Die Regelung knüpft tatbestandlich an § 86 Abs. 5
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Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII an (a). Hinsichtlich der Reichweite dieser Anknüpfung
ist zwischen den Fallgestaltungen des Bestehens einer gemeinsamen elterli-
chen Sorge einerseits und des Nichtzustehens der elterlichen Sorge anderer-
seits zu differenzieren (b).
a) Nach § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII wird für den Fall, dass die Eltern-
teile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begrün-
den, der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der personensorgebe-
rechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; dies gilt nach § 86
Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 SGB VIII auch dann, wenn ihm einzelne Angelegenhei-
ten der Personensorge entzogen sind.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Anwendungsbe-
reich des § 86 Abs. 5 SGB VIII weit verstanden worden. Die Zuständigkeitsre-
gelung erfasse sämtliche Fallgestaltungen, in denen Eltern nach Leistungsbe-
ginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen. Ihr Anwendungsbereich
sei nicht auf Fälle beschränkt, in denen die Eltern erstmals nach Beginn der
Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründeten und gegebenen-
falls im Anschluss daran ihren Aufenthalt unter Aufrechterhaltung verschiedener
gewöhnlicher Aufenthalte erneut veränderten. Vielmehr greife die Vorschrift ent-
sprechend ihrem Charakter als umfassende Regelung für verschiedene ge-
wöhnliche Aufenthalte der Eltern nach Leistungsbeginn auch ein, wenn die El-
tern bereits vor bzw. bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthal-
te haben und solche während des Leistungsbezugs beibehielten (Urteile vom
30. September 2009 --= Buchholz
436.511 § 86 SGB VIII/KJHG Nr. 9 jeweils Rn. 22 ff., vom 9. Dezember 2010
-- Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII/KJHG Nr. 12 Rn. 21,
vom 12. Mai 2011 - BVerwG 5 C 4.10 - BVerwGE 139, 378 = Buchholz 436.511
§ 88 SGB VIII/KJHG Nr. 1 jeweils Rn. 17 und vom 19. Oktober 2011 - BVerwG
5 C 25.10 - BVerwGE 141, 77 = Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII/KJHG Nr. 15
jeweils Rn. 35 ff.).
Obgleich diese Entscheidungen allein zu Fallkonstellationen ergangen sind, in
denen die Eltern vor und nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche
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Aufenthalte besaßen und keinem Elternteil das Sorgerecht zustand (vgl. § 86
Abs. 3 SGB VIII), sind die genannten Rechtssätze des Senats weiter gefasst
worden. Soweit der Anwendungsbereich der zu § 86 Abs. 5 SGB VIII formulier-
ten Rechtssätze auch § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII einschloss, hält der
Senat daran nicht fest. § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII bezieht sich viel-
mehr nur auf solche Fallgestaltungen, in denen Eltern nach Leistungsbeginn
erstmals verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen und in der Folge
beibehalten (vgl. Leitsatz 1 des Urteils vom 30. September 2009 a.a.O.).
Hierfür spricht grammatikalisch eine Gesamtbetrachtung der Wörter „Begrün-
den“, „nach Beginn der Leistung“ und „wird“ in § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1
SGB VIII. Das Wort „Begründen“ impliziert nach seinem Wortsinn, dass die El-
ternteile vor der zuständigkeitsrelevanten Veränderung des gewöhnlichen Auf-
enthalts eines oder beider Elternteile einen gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb
des Zuständigkeitsbereichs desselben Trägers der öffentlichen Jugendhilfe hat-
ten, sei es, dass sie zusammenlebten, sei es, dass sie innerhalb des Jugend-
amtsbezirks getrennt lebten, und nunmehr erstmals nach Beginn der Leistung
gewöhnliche Aufenthalte in den Zuständigkeitsbereichen verschiedener Ju-
gendhilfeträger nehmen. Dieser Wortsinn erschließt sich gerade aus dem Ver-
gleich mit demjenigen des § 86 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und 4 Satz 1 SGB VIII
(„Haben“, „ist“).
Die Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1
SGB VIII auf die Fälle der erstmaligen Begründung verschiedener gewöhnlicher
Aufenthalte von Elternteilen, die sich zuvor innerhalb des Zuständigkeitsbe-
reichs desselben Trägers der öffentlichen Jugendhilfe gewöhnlich aufhielten
und damit von § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfasst waren, trägt auch der Sys-
tematik des § 86 SGB VIII Rechnung. Sie wird dadurch gestützt, dass diese
erstmalige Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte in § 86
SGB VIII keine anderweitige Regelung erfahren hat. § 86 Abs. 1 Satz 1
SGB VIII knüpft die örtliche Zuständigkeit für Leistungen der öffentlichen Ju-
gendhilfe nach diesem Buch an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern im Zu-
ständigkeitsbereich eines einzigen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe an. Die
Norm ist zuständigkeitsbestimmend in den Fällen sowohl des Innehabens des
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gewöhnlichen Aufenthalts beider Elternteile im Bezirk eines Jugendhilfeträgers
vor und bei Beginn der Leistung als auch der Begründung eines neuen gewöhn-
lichen Aufenthalts beider Elternteile im Zuständigkeitsbereich eines einzigen
(anderen) Jugendhilfeträgers nach Beginn der Leistung. Der zeitliche Geltungs-
bereich des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII endet mit der erstmaligen Begründung
verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 1
Halbs. 1 SGB VIII. Demgegenüber wird die Fallgestaltung, dass beide Eltern
bereits bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte im Zu-
ständigkeitsbereich verschiedener Träger der öffentlichen Jugendhilfe hatten
und diese in der Folge entweder beibehalten oder in die Bezirke anderer Ju-
gendhilfeträger verlagern, grundsätzlich von § 86 Abs. 2 und 3 SGB VIII erfasst.
§ 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII findet in diesen letztgenannten Fällen kei-
ne Anwendung, da verschiedene gewöhnliche Aufenthalte nicht erstmals „be-
gründet“ werden.
Für das vorstehende Verständnis spricht auch die Entstehungsgeschichte der
Rechtsnorm. Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozial-
gesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl I S. 239) wollte der Gesetzgeber aus-
weislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung Schwierig-
keiten und Rechtsunsicherheiten bei der Auslegung und Anwendung einzelner
Bestimmungen des Gesetzes in der Praxis begegnen und Regelungslücken
und wenig praktikablen Lösungen bei der Anwendung der verfahrensrechtlichen
Bestimmungen, unter anderem auch der Regelungen zur örtlichen Zuständig-
keit, begegnen (BTDrucks 12/2866 S. 15). Zu § 86 Abs. 5 SGB VIII führte die
Entwurfsbegründung aus, die Norm solle § 85 Abs. 4 SGB VIII in der Ur-
sprungsfassung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 26. Juni 1990
(BGBl I S. 1163 - SGB VIII 1990) ersetzen (BTDrucks 12/2866 S. 22). Nach
§ 85 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII 1990 wurde für den Fall, dass sich die Eltern nach
der Einleitung der Maßnahme trennen, das Jugendamt zuständig, in dessen
Bereich der personensorgeberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufent-
halt hat oder nimmt. Die Norm ging auf § 76 des Gesetzentwurfs der Bundesre-
gierung (- Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhil-
ferechts
<
Kinder- und Jugendhilfegesetz
- KJHG> -
BTDrucks 11/5948 S. 25) zu-
rück. Zu dessen Begründung führte die seinerzeitige Entwurfsbegründung aus,
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die Vorschrift solle den Fällen Rechnung tragen, in denen die Eltern sich nach
der Einleitung der Maßnahme trennen (BTDrucks 11/5948 S. 103 f.). Dies lässt
erkennen, dass § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII nach dem Willen des Ge-
setzgebers - ebenso wie § 85 Abs. 4 SGB VIII 1990 an § 85 Abs. 1 Satz 1
Halbs. 1 SGB VIII 1990 anknüpfte - in unmittelbarem Bezug zu § 86 Abs. 1
Satz 1 SGB VIII stehen sollte. Anders lassen sich die Hinweise auf die „nach-
trägliche Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte durch die beiden
Elternteile“ und die „Trennung der Eltern“ nicht deuten (in diesem Sinne auch
Eschelbach, JAmt 2011, 233 <235>).
b) § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, der die Fälle des fehlenden Sorgerechts
beider Elternteile nach Leistungsbeginn regelt, findet auch dann Anwendung,
wenn die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Auf-
enthalte besitzen (aa). Anders verhält es sich für die Fälle des gemeinsamen
Sorgerechts der Eltern, weil § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII dahin auszule-
gen ist, dass die Vorschrift auf die Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1
Halbs. 1 SGB VIII in vollem Umfang Bezug nimmt und damit auch ein (erstmali-
ges) Begründen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn
voraussetzt (bb).
aa) Das Bundesverwaltungsgericht ist bereits in seiner bisherigen Rechtspre-
chung davon ausgegangen, dass sich § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII allein
auf das Merkmal „nach Beginn der Leistung“ und nicht auf das Wort „Begrün-
den“ im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII bezieht. Die Regelung
über das fehlende Sorgerecht beider Elternteile (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2
SGB VIII) erfasst mithin alle Fallgestaltungen, in denen die Eltern nach Leis-
tungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen (Urteile vom
30. September 2009 a.a.O. jeweils Rn. 22, vom 9. Dezember 2010 a.a.O.
Rn. 21, vom 12. Mai 2011 a.a.O. und vom 19. Oktober 2011 a.a.O. jeweils
Rn. 35). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Dem Wortlaut des Satzes 2 des § 86 Abs. 5 SGB VIII ist bei gesonderter Be-
trachtung nicht zu entnehmen, welche Merkmale des Satzes 1 der Vorschrift in
Bezug genommen werden. Der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, die Tatbe-
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standsmerkmale des Satzes 1 ganz oder teilweise in Satz 2 zu wiederholen.
Zwar spricht die systematische Stellung des Satzes 2 innerhalb des Absatzes 5
in gewichtiger Weise dafür, dass sich dieser nachfolgende Satz 2 auf sämtliche
Tatbestandsmerkmale des vorangehenden Satzes 1 bezieht. Allerdings ist dies
nicht zwingend. Vielmehr kann etwa der Sinn und Zweck einer Vorschrift mit
noch größerem Gewicht eine Auslegung des nachfolgenden Satzes dahin ge-
bieten, dass dieser nur teilweise an die Voraussetzungen des vorangehenden
Satzes anknüpft. So liegt es hier.
Der § 86 SGB VIII zugrunde liegenden Konzeption liefe es zuwider, den Gel-
tungsbereich des Absatzes 5 Satz 2 Alt. 2 durch eine entsprechende Inbezug-
nahme nicht nur des Merkmals „nach Beginn der Leistung“ im Sinne des Absat-
zes 5 Satz 1 Halbs. 1, sondern auch der darin vorgesehenen weiteren Anknüp-
fungstatsache der erstmaligen Begründung verschiedener gewöhnlicher Auf-
enthalte der Elternteile auf die zuvor allein von Absatz 1 Satz 1 erfassten Fall-
gestaltungen zu reduzieren. Die Konzeption des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB
VIII gründet auf dem Umstand, dass die individuellen Jugendhilfeleistungen
nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch, die Eltern in Anerkennung ihrer in
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG beruhenden Verantwortung (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 13. Mai 1986 - 1 BvR 1542/84 - BVerfGE 72, 155 <172> m.w.N.) gewährt
werden, darauf ausgerichtet sind, die Erziehungsfähigkeit der Elternteile zu
stärken und ihre erzieherische Kompetenz zu fördern, um auf diese Weise eine
eigenständige Wahrnehmung der elterlichen Erziehungsverantwortung zu er-
möglichen (vgl.. Dieser Situation Rechnung tra-
gend verfolgen die Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit das Ziel,
durch eine grundsätzliche Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der Er-
ziehungsverantwortlichen eine effektive Aufgabenwahrnehmung sicherzustel-
len. Die regelmäßig erforderliche enge und kontinuierliche Zusammenarbeit des
Trägers der öffentlichen Jugendhilfe mit den Eltern wird gerade durch dessen
räumliche Nähe zu ihrem Aufenthaltsort ermöglicht und begünstigt. Hingegen
bedarf es eben dieser räumlichen Nähe im Falle, dass kein Elternteil (mehr) das
Sorgerecht hat (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII), regelmäßig nicht. Diese
Fallkonstellation ist vielfach dadurch geprägt, dass die betroffenen Kinder und
Jugendlichen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Einrichtungen oder Pflegestellen
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haben und nicht selten das Jugendamt am Ort der bisherigen Zuständigkeit
zum Vormund bestellt wurde (vgl. auch BTDrucks 12/2866 S. 22). Gerade in
Fällen, in denen die Erziehungsverantwortung (vgl. § 1626 Abs. 1, § 1631
Abs. 1 BGB) infolge des Entzugs der elterlichen Sorge nicht bei den Eltern liegt
und sich das Kind oder der Jugendliche regelmäßig auch nicht bei einem El-
ternteil aufhält, besteht keine Notwendigkeit mehr, die örtliche Zuständigkeit
weiterhin an den (künftigen) gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils zu bin-
den und sie mit diesem „mitwandern“ zu lassen (Urteil vom 19. Oktober 2011
- BVerwG 5 C 25.10 - BVerwGE 141, 77 = Buchholz 436.511 § 86
SGB VIII/KJHG Nr. 15 jeweils Rn. 38).
bb) Demgegenüber nimmt die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII,
die an das gemeinsame Sorgerecht der Eltern anknüpft, die Tatbestandsvo-
raussetzungen des Satzes 1 Halbs. 1 umfänglich in Bezug. Soweit aus der bis-
herigen Rechtsprechung des Senats zu § 86 Abs. 5 SGB VIII etwas anderes
gefolgert werden konnte, hält der Senat daran nicht mehr fest.
Infolgedessen beschränkt sich der Anwendungsbereich des § 86 Abs. 5 Satz 2
Alt. 1 SGB VIII auf die Fälle der erstmaligen Begründung verschiedener ge-
wöhnlicher Aufenthalte der Elternteile nach Beginn der Leistung sowie gegebe-
nenfalls auf die Verlagerung dieser verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte in
der Folgezeit. Für dieses Verständnis einer umfassenden Inbezugnahme der
Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII durch den in sei-
nem Wortlaut neutralen § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII streiten neben der
Gesetzessystematik auch der Sinn und Zweck und die Entstehungsgeschichte
der Norm.
In den Fällen des gemeinsamen Sorgerechts gebietet es der oben näher darge-
legte Zweck der Vorschrift, möglichst ein Näheverhältnis des Jugendamtes zu
einem sorgeberechtigten Elternteil beizubehalten und zu bewirken, dass im Fal-
le des Umzugs dieses Elternteils, bei dem das Kind regelmäßig seinen gewöhn-
lichen Aufenthalt haben wird, auch die örtliche Zuständigkeit mit diesem „mit-
wandert“ (vgl. Eschelbach, JAmt 2011, 233 <234>; Jung, JAmt 2011, 383 <383,
385>).
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Auch die historisch-genetische Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1
SGB VIII spricht für eine entsprechende umfängliche Inbezugnahme der Vo-
raussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII. Die Rechtsfolge des
§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII, also die Bestimmung der örtlichen Zustän-
digkeit nach der bisherigen Zuständigkeit, ist Ausdruck der Einschätzung des
Gesetzgebers, die örtliche Zuständigkeit könne in den Fällen gemeinsam per-
sonensorgeberechtigter Eltern, die vor Beginn der Leistung einen gemeinsamen
gewöhnlichen Aufenthalt hatten und nach Beginn der Leistung verschiedene
gewöhnliche Aufenthalte begründen, nicht verlässlich dynamisch an den ge-
wöhnlichen Aufenthalt eines der beiden Elternteile geknüpft werden, da sich
insoweit nicht abstrakt-generell feststellen lasse, welcher Elternteil künftig der
Unterstützung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bei der Wahrnehmung
der Erziehungsverantwortung bedürfe (BTDrucks 12/2866 S. 21). Anders als in
den von § 86 Abs. 2 und 3 SGB VIII geregelten Fällen, bei denen die Zustän-
digkeitsbestimmung an vorgefundene Aufenthalte angelehnt werden kann und
in denen es dem gesetzgeberischen Regelungskonzept regelmäßig zuwiderlie-
fe, die räumliche Nähe des Jugendhilfeträgers zu dem Elternteil, bei dem das
Kind oder der Jugendliche seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits in der Ver-
gangenheit genommen hat, durch eine Anknüpfung an die bisherige Zuständig-
keit zu beenden, ist eine solche räumliche Nähe in der Konstellation einer erst-
maligen Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte beider Elternteile
nicht abstrakt-generell herzustellen, ohne besorgen zu müssen, dass die betref-
fende Anknüpfung nur einen Teil der denkbaren Fallgestaltungen sachgerecht
erfasst.
cc) Gemessen an diesen Maßstäben war die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2
Alt. 1 SGB VIII hier nicht einschlägig. Zwar stand beiden Elternteilen nach Be-
ginn der Leistung das Sorgerecht gemeinsam zu. Allerdings ist die von § 86
Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII in Bezug genommene Voraussetzung des § 86
Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII, dass die gewöhnlichen Aufenthalte der Eltern
(erstmals) nach Beginn der Leistung „begründet“ worden sein müssen, nicht
erfüllt. Vielmehr hatten die Eltern bereits vor Beginn der Leistung verschiedene
gewöhnliche Aufenthalte, weil der Kindesvater im Kreis E. verblieben, die Mut-
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ter jedoch mit dem Kind in den Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen
war. Diese Konstellation wird von § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII erfasst.
2. Auf der nach alledem unrichtigen Anwendung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1
i.V.m. Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII beruht das Berufungsurteil. Der Beklagte war in
dem streitgegenständlichen Zeitraum gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich
zuständiger Jugendhilfeträger (a) und dem Kläger gemä
i.Vzur Kostenerstattung verpflichtet,
ohne dass dem die Regelung des § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i.d.F. der Be-
kanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl I S. 2022) entgegenstand (b).
a) Gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII richtet sich die örtliche Zuständigkeit
nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der
Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt
hatte, wenn die Personensorge für den Fall, dass die Elternteile - wie hier - be-
reits vor und bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte
haben, jenen gemeinsam zusteht. So verhält es sich hier.
Ausweislich der den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des Ober-
verwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) hatte T. seinen gewöhnlichen Auf-
enthalt vor Beginn der Leistung, mithin dem Zeitpunkt, ab dem die konkrete
tatsächlich gegenüber dem Hilfeempfänger erbracht worden ist
(vgl. Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 25.10 - BVerwGE 141,77
= Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII/KJHG jeweils Rn. 18 m.w.N.), hier am
20. Juni 2011, bei seiner Mutter. Diese hatte im streitgegenständlichen Zeit-
raum ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.
b) § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i.d.F. der Bekanntmachungen vom
14. Dezember 2006 (BGBl I S. 3134) bzw. vom 11. September 2012 (BGBl I
S. 2022) steht einer Verurteilung des Beklagten zur Kostenerstattung nicht ent-
gegen, da die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des Achten Buches So-
zialgesetzbuch entsprach. Die Hilfegewährung bedurfte des Einvernehmens
beider personensorgeberechtigter Elternteile (aa). Von dessen Vorliegen war
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hier jedenfalls auf der Grundlage der Erklärung des Kindesvaters vom 12. No-
vember 2012 auszugehen (bb).
aa) Die Gewährung von Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII
setzt grundsätzlich das Einverständnis der Personensorgeberechtigten voraus.
Damit trägt die Vorschrift dem Umstand Rechnung, dass ein originär öffentli-
ches Erziehungsrecht im Kinder- und Jugendhilferecht abgesehen von den Fäl-
len der §§ 42 und 43 SGB VIII nur in den engen Grenzen des § 1666 BGB be-
steht (Urteil vom 21. Juni 2001 - BVerwG 5 C 6.00 - Buchholz 436.511 § 39
SGB VIII/KJHG Nr. 2 S. 4 f.). Hier setzte die Hilfegewährung materiellrechtlich
neben dem Antrag eines Personensorgeberechtigten, hier der Kindesmutter,
auch das Einvernehmen des anderen Personensorgeberechtigten, hier des
Kindesvaters, voraus.
Personensorgeberechtigter im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII ist, wem
allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des
Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht. Dementsprechend be-
urteilt sich die Frage, ob in den Fällen der gemeinsamen Ausübung der elterli-
chen Sorge die Gewährung von Hilfe zur Erziehung des Einvernehmens beider
Elternteile bedarf oder der Alleinentscheidungsbefugnis eines Elternteils unter-
liegt, nach familienrechtlichen Maßstäben. Leben Eltern, denen - wie hier - die
elterliche Sorge gemeinsam zusteht, nicht nur vorübergehend getrennt, so ist
gemäß § 1687 Abs. 1 Satz 1 BGB bei Entscheidungen in Angelegenheiten, de-
ren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, ihr gegenseitiges Ein-
vernehmen erforderlich. Die Alleinentscheidungsbefugnis des Elternteils, bei
dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder auf Grund einer
gerichtlichen Entscheidung gewöhnlich aufhält, beschränkt sich gemäß § 1687
Abs. 1 Satz 2 BGB auf Angelegenheiten des täglichen Lebens. Maßstab für die
Entscheidung, ob ein Elternteil - trotz fortbestehender gemeinsamer Sorge - im
Sinne des § 1687 Abs. 1 BGB allein oder nur im gegenseitigen Einvernehmen
handeln kann, ist die Qualität der zu treffenden Entscheidung und die Erheb-
lichkeit ihrer Bedeutung für das Kindeswohl. Danach sind Entscheidungen in
Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist,
im Sinne des § 1687 Abs. 1 Satz 1 BGB regelmäßig solche, die für die künftige
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Entwicklung und Sozialisation des Kindes, aber auch für sein Sozialisationsum-
feld von erheblicher Bedeutung sind (Salgo, in: v. Staudinger, Kommentar zum
Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 2006,
§ 1687 Rn. 30). Demgegenüber sind nach der Legaldefinition des § 1687 Abs. 1
Satz 3 BGB Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens in der
Regel solche, die häufig vorkommen und die keine schwer abzuändernden
Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben.
Die Frage, ob die Entscheidung über die Inanspruchnahme von Hilfe zur Erzie-
hung gemäß den §§ 27 ff. SGB VIII zu den Angelegenheiten zählt, deren Rege-
lung für das Kind von grundsätzlicher Bedeutung ist und damit gegenseitiges
Einvernehmen erfordert, oder eine Angelegenheit des täglichen Lebens dar-
stellt, bedarf mit Blick auf die unterschiedliche Relevanz der einzelnen Arten der
Hilfe zur Erziehung, ihre Dauer und die Intensität der Einflussnahme auf die
Lebenssituation des Kindes einer differenzierenden Betrachtung unter Berück-
sichtigung insbesondere der Qualität der zu treffenden Entscheidung (Wiesner,
in: Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 7 Rn. 11). Zielt die beantragte Hilfe auf
eine Unterbringung des Kindes außerhalb der elterlichen Familie, so ist die An-
tragstellung als Angelegenheit einzustufen, deren Regelung für das Kind von
grundsätzlicher Bedeutung ist. Nichts anderes gilt grundsätzlich für den Fall,
dass ambulante Hilfen, insbesondere solche therapeutischer Art, längerfristig in
Anspruch genommen werden sollen (DIJuF-Rechtsgutachten vom 2. April 2007
- J 8.110 Kü -, JAmt 2007, 351; Schmid-Obkirchner, in: Wiesner, SGB VIII,
4. Aufl. 2011, § 27 Rn. 11). Dieser Form der ambulanten Hilfen unterfallen re-
gelmäßig, so auch hier, sowohl die sozialpädagogische Familienhilfe als auch
die Erziehungsbeistandschaft. Beide sind zumeist auf längere Dauer angelegt
(vgl. § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) und zeitigen unmittelbare Auswirkungen auf
das Kind oder den Jugendlichen und dessen Entwicklung (DIJuF-Rechts-
gutachten vom 2. April 2007 - J 8.110 Kü -, JAmt 2007, 351; Salgo, in:
v. Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsge-
setz und Nebengesetzen, 2006, § 1687 Rn. 46).
bb) Davon, dass zwischen den Personensorgeberechtigten gegenseitiges Ein-
vernehmen (vgl. § 1627 Satz 1 BGB) über die Beantragung und Gewährung der
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Hilfe bestand, ist hier auf der Grundlage der Erklärung des Kindesvaters vom
12. November 2012 auszugehen ((1)). Der Senat ist nicht gehindert, diese Er-
klärung im revisionsgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen ((2)).
(1) Die Willensäußerung der Personensorgeberechtigten unterliegt den allge-
meinen Regelungen für Willenserklärungen entsprechend den Vorschriften des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand: Juli 2013,
§ 27 Rn. 66). Danach steht hier die Tatsache, dass der Kindesvater sein Ein-
vernehmen mit der Hilfegewährung erst nachträglich erklärt hat, der Annahme,
dass die Hilfe zur Erziehung im gegenseitigen Einvernehmen beider Personen-
sorgeberechtigten beantragt wurde, nicht entgegen. Die Erklärung des Kindes-
vaters vom 12. November 2012 gibt vielmehr Anlass zu der Annahme, dass
zwischen den Personensorgeberechtigten von Anfang an Einvernehmen hin-
sichtlich der Beantragung und Gewährung der sozialpädagogischen Familienhil-
fe und der Erziehungsbeistandschaft bestand.
Der Kindesvater hat in seiner Erklärung nicht nur die Fortgewährung der bewil-
ligten Hilfe beantragt, sondern ausdrücklich auch rückwirkend seine Zustim-
mung zu den bislang gewährten Jugendhilfeleistungen erteilt. Diese Erklärung
steht im Einklang mit dem Umstand, dass er, obwohl er Kenntnis von der Ge-
währung der sozialpädagogischen Familienhilfe und der Erziehungsbeistand-
schaft hatte, der Leistung zu keinem Zeitpunkt widersprochen hat. Zwar erlaubt
allein die Tatsache einer entsprechenden Kenntnis nicht, auf das anfängliche
Bestehen des erforderlichen Einvernehmens zu schließen. Im Lichte der Erklä-
rung vom 12. November 2012 ist ihr jedoch eine gewisse Indizwirkung nicht ab-
zusprechen.
(2) Das Bundesverwaltungsgericht ist auch nicht gehindert, die Erklärung des
Einvernehmens im revisionsgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen.
Zwar ist es in seiner Funktion als Revisionsgericht im Einklang mit den Revi-
sionszwecken der Rechtsvereinheitlichung, der Rechtsfortbildung und der Ver-
fahrenskontrolle grundsätzlich auf die Rechtsanwendung, insbesondere die
Überprüfung des vorinstanzlichen Urteils auf eine Verletzung revisiblen Rechts
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beschränkt, weshalb es grundsätzlich weder Tatsachen erheben noch im Revi-
sionsverfahren neu vorgebrachte Tatsachen berücksichtigen darf. Eine Aus-
nahme von diesem Grundsatz ist indes für den Fall anerkannt, dass ein nach-
träglich eingetretener oder nicht festgestellter einzelner Umstand völlig unstrei-
tig ist, seine Verwertung einer endgültigen Streiterledigung dient und schüt-
zenswerte Interessen der Beteiligten dadurch nicht berührt werden (Urteile vom
20. Oktober 1992 - BVerwG 9 C 77.91 - BVerwGE 91, 104 <106 f.> und vom
23. Februar 1993 - BVerwG 1 C 16.87 - Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 64
S. 22). So liegt es hier.
Die neue Tatsache des Einvernehmens von T.s Vater mit der Hilfebeantragung
und -gewährung im Revisionsverfahren ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Einer Beweiserhebung bedarf es insoweit nicht. Schützenswerte Interessen des
Beklagten werden durch eine Berücksichtigung nicht berührt. Vielmehr hat die-
ser die Zustimmung durch den Kindesvater in seiner Revisionserwiderungs-
schrift „begrüßt“. Die Berücksichtigung der Erklärung dient auch der endgültigen
Streiterledigung, weil sie einen objektiv drohenden weiteren Rechtsstreit in die-
ser Sache vermeidet. Würde der nachträglich eingetretene Umstand des Ein-
vernehmens des Vaters nicht berücksichtigt und die Revision mit Blick auf § 89f
Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zurückgewiesen, wäre der Kläger nicht gehindert, unter
Hinweis auf das nunmehr vorliegende Einvernehmen einen neuen Prozess an-
zustrengen. Die Rechtskraft des abgeschlossenen Verfahrens stände der Be-
rücksichtigung der hier in Rede stehenden neuen Tatsache nicht entgegen (vgl.
Urteil vom 23. November 1999 - BVerwG 9 C 16.99 - BVerwGE 110, 111 <117>
= Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 5 S. 2 <5>).
c) Der Zinsanspruch des Klägers rechtfertigt sich aus einer entsprechenden An-
wendung der(Urteil vom 22. November 2001
- - BVerwGE 115, 251 <256> = Buchholz 436.511 § 89e
SGB VIII/KJHG Nr. 1 S. 5 m.w.N.).
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 und 2, § 161 Abs. 2
VwGO. Bezüglich des für erledigt erklärten, in die Zukunft gerichteten Feststel-
lungsantrags entsprach es billigem Ermessen, dem Beklagten die Kosten auf-
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zuerlegen, da er als gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständiger
Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei fortbestehendem Hilfebedarf zur Über-
nahme des Hilfefalles in die eigene Zuständigkeit verpflichtet gewesen wäre.
Vormeier
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Häußler
Dr. Fleuß
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Jugendhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
BGB
§ 288 Abs. 1 Satz 1, §§ 291, 1626 Abs. 1, § 1626a Abs. 1
Nr. 2, § 1627 Satz 1, §§ 1666, 1671, 1687 Abs. 1 Satz 1, 2
und 3
GG
Art. 6 Abs. 2 Satz 1
SGB VIII
§ 7 Abs. 1 Nr. 5, § 27 Abs. 1, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 86
Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3, 5 Satz 1 Halbs. 1 und
Satz 2 Alt. 1 und 2, § 86c Abs. 1 Satz 1, § 89c Abs. 1, § 89f
Abs. 1 Satz 1
SGB VIII 1990
§ 85 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4
Stichworte:
Kostenerstattung; örtliche Zuständigkeit; bisherige Zuständigkeit; gewöhnlicher
Aufenthalt; verschiedene gewöhnliche Aufenthalte; Begründen; Personensorge;
elterliche Sorge; Personensorgeberechtigte; Eltern; Elternteile; Beginn der Leis-
tung; Leistungsbeginn; zeitlicher Geltungsbereich; Regelungslücke; Erzie-
hungsverantwortung; Aufgabenwahrnehmung; Zusammenarbeit; räumliche Nä-
he; Inbezugnahme; Einvernehmen; Alleinentscheidungsbefugnis; Angelegen-
heiten von erheblicher Bedeutung; Angelegenheiten des täglichen Lebens; so-
zialpädagogische Familienhilfe; Erziehungsbeistandschaft; ambulante Hilfen;
Hilfe zur Erziehung; Rechtsvereinheitlichung; Rechtsfortbildung; Verfahrenskon-
trolle; Rechtsanwendung; Tatsachenerhebung; Berücksichtigung neuer Tatsa-
chen; endgültige Streiterledigung; Prozesszinsen.
Leitsätze:
1. § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII erfasst nur solche Fallgestaltungen, in
denen Eltern nach Leistungsbeginn erstmals verschiedene gewöhnliche Auf-
enthalte begründen und in der Folge beibehalten. Dies gilt auch im Fall des
§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII, wenn beiden Elternteilen das Sorgerecht
zusteht (Änderung der bisherigen Rechtsprechung).
2. Sofern keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2
SGB VIII), findet die Vorschrift in allen Fallgestaltungen Anwendung, in denen
die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte
besitzen (Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung).
Urteil des 5. Senats vom 14. November 2013 - BVerwG 5 C 34.12
I. VG Trier
vom 12.07.2012 - Az.: VG 2 K 209/12.TR -
II. OVG Koblenz
vom 29.10.2012 - Az.: OVG 7 A 10868/12 -