Urteil des BVerwG vom 06.02.2003

Umzug, Sozialhilfe, Psychiatrische Klinik, Wohnung

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 34.02
Verkündet
OVG 2 L 275/01
am 6. Februar 2003
Schmidt
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S ä c k e r und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
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Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 7. August 2002 wird
aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwal-
tungsgerichts vom 19. September 2001 wird zu-
rückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs-
und des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Erstattung ihrer Aufwen-
dungen für Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen
Lebenslagen in Höhe von 18 935 € (entspricht 37 033,64 DM) in
Anspruch, die sie ab 14. Juli 1995 bis 13. Juli 1997 dem in-
zwischen verstorbenen Hilfeempfänger W. F. geleistet hat.
Herr F. hatte bis Juni 1995 im Zuständigkeitsbereich der Be-
klagten gewohnt und von ihr Sozialhilfe bezogen. Am 15. Juni
1995 war er zur Behandlung seiner Suchtkrankheit in eine
- nicht im Zuständigkeitsbereich der Beteiligten gelegene -
psychiatrische Klinik in R. aufgenommen worden, zum 30. Juni
1995 hatte er seine Wohnung gekündigt und sich polizeilich ab-
gemeldet. Die Krankenhausbehandlung wurde am 14. Juli 1995 be-
endet; am selben Tage zog Herr F. nach Angaben der Klägerin in
deren Zuständigkeitsbereich.
Unter dem 18. Juli 1995 informierte die Klägerin die Beklagte
davon, dass Herr F. bei ihr Sozialhilfe beantragt habe, unter
dem 9. November 1995 teilte sie mit, Herr F. erhalte seit
14. Juli 1995 Sozialhilfe in Form von Hilfe zum Lebensunter-
halt und Hilfe in besonderen Lebenslagen, und bat die Beklagte
um Anerkenntnis eines grundsätzlichen Kostenerstattungsan-
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spruchs. Nachdem die Beklagte dies abgelehnt hatte, hat die
Klägerin Klage auf Kostenerstattung erhoben.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, das Ober-
verwaltungsgericht die Klage jedoch auf die Berufung der Be-
klagten im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, Herr F.
sei nicht vom Ort seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts
in den Bereich der Klägerin verzogen, sondern unmittelbar aus
der Fachklinik R., als er seinen gewöhnlichen Aufenthalt im
Bereich der Beklagten bereits aufgegeben gehabt habe. Wenn ein
Hilfeempfänger, der sich vorübergehend in einer Einrichtung im
Sinne von § 97 Abs. 2 BSHG befinde, seinen bisherigen gewöhn-
lichen Aufenthalt am eigentlichen Wohnort aufgebe und später
in einen anderen Ort umziehe, fehle es am Verziehen vom Wohn-
ort des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts. Ob ein Verziehen
im Sinne von § 107 Abs. 1 BSHG nur vorliege, wenn mit dem Auf-
enthaltswechsel die Begründung eines neuen gewöhnlichen Auf-
enthalts verbunden sei, könne offen bleiben; denn der Hilfe-
empfänger habe den Umzug in den Zuständigkeitsbereich der Klä-
gerin nicht schon mit der Aufgabe seiner Wohnung eingeleitet
und in der Klinik in R. nur kurzfristig gleichsam auf der
Durchreise verweilt. Die der Entlastung der Anstaltsorte die-
nende Fiktion des § 109 BSHG bedeute nicht, dass der vor der
Aufnahme in eine Einrichtung maßgebende gewöhnliche Aufenthalt
für die Dauer des Einrichtungsaufenthalts selbst dann bestehen
bleibe, wenn - wie hier - der Hilfeempfänger jenen gewöhnli-
chen Aufenthalt durch die Kündigung der Unterkunft und eine
förmliche Abmeldung bei der Meldebehörde und unter Berücksich-
tigung seines tatsächlichen Verhaltens aufgegeben habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin.
Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
- 4 -
II.
Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bun-
desrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), so dass es aufzuheben
ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsge-
richt hätte das der Klage stattgebende Urteil des Verwaltungs-
gerichts bestätigen und die Berufung der Beklagten zurückwei-
sen müssen.
Die Ansicht des Berufungsgerichts, ein Anspruch auf Kostener-
stattung nach § 107 Abs. 1 BSHG gegen den für den bisherigen
Wohnort zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe bestehe
nicht, wenn der Hilfeempfänger nach Aufgabe seiner bisherigen
Wohnung nicht unmittelbar, sondern erst nach einem zwischen-
zeitlichen Klinikaufenthalt an einen neuen Wohnort verziehe,
ist mit Bundesrecht unvereinbar.
Nach § 107 Abs. 1 BSHG ist, wenn eine Person vom Ort ihres
bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verzieht, der Träger der
Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem
nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort
erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im
Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Per-
son innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der
Hilfe bedarf. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier
erfüllt. Der Anwendung des § 107 BSHG steht - entgegen der An-
nahme des Oberverwaltungsgerichts - nicht entgegen, dass
Herr F., als er in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin zu-
zog, seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich
der Beklagten schon aufgegeben und sich zwischenzeitlich in
einer Klinik aufgehalten hatte. Das gesetzliche Tatbestands-
merkmal des "Verziehens" als Voraussetzung eines Kostenerstat-
tungsanspruchs des "nunmehr zuständigen" örtlichen Sozialhil-
feträgers ist gleichwohl gegeben.
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An den Begriff "Umzug" in der Normüberschrift anknüpfend ist
unter einem "Verziehen" die Verlagerung des Mittelpunktes der
Lebensbeziehungen und begrifflich dementsprechend neben der
Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts am bisherigen Aufent-
haltsort die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts
am Zuzugsort zu verstehen (s. Urteile des Senats vom 18. März
1999 - BVerwG 5 C 11.98 -
und vom 7. Oktober 1999 - BVerwG 5 C 21.98 -
385/387>).
Infolge der Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts durch
Herrn F. ist die Klägerin der im Sinne von § 107 Abs. 1 BSHG
"nunmehr zuständige örtliche Sozialhilfeträger" geworden. Eine
Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers, in dessen Zuständig-
keitsbereich die Fachklinik R. liegt, war durch den kurzfris-
tigen Klinikaufenthalt nicht begründet worden; denn am Ort
dieser Einrichtung konnte nach § 109 BSHG von vornherein kein
gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne der Zuständigkeits- und Kos-
tenerstattungsvorschriften begründet werden. Allerdings
schließt die dem Schutz der Einrichtungsorte dienende Fiktion
des § 109 BSHG es nicht aus, dass dort bei rein tatsächlicher
Betrachtung ein gewöhnlicher Aufenthalt genommen werden kann.
Es kann aber ein Wegfall der kostenmäßigen Verantwortung des
für den ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen
örtlichen Trägers allenfalls dann erwogen werden, wenn die
Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts von dem einen an den
anderen Ort in einer Weise unterbrochen ist, die es nicht mehr
zulässt, von einem "Umzug" zu sprechen. Eine solche Unterbre-
chung hat, ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz (§ 137 Abs. 2 VwGO), hier nicht stattgefunden.
Um von einem "Umzug" ausgehen zu können, muss der bisherige
gewöhnliche Aufenthalt nicht nahtlos in den neuen gewöhnlichen
Aufenthalt übergehen. Allerdings muss zwischen der Beendigung
des bisherigen und der Begründung des neuen gewöhnlichen Auf-
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enthalts ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang bestehen
und darf - worauf die Verwendung des Begriffs "nunmehr" in
§ 107 BSHG schließen lässt - jedenfalls nicht zwischendurch
schon anderweitig ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden
sein. Ein solcher die Annahme eines "Umzugs" unmittelbar in
den Zuständigkeitsbereich der Klägerin nicht hindernder Zusam-
menhang ist auch gewahrt, wenn zwar der bisherige Wohnort end-
gültig verlassen wird, ohne dass sofort ein neuer Wohnort auf-
gesucht wird, der zwischenzeitliche tatsächliche Aufenthalt an
einem dritten Ort aber nur vorübergehender Natur ist und keine
Anhaltspunkte dafür bestehen, der Betreffende wolle nicht wie-
der einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen. Maßgeblich ist
dabei das objektive Erscheinungsbild der aufeinander folgenden
Aufenthalte, wie es sich bei der im Kostenerstattungsrecht ge-
botenen rückblickenden Betrachtung ergibt.
Aus dieser Sicht weist die Aufgabe des Wohnsitzes im Zustän-
digkeitsbereich der Beklagten durch Herrn F. im Juni 1995 und
sein Zuzug in den örtlichen Zuständigkeitsbereich der Klägerin
im darauf folgenden Monat einen zeitlichen und sachlichen Zu-
sammenhang auf, der ausreicht, um den Aufenthaltswechsel noch
als "Umzug" im Sinne von § 107 BSHG zu betrachten; denn
Herr F. war in die Klinik in R. zur Durchführung einer Heil-
therapie aufgenommen worden, so dass sein Aufenthalt dort auf
möglichst baldige Beendigung angelegt und tatsächlich auch
bald - innerhalb von weniger als einem Monat - beendet war.
Der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts im Zuständigkeits-
bereich der Klägerin war daher insbesondere auch in zeitlicher
Hinsicht ein Aufenthalt vorausgegangen, der - selbst ohne die
Fiktion des § 109 BSHG - nicht als ein gewöhnlicher Aufenthalt
anzusehen wäre. Anhaltspunkte dafür, dass der Klinikaufenthalt
nicht nur als Zwischenstation, sondern auf einen zukunftsoffe-
nen Verbleib angelegt war, bietet der von der Vorinstanz fest-
gestellte Sachverhalt nicht.
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Ob der Regelung des § 103 Abs. 3 Satz 3 BSHG, wonach erst ein
Einrichtungsaufenthalt von länger als zwei Monaten Unterbre-
chungswirkung hat, ein normativer Anhaltspunkt auch für das
zeitliche Moment einer Zäsur bei der Verlagerung des gewöhnli-
chen Aufenthalts im Sinne von § 107 BSHG entnommen werden
kann, bedarf im Streitfall keiner Erörterung; denn ein knapp
einmonatiger Klinikaufenthalt stellt unter den hier gegebenen
Umständen - wie dargelegt - weder zeitlich noch sonst dessen
Charakter als bloßes Durchgangsstadium auf dem Weg an einen
neuen Wohnort in Frage.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Aufgrund
von § 194 Abs. 5 in Verbindung mit § 188 Satz 2 Halbsatz 2
VwGO in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung des Rechts-
mittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20. De-
zember 2001 (BGBl I S. 3987) ist die zuvor nach § 188 Satz 2
VwGO a.F. auch Erstattungsstreitigkeiten zwischen Sozialleis-
tungsträgern erfassende Gerichtskostenfreiheit für das vorlie-
gende, nach dem 1. Januar 2002 beim Bundesverwaltungsgericht
anhängig gewordene Verfahren entfallen.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfah-
ren auf 18 935 € (entspricht 37 033,64 DM) festgesetzt.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Sozialhilferecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquelle:
BSHG § 107
Stichworte:
Klinik, Aufenthalt in einer - als Unterbrechung eines "Umzugs";
Kostenerstattung, Anspruch auf - des nunmehr zuständigen
örtlichen Trägers der Sozialhilfe nach Umzug
des Hilfeempfängers;
gewöhnlicher Aufenthalt, Verlagerung des - als Voraussetzung
eines Anspruchs auf Erstattung von Sozialhil-
fekosten nach einem Umzug des Hilfeempfän-
gers;
Sozialhilfe, Kostenerstattungsanspruch nach Umzug des Hilfe-
empfängers;
Umzug, Kostenerstattungsanspruch nach - des Hilfeempfängers
bei kurzfristiger Unterbrechung des Umzugs;
Zuständigkeit, Wechsel der örtlichen - als Grundlage eines
Anspruchs auf Erstattung von Sozialhilfekos-
ten nach einem Umzug des Hilfeempfängers.
Leitsatz:
Dem infolge Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts zuständig
gewordenen örtlichen Träger der Sozialhilfe steht auch dann
ein Kostenerstattungsanspruch nach § 107 BSHG gegen den für
den bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Träger zu,
wenn der Hilfeempfänger nach Aufgabe seiner bisherigen Wohnung
nicht sogleich, sondern erst nach einer stationären Heilbe-
handlung eine neue Wohnung bezogen hat.
Urteil des 5. Senats vom 6. Februar 2003 - BVerwG 5 C 34.02 -
I. VG Schleswig vom 19.09.2001 - Az.: VG 10 A 430/99 -
II. OVG Schleswig vom 07.08.2002 - Az.: OVG 2 L 275/01 -