Urteil des BVerwG vom 27.03.2006

Recht auf Leben, Rechtsstaatlichkeit, Körperliche Unversehrtheit, Kriminalität

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 30.05
VGH 19 B 02.531
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. März 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel,
Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
28. Juli 2005 wird aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Würzburg vom 14. Januar 2002 wird zu-
rückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des
Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger begehrt die Ausstellung einer Bescheinigung als Abkömmling eines
Spätaussiedlers, die ihm der Beklagte unter Berufung auf § 15 Abs. 2, § 7
Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG verweigert, weil der Kläger, der
in der Haft zusammen mit einem Mitgefangenen einen anderen Mitgefangenen
getötet hat, dadurch „gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechts-
staatlichkeit“ verstoßen habe.
Der im Jahre 1972 geborene Kläger beantragte zusammen mit seiner 1940 ge-
borenen Mutter im Jahre 1992 seine Aufnahme in das Gebiet der Bundesrepu-
blik Deutschland. Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Antrag des Klägers,
ihn aus eigenem Recht als Spätaussiedler aufzunehmen, mit bestandskräftig
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gewordenen Bescheid ab, trug ihn jedoch in den seiner Mutter erteilten Auf-
nahmebescheid vom 9. Januar 1996 als Abkömmling nach § 7 Abs. 2 BVFG
ein. Im Zeitpunkt der Antragstellung hatte sich der Kläger im Gefängnis befun-
den. Er war zunächst wegen verschiedener Diebstahlsdelikte durch Urteil des
Stadtgerichts der Region Altai vom 8. Januar 1990 zu einer Freiheitsstrafe von
drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, sodann durch weiteres Urteil
des Stadtgerichts der Region Altai vom 9. Oktober 1991 zu einer Freiheitsstrafe
von neun Jahren (unter Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren)
wegen eines in der Haft zusammen mit einem Mitgefangenen begangenen Tö-
tungsdelikts an einem anderen Mitgefangenen. Wegen einer Tbc-Erkrankung
wurde der Kläger durch Beschluss des Stadtgerichts der Region Altai vom
6. Januar 2000 von der weiteren Strafverbüßung freigestellt. Der Kläger reiste
am 19. Mai 2000 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde auf Grund
des Aufnahmebescheides registriert (Registrierschein vom 2. November 2000).
Die Mutter des Klägers war bereits am 9. Dezember 1996 ausgesiedelt; ihr
wurde am 30. Juni 1997 eine Bescheinigung als Spätaussiedlerin ausgestellt.
Der Kläger beantragte am 7. November 2000 die Ausstellung einer Bescheini-
gung als Abkömmling eines Spätaussiedlers. Das Zentrale Ausgleichsamt Bay-
ern beim Landratsamt F. - Außenstelle W. - (ZAB) lehnte den Antrag mit Be-
scheid vom 25. Juli 2001 ab, weil der Kläger durch das von ihm begangene
Tötungsdelikt gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen habe.
Das Verwaltungsgericht verpflichtete den Beklagten mit Urteil vom 14. Januar
2002, dem Kläger unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides eine
Bescheinigung als Abkömmling einer Spätaussiedlerin auszustellen. Der Ver-
waltungsgerichtshof hat auf die Berufung des Beklagten die Klage in vollem
Umfang abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Dem Begehren des Klägers stehe § 5 BVFG in der hier anzuwendenden, ab
1. Januar 2000 geltenden Fassung des Gesetzes vom 2. Juni 1993 (BGBl I
S. 829), wie es durch Art. 6 Nr. 1, Art. 27 Abs. 1 HSanG vom 22. Dezember
1999 (BGBl I S. 2534) geändert worden sei, entgegen. Nach § 5 Nr. 1 Buchst. b
BVFG erwerbe die Rechtsstellung nach § 4 Abs. 1 oder 2 BVFG nicht, wer
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durch sein Verhalten gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechts-
staatlichkeit verstoßen habe. Durch das während der Inhaftierung begangene
Tötungsdelikt habe der Kläger das Recht eines Menschen auf Leben und kör-
perliche Unversehrtheit verletzt; darin liege eine erhebliche Zuwiderhandlung
gegen die Gemeinschaftsordnung. In der Konvention zum Schutze der Men-
schenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 sei als Menschen-
recht u.a. anerkannt das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit. Der Kläger
habe gegen diese Grundwerte und damit gegen die Gemeinschaftsordnung
verstoßen. In der Vernichtung des menschlichen Lebens liege zugleich ein Ver-
stoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, da kein Rechtsstaat eine
solche Handlung billige, zulasse oder straffrei lasse. Für den Ausschlusstatbe-
stand des § 5 BVFG komme es allein auf den materiellen Unrechtsgehalt des
Verhaltens nach den Maßstäben rechtsstaatlicher Grundsätze an.
Entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung müsse zu dem
Unrechtscharakter der Tat nicht noch ein „Systembezug“ hinzukommen. Die
Notwendigkeit eines solchen Systembezuges ergebe sich nicht aus dem Wort-
laut des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG. Bei einer systematischen Auslegung folge
aus dem Umstand, dass in § 5 Nr. 1 BVFG Tatbestände, die an die Unwürdig-
keit des darin abstrakt angesprochenen Verhaltens des Bescheinigungsbewer-
bers anknüpften, zusammengefasst seien und die Regelungen der Nr. 1
Buchst. a und c einen gewissen „Systembezug“ aufwiesen, noch nicht ohne
Weiteres, dass auch für die Regelung der Nr. 1 Buchst. b ein „Systembezug“ zu
fordern sei. Dagegen spreche der Vergleich mit der bis zum 31. Dezember
1992 geltenden Vorgängervorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 2 BVFG, nach der es
darauf angekommen sei, dass der Verstoß gegen die Grundsätze der Mensch-
lichkeit und Rechtsstaatlichkeit „während der Herrschaft des Nationalsozialis-
mus oder in der sowjetischen Besatzungszone oder sowjetisch besetzten Sek-
tor von Berlin durch sein Verhalten“ erfolgt sei. Der Gesetzgeber habe von der
Hervorhebung eines Systembezuges gerade abgesehen. Anderes ergebe sich
auch nicht aus einem Vergleich mit den Regelungen des Häftlingshilfegesetzes
- HHG - (i.d.F. vom 2. Juni 1993, BGBl I S. 883) bzw. des Strafrechtlichen Re-
habilitierungsgesetzes - StrRehaG - (i.d.F. vom 17. Dezember 1999, BGBl I
S. 2664). § 16 Abs. 2 StrRehaG sei schon von der Zielrichtung her nicht mit § 5
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Nr. 1 Buchst. b BVFG vergleichbar; im Bescheinigungsverfahren nach dem
Bundesvertriebenengesetz gehe es nicht um soziale Ausgleichszahlungen für
durch Freiheitsentziehung entstandene Nachteile. Für die Auslegung des § 5
Nr. 1 Buchst. b BVFG ließen sich auch aus der Regelung des § 2 Abs. 1 HHG
keine Rückschlüsse ziehen, weil in der entsprechenden Regelung des Häft-
lingshilfegesetzes bereits dem Wortlaut nach ein deutlicher Zusammenhang
des Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder Menschlich-
keit mit dem jeweils herrschenden totalitären System hergestellt worden sei,
während ein solcher Zusammenhang in § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG gerade nicht
geregelt worden sei. § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG sei als „Unwürdigkeits“-
Tatbestand ausgestaltet, für den es auf einen „Systembezug“ der Tat gerade
nicht ankomme. Entscheidend sei vielmehr der materielle Unrechtsgehalt des
Verhaltens. Bei der von dem Kläger begangenen Tat, die wegen ihres eklatan-
ten Unrechtsgehalts auch nicht einer unbesonnenen Jugendverfehlung zuzu-
rechnen sei, handele es sich um eine „erhebliche Zuwiderhandlung gegen die
Gemeinschaftsordnung“, indem der Kläger dem Schutz und der Erhaltung des
Lebens als zum Wesen der rechtsstaatlichen Grundordnung gehörendes Ele-
ment zuwider gehandelt habe. Hierin liege ein besonders schwerwiegender
Verstoß, der den Schluss auf eine „Unwürdigkeit“ und damit auf den Aus-
schlusstatbestand des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG rechtfertige.
Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren, eine Bescheinigung als
Abkömmling einer Spätaussiedlerin ausgestellt zu erhalten, weiter; er rügt eine
Verletzung des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG.
Der Beklagte und die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwal-
tungsgericht verteidigen das angefochtene Urteil.
II
Die Revision des Klägers, über die das Bundesverwaltungsgericht im Einver-
ständnis der Beteiligten gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und
§ 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist be-
gründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat der Berufung des Beklagten unter
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Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) stattgegeben, indem er
dahin erkannt hat, dass dem Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Be-
scheinigung als Abkömmling einer Spätaussiedlerin nach § 15 Abs. 2, § 7
Abs. 2 Satz 2 BVFG der Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG
entgegenstehe; ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder
Rechtsstaatlichkeit im Sinne dieser Regelung liegt entgegen der Rechtsauffas-
sung des Berufungsgerichts unabhängig von der Schwere der Straftat nicht
schon bei einem der allgemeinen Kriminalität zuzurechnenden Verhalten eines
Einzelnen vor, durch das ein Rechtsgut eines einzelnen Dritten verletzt wird.
Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Herstellung des erstin-
stanzlichen Urteils (§ 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO).
Anzuwenden ist § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG in der Fassung, die sie zum
1. Januar 2000 durch Art. 6 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes vom 22. Dezember
1999 (BGBl I S. 2534) erhalten hat. Die tatbestandlichen Voraussetzungen die-
ser Bestimmung sind hier nicht erfüllt.
1. Der Kläger hat durch die Tötung eines anderen Menschen nicht gegen die
„Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ verstoßen. Allerdings hat der Kläger eine
schwere Straftat begangen. Das Berufungsgericht weist auch zutreffend darauf
hin, dass zu den allgemein anerkannten und unveräußerlichen Menschenrech-
ten insbesondere auch das Recht eines jeden Menschen auf Leben und kör-
perliche Unversehrtheit gehört, das vor staatlicher Willkür zu schützen ein Ge-
bot der Rechtsstaatlichkeit ist (vgl. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 2
und 15 Abs. 2 EMRK; vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 1969 - BVerwG 6 C
115.63 - BVerwGE 31, 337 <338>; s.a. Urteile vom 18. Dezember 1969
- BVerwG 2 C 37.66 - BVerwGE 34, 331 <340 ff.>; vom 12. November 1970
- BVerwG 2 C 42.69 - BVerwGE 36, 268 <271 ff.> - jeweils zu § 3 G 131). Die
Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sind indes im Ansatz und Kern staatsgerich-
tete Anforderungen an die Gestaltung der Rechts- und Verfassungsordnung
eines demokratischen Rechtsstaats, keine an das einzelne Individuum gerichte-
ten Handlungsanforderungen oder -verbote. Hierzu hat das Bundesverwal-
tungsgericht in seinem Urteil vom 16. Januar 1964 - BVerwG 8 C 60.62 -
(BVerwGE 19, 1 <4> zu § 3 Abs. 2 Nr. 2 BVFG a.F.) ausgeführt:
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„Die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit gehen aus von
der Vorstellung, dass der Zweck des Staates auf die
Schaffung und Erhaltung einer materiell gerechten Ord-
nung gerichtet sein muss, dass demzufolge alle Zweige
der Staatsgewalt … der Herrschaft des Rechts im mate-
riellen Sinn unterworfen sind ... Die Grundsätze der
Rechtsstaatlichkeit beruhen also unter anderem auf der
Vorstellung, dass einer jeden Rechtsordnung vorgegeben
ist ein Bestand an unabdingbaren Rechten, insbesondere
solchen der Einzelpersönlichkeit, die formalrechtlich durch
die Gesetzgebung nach Umfang und Tragweite zwar kon-
kretisiert, nicht aber erst zur Entstehung gebracht werden,
die jedoch materiell niemals beseitigt oder in ihrem We-
sensgehalt beschränkt werden können. Zu diesen jeder
Rechtsordnung vorgegebenen und ihr daher nach rechts-
staatlicher Auffassung immanenten natürlichen Rechten
der Einzelperson gehört ihr Recht auf Leben, dem die
Aufgabe der Rechtsordnung entspricht, das menschliche
Leben zu schützen und es in seinen natürlichen Grenzen
zu gewährleisten.“
Dieses staatsgerichtete und -bezogene Verständnis des Begriffs der „Grund-
sätze der Rechtsstaatlichkeit“ prägt auch dessen Verwendung in § 5 Nr. 1
Buchst. b BVFG. Das Handeln eines Einzelnen im Bereich der allgemeinen Kri-
minalität gegen ein in einer rechtsstaatlichen Ordnung zu schützendes Rechts-
gut ist Anlass für eine nach der staatlichen Schutzpflicht für Leib und Leben
gebotenen Strafverfolgung durch ein rechtsstaatlich verfasstes Gemeinwesen.
Es bildet aber kein Verhalten, das die „Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ als
eines staatsgerichteten Verfassungsgrundsatzes zu berühren geeignet ist.
2. Der Kläger hat durch sein Verhalten auch nicht im Sinne des § 5 Nr. 1
Buchst. b BVFG gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit“ verstoßen. Der
vorliegende Fall gibt dabei keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, unter
welchen Voraussetzungen das Verhalten eines Einzelnen im Zusammenhang
mit einem institutionalisierten, staatlichen oder quasistaatlichen Herrschaftssys-
tem, das dieses direkt oder mittelbar unterstützt oder ausnutzt, gegen die
„Grundsätze der Menschlichkeit“ verstößt, zur Klärung der zwischen den Betei-
ligten umstrittenen Frage, inwieweit ein - wie auch immer definierter - „System-
bezug“ ein durch Auslegung des Wortlauts zu ermittelndes oder ein unge-
schriebenes Tatbestandsmerkmal des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG bildet oder ob
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sich aus dem Verzicht auf eine ausdrückliche Bezugnahme auf ein Verhalten
während der Herrschaft eines bestimmten Unrechtsregimes der Umkehrschluss
ziehen lässt, dass das Verhalten nicht durch den Bezug auf ein politisches Sys-
tem geprägt sein muss, welches die Grundsätze der Menschlichkeit oder
Rechtsstaatlichkeit missachtet. Zu entscheiden ist allein die Frage, ob eine Ein-
zelperson durch eine dem allgemeinen Kriminalunrecht zuzuordnende Straftat
ohne jeden politisch-ideologischen Hintergrund, mag diese auch noch so
schwer wiegen, gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit“ verstoßen kann.
Dies ist nicht der Fall, da der Kläger als Täter allgemeiner Kriminalität nicht Ad-
ressat der Grundsätze der Menschlichkeit im Sinne dieser Bestimmung ist.
2.1 Bereits aus dem Wortlaut, dass das Verhalten gegen die „Grundsätze“ der
Menschlichkeit verstoßen muss, folgt, dass es sich zumindest um eine Hand-
lung handeln muss, die nicht nur in einem Einzelfall Rechtsgüter eines Anderen
verletzt, sondern nach Art, Umfang oder Schädigungsfolgen bzw. dem Zusam-
menhang, in dem sie steht, geeignet sein muss, die „Grundsätze“ zu berühren.
In dieser Auslegung sieht sich der Senat durch die einfachgesetzliche Ausfor-
mung bestätigt, die der Begriff des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in
§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches - VStGB - (Gesetz vom 26. Juni 2002, BGBl I,
S. 2254) gefunden hat. Diese Regelungen setzen die im Bundesgebiet an-
wendbaren völkerrechtlichen Vereinbarungen um, die dem Schutze der natürli-
chen Menschenrechte dienen und ihrerseits Anhaltspunkte für die rückschau-
ende Betrachtung ergeben, ob ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechts-
staatlichkeit oder Menschlichkeit vorliegt (BVerwG, Urteile vom 23. September
1957 - BVerwG 5 C 488.56 - Buchholz 412.3 § 11 Nr. 1 BVFG; vom 28. Februar
1963 - BVerwG 8 C 67.62 - BVerwGE 15, 336 <339>). Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1
VStGB liegt ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ hiernach für den Fall
der Tötung eines anderen Menschen nicht stets, sondern nur dann vor, wenn
diese „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen
eine Zivilbevölkerung“ erfolgt ist. Unter welchen Voraussetzungen Handlungen,
die nicht in direktem Zusammenhang mit einer bestimmten politischen Ordnung
und unter deren Schutz begangen werden oder sich - wie in den Fällen der
Weitergabe von Informationen zu denunziatorischen Zwecken (s. dazu
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BVerwG, Urteil vom 28. Februar 1963 - BVerwG 8 C 67.62 - a.a.O. <340 f.>) -
deren Mechanismen zu Nutze machen, das Merkmal eines „ausgedehnten oder
systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung“ erfüllen und wo die
Grenzlinien in einer Bürgerkriegssituation oder im Falle eines terroristischen
Angriffs zu ziehen sind, kann dabei ebenso offen bleiben wie die Frage, ob ein
Verhalten auch dann gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit“ verstoßen
kann, wenn es sich in einem im Übrigen funktionierenden Rechtsstaat ereignet.
Denn die vom Kläger begangene Straftat erreicht die hiernach zu stellenden
Anforderungen offenkundig nicht.
2.2 Diesem Verständnis von einem Verstoß gegen die Grundsätze der Mensch-
lichkeit stehen bei einer systematischen Betrachtung andere Bestimmungen
des Bundesrechts zumindest nicht entgegen, die Rechtsfolgen an einen Ver-
stoß gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit“ knüp-
fen; die zu diesen Bestimmungen ergangene Rechtsprechung betrifft Fragen
der Intensität der Verstrickung in ein Unrechtsregime (s. etwa Kapitel XIX
Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Nr. 1
20. Januar 1994 - 8 AZR 269/93 - AP Nr. 1 zu § 626 BGB Einigungsvertrag;
LAG Berlin, Urteil vom 26. Februar 1993 - 6 Sa 108/92 - ZTR 1993, 251>, Kapi-
tel XIX Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 2 § 7 Abs. 2 Nr. 1 der Anlage I zum Eini-
gungsvertrag vom 31. August 1990, BGBl II S. 889; §§ 1, 2, 4 und 5 des Geset-
zes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Beru-
fungen ehrenamtlicher Richter vom 24. Juli 1992, BGBl I, S. 1386
BVerfG, Beschluss vom 9. August 1995 - 1 BvR 2263/94, 229/95, 534/95 -
BVerfGE 93, 213
[
235 ff.]; Beschluss vom 21. September 2000 - 1 BvR 661/96 -
DVBl 2000, 1768>; § 3 Satz 1 Nr. 3a und b G 131
1965, BGBl I, S. 1686>
6 C 115.63 - BVerwGE 31, 337 [338]; vom 18. Dezember 1969 - BVerwG 2 C
37.66 - BVerwGE 34, 331 [340 ff.]; vom 12. November 1970 - BVerwG 2 C
42.69 - BVerwGE 36, 268 [271 ff.]>; § 2 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über
Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen außerhalb der
Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden
; § 16 des
Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechts-
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staatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet
Rehabilitierungsgesetz - StrRehaG - i.d.F. vom 17. Dezember 1999, BGBl I,
S. 2664> dazu etwa BayVGH, Urteil vom 13. Januar 1997 - 12 B 97.685 -; KG,
Beschluss vom 20. März 1995 - 4 Ws 7/95 REHA - VIZ 1995, 431; OLG Dres-
den, Beschluss vom 17. März 1995 - 2 Ws 524/94 - OLG-NL 1996, 19;
ThürOLG, Beschluss vom 5. September 1994 - 2 Ws-Reha 81/94 - VIZ 1995,
128; OLG Rostock, Beschluss vom 25. Mai 1994 - II WsRH 26/94 - VIZ 1995,
63; LG Leipzig, Beschluss vom 11. März 1994 - BSK 32/92 - VIZ 1994, 503; § 2
Abs. 2 des Gesetzes über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsent-
scheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche
1997, BGBl I, S. 1620>; § 1 Abs. 4 des Gesetzes über staatliche Ausgleichs-
leistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheit-
licher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können
gleichsleistungsgesetz - AusglLeistG - i.d.F. vom 13. Juli 2004, BGBl I,
S. 1665> dazu etwa VG Berlin, Urteile vom 15. April 2005 - 25 A 257.01 - juris,
vom 18. März 2005 - 31 A 492.03 - juris; BVerwG, Urteile vom 17. März 2005
- BVerwG 3 C 20.04 - NVwZ 2005, 1192; vom 24. Februar 2005 - BVerwG 3 C
16.04 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 4; VG Dresden, Urteil vom 30. Juli
2003 - 4 K 1228/01 - juris; VG Halle, Urteile vom 7. Februar 2002 - 1 A 273/99
HAL - RÜ BARoV 2002, Nr. 12, 11 - 14; vom 12. Februar 1998 - A 1 K
1335/96 - juris; vom 9. Dezember 1997 - A 1 K 1203/97 - juris; § 16 Abs. 1
Nr. 2, 3 des Gesetzes zur Abgeltung von Reparations-, Restitutions-, Zerstö-
rungs- und Rückerstattungsschäden vom
12. Februar 1969, BGBl I, S. 105; § 1a des Gesetzes zur Änderung des Bun-
desversorgungsgesetzes
BGBl I, S. 66> dazu etwa SG Hamburg, Urteil vom 30. November 2005 - S 30 V
4/03 - juris; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 15. Juli 2005 - L 8 V
2778/04 - juris; vom 13. November 2003 - L 6 V 1912/01 -; § 5 Entschädigungs-
rentengesetz dazu etwa BSG, Urteil vom
24. März 1998 - B 4 RA 78/96 R - SozR 3-8850 § 5 Nr. 3; § 359 Abs. 3 LAG).
Für die systematische Gesamtbetrachtung ist dem Berufungsgericht zwar im
Ansatz darin zuzustimmen, dass jedenfalls die Bestimmungen des Häftlingshil-
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fegesetzes bzw. des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes von Regelungs-
gehalt und -richtung nicht unmittelbar vergleichbar sind. Auch ist festzustellen,
dass sich die Regelungen im Wortlaut, hinsichtlich der Bezugnahme auf be-
stimmte Herrschaftssysteme bzw. Zeiträume oder darin unterscheiden, ob sie
exemplarisch bestimmte Handlungen oder Handlungskontexte (z.B. eine Tätig-
keit für den Staatssicherheitsdienst) hervorheben. Dies ändert indes nichts dar-
an, dass nach dem jeweiligen Verständnis der Normen diese nicht als allge-
meine „Unwürdigkeitsklauseln“ verstanden und isolierte Handlungen der allge-
meinen Kriminalität eines Einzelnen ohne Bezug zu übergreifenden Hand-
lungszusammenhängen nicht als ein Verstoß gegen die „Grundsätze der
Menschlichkeit“ gesehen worden sind.
Gegen eine Einordnung auch sehr schwerwiegender Einzeltaten der allgemei-
nen Kriminalität als Verstoß gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit“ spricht
im Übrigen, was das Häftlingshilfegesetz betrifft, dass § 2 Abs. 1 Nr. 3 dieses
Gesetzes einen eigenständigen Ausschlussgrund für den Fall der Verurteilung
zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren normiert, der neben den in § 2
Abs. 1 Nr. 2 HHG geregelten Ausschluss wegen eines Verstoßes gegen die
Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder Menschlichkeit während der Herrschaft
des Nationalsozialismus oder in den Gewahrsamsgebieten tritt.
2.3 Für eine Nichtanwendung des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG auf im persönli-
chen Kontext verbleibende Straftaten der allgemeinen Kriminalität und gegen
die Annahme eines allgemeinen „Unwürdigkeitstatbestandes“ spricht der sys-
tematische Gesichtspunkt, dass gemäß § 5 Nr. 2 Buchst. a BVFG die Rechts-
stellung als Spätaussiedler nicht erwirbt, wer die Aussiedlungsgebiete wegen
einer drohenden strafrechtlichen Verfolgung auf Grund eines kriminellen Delikts
verlassen hat. Dieser Ausschlussgrund erfasst nicht eine mögliche „Unwürdig-
keit“ wegen einer bereits erfolgten Strafverfolgung wegen einzelner Straftaten.
Als Regelung der vertriebenenrechtlichen Folgen allgemeiner Kriminalität recht-
fertigt dies den Umkehrschluss, dass nach abgeschlossener Strafverfolgung
Delikte der allgemeinen Kriminalität nicht schon nach Nr. 1 einen Ausschluss-
grund bilden sollen; insoweit hat der Gesetzgeber die vertriebenenrechtlichen
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Reaktionen auf allgemeines kriminelles Unrecht durch einen Sondertatbestand
abschließend geregelt.
2.4 Die Entstehungsgeschichte der anzuwendenden Fassung des Gesetzes
ergibt keinen Hinweis darauf, dass § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG einen allgemeinen
Unwürdigkeitstatbestand bei Personen normieren könnte, die schwere Strafta-
ten begangen haben (BTDrucks 12/3212 S. 23):
„Die Ausschlußtatbestände in § 5 lehnen sich an entspre-
chende frühere Regelungen in § 11 an. Außerdem sind
- in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung - neue
Ausschlußtatbestände aufgenommen, bei deren Vorliegen
davon auszugehen ist, dass der Betroffene kein Kriegsfol-
genschicksal erlitten hat oder die Aussiedlung aus krimi-
nellen Gründen anstrebt. Im Gegensatz zu den bisherigen
Regelungen des Bundesvertriebenengesetzes, die den
Ausschluss von der Inanspruchnahme von Rechten und
Vergünstigungen vorsehen, wird jetzt der Status des Spät-
aussiedlers nicht mehr erworben, wenn ein Ausschlußtat-
bestand vorliegt.“
Hätte der Gesetzgeber allein dadurch, dass er den zeitlichen oder räumlichen
Zusammenhang eines zum Ausschluss führenden Verstoßes gegen die Grund-
sätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit mit bestimmten politischen
Systemen nicht in § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG übernommen hat, abweichend von
dem gefestigten Begriffsverständnis einen allgemeinen - also auch die allge-
meine Kriminalität erfassenden - Unwürdigkeitstatbestand schaffen wollen, wä-
re angesichts des insoweit im sachlichen Kern unveränderten Wortlauts ein Hin-
weis in der Begründung zu erwarten und zu verlangen gewesen; dies ist nicht
geschehen.
Keine Rückschlüsse auf die Auslegung des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG erlaubt
auch die Streichung des § 5 Nr. 1 d BVFG in der bis zum 31. Dezember 1999
geltenden Fassung und die Neufassung unter Einfügung als § 5 Nr. 2 b BVFG.
Diese Änderungen stellten lediglich klar, dass es sich um einen Tatbestand
handelt, der nicht wie die Ausschlussgründe des § 5 Nr. 1 Buchst. a bis c BVFG
an die Unwürdigkeit, sondern wie § 5 Nr. 2 BVFG an das fehlende Kriegsfol-
genschicksal eines Antragstellers anknüpft; Annahme ist, dass eine Person, die
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eine Stellung im kommunistischen Herrschaftssystem inne hatte, die für dessen
Aufrechterhaltung als wichtig galt, nicht (mehr) den allgemeinen, gegen die
deutsche Minderheit gerichteten Maßnahmen unterlag (BTDrucks 14/1636
S. 175 f.).
2.5 Die vom Berufungsgericht im Anschluss an den Beklagten vertretene Aus-
legung findet auch keinen Niederschlag in den Allgemeinen Verwaltungsvor-
schriften zum Bundesvertriebenengesetz (BVFG-VwV) vom 19. November 2004
(GMBl 2004, 1059), die für den Verstoß gegen die anerkannten Grundsätze der
Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit Bezug auf das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Januar 1964 - BVerwG 8 C 60.62 -
(BVerwGE 19, 1) nehmen, um dann auszuführen (zu § 5 Nr. 3):
„Danach verstößt gegen die Grundsätze der Menschlich-
keit und Rechtsstaatlichkeit, wer sich als Denunziant oder
Spitzel betätigt, Menschen ihrer Gesinnung wegen in
strafrechtlich zu ahndender Weise verfolgt oder an ihrer
Verfolgung mitwirkt oder einen anderen an der Ausübung
seiner politischen Rechte gewaltsam oder aus moralisch
verwerflicher Gesinnung hindert (BVerwG vom 23.9.1957
- 5 B 488.56).“
Auch die Erläuterung zu Nr. 2 (s. BVFG-VwV zu § 5 Nr. 5) „Wurde im Her-
kunftsgebiet wegen eines Delikts bereits eine Strafe verbüßt, ist dieses Delikt
nicht mehr zu berücksichtigen“, in der nicht auf Nr. 1 Buchst. b verwiesen wird,
spricht gegen eine Rechtsansicht, nach der eine isolierte schwere Straftat der
allgemeinen Kriminalität den Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 1 Buchst. b
BVFG auszufüllen geeignet ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt.
Dr. Säcker Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Recht der Vertriebenen
Fachpresse:
ja
Rechtsquelle:
BVFG § 5 Nr. 1 Buchst. b
Stichworte:
Menschlichkeit, Grundsätze der -; Rechtsstaatlichkeit, Grundsätze der -;
Straftat, schwere - der allgemeinen Kriminalität; Unwürdigkeit, vertriebenen-
rechtliche -; Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Verstoß gegen Grundsätze
der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit.
Leitsatz:
Ein Verstoß gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlich-
keit“ im Sinne des § 5 Nr. 1 Buchst. b BVFG liegt unabhängig von der Schwere
der Straftat nicht schon bei einem der allgemeinen Kriminalität zuzurechnenden
Verhalten eines Einzelnen vor, durch das ein Rechtsgut eines einzelnen Dritten
verletzt wird.
Urteil des 5. Senats vom 27. März 2006 - BVerwG 5 C 30.05
I. VG Würzburg vom 14.01.2002 - Az.: VG W 8 K 01.856 -
II. VGH München vom 28.07.2005 - Az.: VGH 19 B 02.531 -