Urteil des BVerwG vom 21.10.2004

Jugendhilfe, Sozialleistung, Pflegeeltern, Reduktion

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 30.03
Verkündet
OVG 12 A 10627/03
am 21. Oktober 2004
Schmidt
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. Oktober 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwal-
tungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 2003 wird zurück-
gewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Ge-
richtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin bezog im Jahre 2001 für ihre in ihrem Haushalt lebende, 1988 geborene
Enkelin Kindergeld (monatlich 270 DM). Ferner erhielt sie vom Landkreis T. Pflege-
geld nach § 39 SGB VIII, das sich aus 729 DM für die materiellen Leistungen für das
Kind und 360 DM als pauschalierte Kosten der Erziehung zusammensetzte; auf die-
se Leistung wurde nach § 39 Abs. 6 SGB VIII das Kindergeld zur Hälfte angerechnet.
Außerdem wurde der Klägerin von der Beklagten aufgrund geänderter Bescheide
vom 7. März, 5. April und 6. Juli 2001 für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember
2001 ergänzende laufende Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt; dabei rechnete die
Beklagte das Kindergeld in voller Höhe an.
Im Widerspruchs- und Klageverfahren ist die Klägerin mit ihrem Begehren, ergän-
zende Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Vollanrechnung des Kindergeldes zu erhal-
ten, erfolglos gewesen. Das Oberverwaltungsgericht hat ihrer Klage dagegen statt-
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gegeben und die Beklagte für die Zeit von Januar bis Dezember 2001 zur Zahlung
weiterer Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von insgesamt 828,29 € (entspricht mo-
natlich 135 DM) verpflichtet. Dies ist wie folgt begründet:
Die Klägerin sei Kindergeldberechtigte im Sinne von § 31 EStG. Anhaltspunkte dafür,
dass sie das Kindergeld an ihre Enkelin weitergegeben habe, seien nicht ersichtlich,
da sie zur Sicherstellung ihres eigenen sozialhilferechtlichen Bedarfs auf das
Kindergeld selbst angewiesen sei. § 39 Abs. 6 SGB VIII sei (jedoch) eine von einem
tatsächlichen Zuwendungsakt und einer sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit der Pfle-
geperson unabhängige Fiktion der anteiligen Zuwendung des Kindergeldes an das
Pflegekind bzw. den in Pflege befindlichen Jugendlichen durch die Pflegeper-
son/Pflegeeltern. Die Anrechnung trage dem Grundsatz Rechnung, dass die Ju-
gendhilfe nachrangig sei, d.h. staatliche Doppelleistungen für denselben Bedarf ver-
mieden werden sollten. Es ergäbe sich deshalb ein Wertungswiderspruch zwischen
dem Einkommensbegriff des § 76 Abs. 1 BSHG und der nach § 39 Abs. 6 SGB VIII
zwingend vorgeschriebenen anteiligen Kindergeldanrechnung, wenn bei der Berech-
nung des sozialhilferechtlichen Bedarfs der Pflegeperson das Kindergeld in voller
Höhe als Einkommen berücksichtigt würde. Die Lösung des Problems einer fakti-
schen "Doppelanrechnung" des Kindergeldes sei nicht im Bereich der Kinder- und
Jugendhilfe zu suchen; eine teleologische Reduktion des § 39 Abs. 6 SGB VIII da-
hingehend, dass die Vorschrift nicht anwendbar sei, wenn die kindergeldberechtigte
Pflegeperson laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalte und das Kindergeld zur
Deckung ihres eigenen Bedarfs benötige, sei nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie
Entstehungsgeschichte der Vorschrift nicht zulässig und würde in der Praxis dazu
führen, dass das Jugendamt während der Dauer der Leistungsgewährung nach § 39
SGB VIII stets die finanzielle Situation der Pflegeperson/Pflegeeltern im Auge behal-
ten müsste, um im Falle ihrer Sozialhilfebedürftigkeit von einer Anwendung des § 39
Abs. 6 SGB VIII abzusehen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung von
§ 39 SGB VIII.
Die Klägerin und der Vertreter des Bundesinteresses verteidigen das Berufungsurteil.
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II.
Die Revision ist unbegründet, so dass sie zurückzuweisen ist (§ 144 Abs. 2 VwGO).
Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung der Klägerin gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts im Einklang mit dem Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO) stattgegeben, weil das von der Klägerin bezogene Kindergeld auf ihren An-
spruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nicht in voller Höhe, sondern nur
zur Hälfte anzurechnen ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist Kindergeld Einkommen im Sinne
von §§ 76 ff. BSHG und als zweckgleiche Leistung im Sinne von § 77 Abs. 1 BSHG
auf einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG
anzurechnen (vgl. BVerwGE 94, 326 <328 f.> m.w.N.; 114, 339 <340 f.>). Durch Ur-
teil vom 17. Dezember 2003 - BVerwG 5 C 25.02 - (NJW 2004, 2541) hat der Senat
klargestellt, dass das Kindergeld sozialhilferechtlich Einkommen dessen ist, an den
es ausgezahlt wird. Darum kann auf Kindergeld zugegriffen werden, indem es auf
einen Sozialhilfeanspruch des Kindergeldbeziehers - im vorliegenden Fall der Kläge-
rin - angerechnet wird. Darüber besteht unter den Verfahrensbeteiligten auch kein
Streit.
Für den Umfang, in dem nach § 11 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit §§ 76 ff. BSHG
Kindergeld als Einkommen des Kindergeldbeziehers angerechnet werden kann, ist
zu berücksichtigen, dass § 39 Abs. 6 SGB VIII bereits eine hälftige Anrechnung von
Kindergeld auf die laufenden Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Ju-
gendlichen anordnet; soweit das Kindergeld hiernach auf einen jugendhilferechtli-
chen Bedarf anzurechnen ist, kann es sozialhilferechtlich nicht als Einkommen ange-
rechnet werden. Es ist nicht der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu folgen, wo-
nach die Teilanrechnung des Kindergeldes auf die Jugendhilfeleistung gemäß § 39
Abs. 6 SGB VIII sozialhilferechtlich außer Betracht zu lassen ist, weil die Frage der
Teilanrechnung im Verhältnis des Trägers der Kinder- und Jugendhilfe und der Klä-
gerin zu klären sei; vielmehr ist dem Oberverwaltungsgericht beizupflichten, dass zur
Vermeidung einer unstatthaften Doppelanrechnung des Kindergeldes eine teleologi-
sche Reduktion des § 39 Abs. 6 SGB VIII mit der Folge, die Vorschrift nicht anzu-
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wenden, wenn der Bezieher des Kindergeldes hierauf für seinen eigenen notwendi-
gen Lebensunterhalt angewiesen ist, nicht zulässig ist.
Beide Vorinstanzen gehen - im Ansatz zutreffend - davon aus, dass eine Mehrfach-
anrechnung des Kindergeldes (bzw. eines Teiles davon) sowohl auf die Hilfe zum
Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz als auch auf das Pflegegeld
nach § 39 SGB VIII auszuscheiden hat. Der Ausschluss einer "Doppelanrechnung"
von Einkommen, wie er z.B. in der Regelung des § 87 Abs. 1 BSHG ausdrücklich
angeordnet ist, entspricht auch schon bisheriger Rechtsprechung des Senats, wo-
nach beim Zusammentreffen von Anrechnungsregelungen, die dieselbe Sozialleis-
tung betreffen, diese Leistung mit einer anderen Sozialleistung nur insoweit verrech-
net werden darf, als sie noch nicht aufgrund einer der beiden Anrechnungsregelun-
gen "verbraucht" ist (vgl. BVerwGE 118, 297 zur Anrechnung von Pflegegeld nach
dem Elften Buch Sozialgesetzbuch auf Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz
auf der Grundlage von § 69c Abs. 2 Satz 2 BSHG einerseits und § 69c Abs. 4 Satz 2
Halbsatz 2 BSHG andererseits). Allerdings begründet das Gesetz für die Anrechnung
von Pflegegeld nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch ausdrücklich einen
Anrechnungsvorrang (vgl. § 69c Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 BSHG: "vorrangig …
anzurechnen"); eine solche Bestimmung ist in § 39 Abs. 6 SGB VIII nicht getroffen.
Der Vorrang der in § 39 Abs. 6 SGB VIII angeordneten Anrechnung gegenüber ei-
nem Einkommenseinsatz nach § 11 Abs. 1 Satz 1, §§ 76 ff. BSHG folgt jedoch dar-
aus, dass § 39 Abs. 6 SGB VIII die speziellere Regelung darstellt. Was aufgrund
dieser Vorschrift angerechnet wird, steht darum für eine Anrechnung aufgrund von
§ 11 Abs. 1 Satz 1, §§ 76 ff. BSHG nicht zur Verfügung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit be-
ruht auf § 188 Satz 2 VwGO.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Sozialhilferecht
Fachpresse:
ja
Jugendhilferecht
Rechtsquellen:
BSHG
§ 11 Abs. 1 Satz 1, §§ 76 ff.
SGB VIII § 39 Abs. 6
Stichworte:
Anrechnung von Kindergeld auf Jugendhilfeleistungen;
Kindergeld, Anrechnung auf Jugendhilfeleistungen;
Jugendhilfe, Anrechnung von Kindergeld;
Sozialhilfe, Anrechnung von Kindergeld;
Pflegegeld nach SGB VIII, Anrechnung von Kindergeld;
Pflegeperson, Kindergeld als Einkommen der -.
Leitsatz:
Kindergeld, das auf einen Jugendhilfebedarf anzurechnen ist, kann sozialhilferecht-
lich nicht als Einkommen des Kindergeldbeziehers angerechnet werden.
Urteil des 5. Senats vom 21. Oktober 2004 - BVerwG 5 C 30.03
I. VG Trier vom 31.10.2002 - Az.: VG 6 K 2/02.TR -
II. OVG Koblenz vom 24.06.2003 - Az.: OVG 12 A 10627.03 -