Urteil des BVerwG vom 19.10.2011

Genfer Flüchtlingskonvention, Geburt, Aufschiebende Wirkung, Erwerb

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 28.10
VGH 11 S 1580/10
Verkündet
am 19. Oktober 2011
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2011
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler und
Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 21. Oktober
2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die am 20. Dezember 2008 als Tochter türkischer Staatsangehöriger geborene
Klägerin begehrt die Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises.
Der Vater der Klägerin reiste Ende März 1995 in das Bundesgebiet ein und
führte ohne Erfolg ein Asylverfahren durch. Nach dessen rechtskräftigem Ab-
schluss stellte er am 14. Mai 1998 einen Asylfolgeantrag. Mit Bescheid vom
2. Juli 1998 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flücht-
linge mangels Vorliegens von Wiederaufgreifensgründen die Durchführung ei-
nes weiteren Asylverfahrens ab und drohte dem Vater der Klägerin die Ab-
schiebung in die Türkei an. Mit Beschluss vom 28. Dezember 1999 ordnete das
Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschie-
bungsandrohung an. Durch Urteil vom 26. April 2002 verpflichtete es die Bun-
desrepublik Deutschland, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
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AuslG bezüglich der Türkei festzustellen. Dieser Verpflichtung kam das Bun-
desamt mit Bescheid vom 2. Juli 2002 nach.
Der Aufenthalt des Vaters der Klägerin wurde seit dem rechtskräftigen Ab-
schluss des ersten Asylverfahrens bis zum 7. Juli 2002 geduldet. Ab dem 8. Juli
2002 war der Aufenthalt ununterbrochen durch eine mehrfach verlängerte Auf-
enthaltsbefugnis gedeckt, galt fiktiv als erlaubt oder konnte auf eine befristete
Aufenthaltserlaubnis gestützt werden. Am 23. April 2008 erhielt der Vater der
Klägerin eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Die Mutter der Klägerin,
deren Asylverfahren erfolglos geblieben ist, besaß im Zeitpunkt der Geburt der
Klägerin kein unbefristetes Aufenthaltsrecht.
Mit Bescheid vom 30. April 2009 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin
auf Feststellung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt
und Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises ab. Zwar habe ihr Vater
im Zeitpunkt ihrer Geburt ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besessen, jedoch
nicht - wie von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG verlangt - seit mindestens acht
Jahren seinen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland gehabt. Die Zeit des nur ge-
duldeten Aufenthalts im Asylfolgeverfahren könne insoweit trotz seines erfolg-
reichen Ausgangs nicht in Ansatz gebracht werden.
Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Verwaltungsge-
richt die Beklagte verpflichtet, der Klägerin einen Staatsangehörigkeitsausweis
auszustellen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die hiergegen gerichtete Berufung
der Beklagten zurückgewiesen. Bei dem Erwerb der Staatsangehörigkeit durch
Geburt nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG sei die Bestimmung des § 55 Abs. 3
AsylVfG über die Anrechnung von Zeiten der Aufenthaltsgestattung heranzu-
ziehen. In Anwendung dieser Vorschrift sei der geduldete Aufenthalt im Asylfol-
geverfahren jedenfalls ab der stattgebenden gerichtlichen Entscheidung im Ver-
fahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzurechnen. Das Verwaltungsgericht
habe darin ausdrücklich festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Durch-
führung eines weiteren Asylverfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorlägen.
Dadurch fehle es an einem sachlichen Grund für eine Benachteiligung des An-
tragstellers im Asylfolgeverfahren gegenüber einem Erstantragsteller.
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Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
Sie rügt eine Verletzung des § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG i.V.m. § 55 Abs. 3, Abs. 1
AsylVfG.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht
zwar auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit
der Verwaltungsgerichtshof nach § 55 Abs. 3 AsylVfG die Zeit des nur gedulde-
ten Aufenthalts im Asylfolgeverfahren ab dem Eilbeschluss des Verwaltungsge-
richts als rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG
angerechnet hat. In entsprechender Anwendung des § 55 Abs. 3 AsylVfG ist
vielmehr die gesamte Aufenthaltszeit ab der Stellung des Asylfolgeantrages in
Ansatz zu bringen. Damit erweist sich die Entscheidung des Verwaltungsge-
richtshofs im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Die Klägerin hat gemäß § 30 Abs. 3 Satz 1 StAG in der hier anzuwendenden
Fassung vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) gegenüber der Beklagten einen
Anspruch auf Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises. Sie hat nach
§ 4 Abs. 3 Satz 1 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Danach
erwirbt ein Kind ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit durch
Geburt im Inland, wenn ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig seinen ge-
wöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht be-
sitzt. Die am 20. Dezember 2008 geborene Klägerin erfüllt diese Voraussetzun-
gen. Ihr Vater war bei ihrer Geburt im Besitz einer unbefristeten Niederlas-
sungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Er hatte zu diesem Zeitpunkt seit
acht Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (1.). Dieser Aufenthalt
war auch rechtmäßig (2.).
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1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. etwa Urteil
vom 18. November 2004 - BVerwG 1 C 31.03 - BVerwGE 122, 199 <202 f.> =
Buchholz 130 § 4 StAG Nr. 10 sowie Beschluss vom 25. November 2004
- BVerwG 1 B 24.04 - Buchholz 130 § 4 StAG Nr. 9 jeweils m.w.N.) hat ein aus-
ländischer Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland im Sinne des § 4
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG, wenn er sich hier unter Umständen aufhält, die er-
kennen lassen, dass er in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur vorüber-
gehend verweilt, sondern auf unabsehbare Zeit hier lebt, sodass die Beendi-
gung des Aufenthalts ungewiss ist. Hierbei sind vor allem die Vorstellungen und
Möglichkeiten des Ausländers von Bedeutung. Die Begründung eines gewöhn-
lichen Aufenthalts erfordert keine förmliche Zustimmung der Ausländerbehörde.
Ebenso wenig ist erforderlich, dass der Aufenthalt mit Willen der Ausländerbe-
hörde auf grundsätzlich unbeschränkte Zeit angelegt ist und sich zu einer vor-
aussichtlich dauernden Niederlassung verfestigt hat. Ein zeitlich befristeter Auf-
enthaltstitel schließt daher die Begründung und Beibehaltung eines gewöhnli-
chen Aufenthalts nicht aus. Selbst wiederholt erteilte Duldungen, die als zeit-
weise bzw. vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers
(vgl. § 55 Abs. 1 AuslG 1990 sowie § 60a AufenthG) kein Recht zum Aufenthalt
verleihen, hindern die Begründung und Beibehaltung eines gewöhnlichen Auf-
enthalts im Bundesgebiet nicht.
Nach diesen rechtlichen Vorgaben ist der Verwaltungsgerichtshof im Ergebnis
zutreffend davon ausgegangen, dass der Vater der Klägerin in den acht Jahren
vor ihrer Geburt seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte. Dem steht
- was zwischen den Beteiligten allein streitig ist - insbesondere nicht der Um-
stand entgegen, dass sein Aufenthalt während des Asylfolgeverfahrens nur ge-
duldet war. Ein Aufenthaltstitel (im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, davor
im Sinne des § 5 Abs. 1 AuslG 1990) oder zumindest eine asylverfahrensrecht-
liche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG ist für die Begründung
oder Beibehaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 4 Abs. 3
Satz 1 Nr. 1 StAG nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, dass der Ausländer
- wie der Vater der Klägerin - erkennbar auf Dauer in Deutschland bleiben will
und die Ausländerbehörde - wie hier - unbeschadet ihrer rechtlichen Möglichkei-
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ten über längere Zeit davon Abstand nimmt, den Aufenthalt des Ausländers im
Bundesgebiet zwangsweise zu beenden.
2. Ein ausländischer Elternteil hat nach der Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts (s. etwa Urteil vom 18. November 2004 a.a.O. S. 203) im Sinne
des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG rechtmäßig seinen Aufenthalt im Inland, wenn
sein Aufenthalt genehmigungsfrei ist oder im Fall der Genehmigungspflicht ins-
besondere auf einem erteilten Aufenthaltstitel oder einer gesetzlichen Erlaubnis
beruht oder kraft Gesetzes fiktiv erlaubt ist. Abgesehen davon ist bei der Be-
rechnung der erforderlichen Zeit des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne der
staatsangehörigkeitsrechtlichen Vorschriften die Dauer des Aufenthalts eines
erfolgreichen Asylverfahrens im Falle einer asylverfahrensrechtlichen Aufent-
haltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG in unmittelbarer Anwendung des § 55
Abs. 3 AsylVfG und ohne eine solche in entsprechender Anwendung dieser
Vorschrift in Ansatz zu bringen (2.1). Dies gilt auch, wenn - wie hier - ein Ab-
schiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) festge-
stellt wurde (2.2). Bei einem erfolgreich abgeschlossenen Asylfolgeverfahren ist
die gesamte Aufenthaltszeit des Verfahrens ab der Stellung des Asylfolgeantra-
ges nachträglich als rechtmäßige Aufenthaltszeit anzurechnen (2.3).
2.1 Die Zeit des Aufenthalts eines Asylfolgeverfahrens ist zumindest dann nicht
nach § 55 Abs. 1 AsylVfG gestattet, wenn das Bundesamt - wie hier - den Asyl-
folgeantrag mit der Begründung abgelehnt hat, dass die Voraussetzungen des
§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen (vgl. BTDrucks 12/2062 S. 37 und
BTDrucks 12/4450 S. 27). In einem derartigen Fall ist die Anrechnungsregelung
des § 55 Abs. 3 AsylVfG entsprechend anwendbar, wenn der Asylfolgeantrag
im gerichtlichen Verfahren Erfolg hat (vgl. so der Sache nach in Bezug auf ein
erfolgloses Asylfolgeverfahren Urteil vom 29. März 2007 - BVerwG 5 C 8.06 -
BVerwGE 128, 254 = Buchholz 130 § 4 StAG Nr. 12 jeweils Rn. 10).
Weder das Staatsangehörigkeitsgesetz noch das Asylverfahrensgesetz enthal-
ten eine ausdrückliche Regelung, ob und wie die Zeit des Aufenthalts während
des Asylfolgeverfahrens auf die für den Erwerb der Staatsangehörigkeit erfor-
derliche Zeit eines rechtmäßigen Inlandsaufenthalts anzurechnen ist, wenn erst
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das Gericht im verwaltungsgerichtlichen Verfahren das Vorliegen der Voraus-
setzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG und einen Anspruch auf Anerkennung
als Asylberechtigter oder Flüchtling bejaht.
Insoweit besteht eine Regelungslücke. Das Fehlen einer Regelung für die von
§ 55 Abs. 3 AsylVfG nicht unmittelbar erfassten Fälle des Aufenthalts ohne Auf-
enthaltsgestattung kann nicht als negative Entscheidung des Gesetzgebers
verstanden werden. Dafür spricht schon, dass der Gesetzgeber sowohl für die
Fälle eines erfolgreichen Ausgangs des ersten Asylverfahrens als auch für die
Fälle der Zweitanträge im Sinne des § 71a AsylVfG eine Anrechnungsregelung
vorgesehen hat. Für erstere ordnet § 55 Abs. 3 AsylVfG eine Anrechnung der
Aufenthaltszeiten an. Für letztere erklärt § 71a Abs. 3 Satz 2 AsylVfG nur die
§§ 56 bis 67 AsylVfG für entsprechend anwendbar. Darüber hinaus kann allein
aus dem Unterlassen einer Anrechnungsregelung im Asylverfahrensgesetz für
Aufenthaltszeiten eines erfolgreichen Asylfolgeverfahrens nicht auf die Absicht
des Gesetzgebers geschlossen werden, deren Anrechnung im Staatsangehö-
rigkeitsrecht zu verbieten. Es liegt daher nahe, jedenfalls im Staatsangehörig-
keitsrecht § 55 Abs. 3 AsylVfG stets entsprechend anzuwenden, wenn der Fol-
geantrag zum Erfolg geführt hat (vgl. ähnlich Wolff, in: HK-AuslR, 1. Aufl. 2008,
§ 55 AsylVfG Rn. 10 und Müller, a.a.O., § 71 AsylVfG Rn. 45).
Der Fall des erfolgreichen Asylfolgeverfahrens ist auch mit dem des erfolgrei-
chen Asylverfahrens vergleichbar. Die pauschale Anrechnung der im (ersten)
Asylverfahren verbrachten Aufenthaltszeit nach § 55 Abs. 3 AsylVfG findet ihre
Rechtfertigung allein in der unanfechtbaren Anerkennung des Ausländers als
Asylberechtigter bzw. der unanfechtbaren Zuerkennung der Flüchtlingseigen-
schaft. Asylbewerbern, deren Asylantrag positiv beschieden wurde, soll die Ein-
gliederung in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der
Bundesrepublik erleichtert werden. Daher sollen sie sich auf die als Asylsu-
chende im Bundesgebiet verbrachte Zeit berufen können, wenn Rechte oder
Vergünstigungen von der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet abhängen
(Urteil vom 29. März 2007 a.a.O. jeweils Rn. 11 unter Hinweis auf BTDrucks
9/875 S. 21 und BTDrucks 12/2062 S. 37). In Übereinstimmung damit ist die
Anrechnungsregelung auch beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit
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durch Geburt heranzuziehen. Aus dem als rechtmäßig geltenden Aufenthalt von
mindestens acht Jahren kann auf die gelungene Integration des maßgeblichen
Elternteils geschlossen werden, welche es rechtfertigt, seinem im Bundesgebiet
geborenen Kind die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem ius soli kraft Ge-
setzes zu verleihen. Diese Gründe, die für eine pauschale Anrechnung der Auf-
enthaltszeit nach erfolgreichem Ausgang des ersten Asylverfahrens sprechen,
gelten bei einem erfolgreichen Asylfolgeverfahren in gleicher Weise. Denn der
im Asylfolgeverfahren erfolgreiche Antragsteller erwirbt mit der Anerkennung als
Asylberechtigter bzw. der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die gleiche
Rechtsposition wie ein erfolgreicher Erstantragsteller.
Die entsprechende Anwendung der Anrechnungsregelung des § 55 Abs. 3
AsylVfG entspricht auch dem Wohlwollensgebot des Art. 34 des Abkommens
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - vom
28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 560), das den Vertragsstaaten aufgibt, die Ein-
gliederung und Einbürgerung von Konventionsflüchtlingen soweit wie möglich
zu erleichtern und zu beschleunigen.
2.2 Die entsprechende Anwendung des § 55 Abs. 3 AsylVfG ist nicht deshalb
ausgeschlossen, weil die Flüchtlingseigenschaft - wie hier - in einem bereits vor
dem 1. Januar 2005 beendeten Asylfolgeverfahren zuerkannt wurde. Die Ein-
beziehung anerkannter Flüchtlinge in den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 3
AsylVfG dient dazu, die aufenthaltsrechtliche Situation der Flüchtlinge nach der
Genfer Flüchtlingskonvention derjenigen von Asylberechtigten anzugleichen
sowie die nach der bisherigen Rechtslage bestehende Ungerechtigkeit, dass
die unterschiedliche Dauer des Asylverfahrens zu Lasten der Konventions-
flüchtlinge ging, zu beseitigen (vgl. BTDrucks 15/420 S. 111). Das Bedürfnis
nach einer Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Situation besteht indessen
unabhängig von dem Zeitpunkt, zu dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt
wurde. Mangels einer ausdrücklichen Übergangsregelung ist davon auszuge-
hen, dass der Gesetzgeber diese Vergünstigung ab dem Inkrafttreten der Vor-
schrift am 1. Januar 2005 auch früher anerkannten Konventionsflüchtlingen ge-
währen wollte.
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2.3 Maßgeblicher Beginn für die Anrechnung der asylverfahrensabhängigen
Aufenthaltszeit nach § 55 Abs. 3 AsylVfG ist bei einem erfolgreichen Asylfolge-
verfahren die Stellung des Asylfolgeantrags, obwohl damit zwangsläufig auch
ein Zeitraum erfasst wird, in dem nach Maßgabe des § 71 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG noch kein Asylverfahren durchgeführt wird. Dies entspricht dem be-
wusst pauschalierenden Regelungskonzept des Gesetzgebers. § 55 Abs. 3
AsylVfG gewährt beim erfolgreichen Ausgang des ersten Asylverfahrens eine
vollständige Anrechnung der Zeit, in der eine gesetzliche Aufenthaltsgestattung
nach § 55 Abs. 1 AsylVfG bestanden hat. Anrechnungsbeginn ist damit das Da-
tum, an dem der Ausländer um Asyl nachsucht (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG)
bzw. - im Fall der unerlaubten Einreise aus einem sicheren Drittstaat - einen
Asylantrag stellt (§ 55 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG). Die in der Anrechnung liegende
Begünstigung unterscheidet nicht nach dem Zeitpunkt, in dem der Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigter oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
begründet war oder festgestellt wurde. Es ist daher unschädlich, wenn die an-
spruchsbegründenden Umstände erst im Laufe des Verfahrens entstehen. We-
gen der identischen Rechtsposition besteht kein Grund, den erfolgreichen Asyl-
folgeantragsteller anders zu behandeln.
Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylfolgeantrages trägt auch
dem zwingenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rech-
nung, dem im Staatsangehörigkeitsrecht besondere Bedeutung zukommt. An-
gesichts der Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage
gleichberechtigter Zugehörigkeit muss sich ohne weitere Nachforschungen und
Entscheidungen eindeutig feststellen lassen, ob die Voraussetzungen für einen
Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes vorliegen.
In Anwendung dieses Maßstabes ist bei der Berechnung der erforderlichen
rechtmäßigen Voraufenthaltszeit des Vaters der Klägerin zu der rechtmäßigen
- weil fortlaufend auf einem Aufenthaltstitel oder einer gesetzlichen Erlaubnisfik-
tion nach § 81 Abs. 4 AufenthG beruhenden - Aufenthaltszeit ab dem 8. Juli
2002 bis zum 20. Dezember 2008 die Zeit ab der Stellung des erfolgreichen
Asylfolgeantrages am 14. Mai 1998 bis zum 7. Juli 2002 hinzuzurechnen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Hund
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Häußler
Dr. Fleuß
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 10 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 1 und 2 GKG, doppelter Auffang-
wert, vgl. Streitwertkatalog 2004 Ziff. 42.2, NVwZ 2004, 1327).
Hund
Stengelhofen
Dr. Störmer
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Staatsangehörigkeitsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
StAG
§ 4 Abs. 3 Satz 1, § 30 Abs. 3 Satz 1
AsylVfG
§ 55 Abs. 1 und 3
GG
Art. 3 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1
Stichworte:
Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt; Staatsangehörigkeitserwerb
durch Geburt im Inland; Geburtserwerb; ius soli; Kind ausländischer Eltern;
Aufenthalt; Aufenthaltszeit; Zeit des Aufenthalts; Voraufenthaltszeit; Inlandsauf-
enthalt; rechtmäßiger Aufenthalt; gewöhnlicher Aufenthalt; asylverfahrensab-
hängiger Aufenthalt; Aufenthalt mit Aufenthaltsgestattung; Aufenthalt ohne Auf-
enthaltsgestattung; gestatteter Aufenthalt; geduldeter Aufenthalt; Aufenthalts-
gestattung; Duldung; Kettenduldungen; Asylverfahren; Asylfolgeverfahren; Be-
rechnung von Aufenthaltszeiten; Anrechnung; Anrechnungsregelung; anre-
chenbarer Zeitraum.
Leitsatz:
Bei einem erfolgreich abgeschlossenen Asylfolgeverfahren ist die gesamte Auf-
enthaltszeit des Verfahrens ab der Stellung des Asylfolgeantrages als rechtmä-
ßiger Aufenthalt im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG anzurechnen.
Urteil des 5. Senats vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 28.10
I. VG Karlsruhe vom 13.04.2010 - Az.: VG 11 K 1620/09 -
II. VGH Mannheim vom 21.10.2010 - Az.: VGH 11 S 1580/10 -