Urteil des BVerwG vom 02.10.2003

Sozialhilfe, Teleologische Auslegung, Anstalt, Aufenthalt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 24.02
OVG 2 L 55/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Oktober 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 24. April 2002
wird zurückgewiesen.
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Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I.
Die Beteiligten streiten um Kostenerstattung nach § 97 Abs. 5, § 103 Abs. 3 BSHG.
Die Klägerin fordert vom Beklagten Erstattung der an die Hilfeempfängerin Frau H.
erbrachten Sozialhilfeleistungen. Frau H., die zunächst im Bereich des Beklagten
gewohnt hatte, befand sich vom 23. Februar bis zum 9. April 1998 in der Justizvoll-
zugsanstalt L. in Haft. Während der Haft erhielt sie keine Leistungen der Sozialhilfe.
Nach der Haftentlassung zog sie in eine Übergangswohneinrichtung in L. und erhielt
dort von der Klägerin Sozialhilfeleistungen. Die Klägerin begehrt vom Beklagten Er-
satz ihrer in der Zeit vom 9. April 1998 bis zum 31. Juli 1999 geleisteten Aufwendun-
gen in Höhe von 11 341,75 Euro (= 22 182,53 DM). Der Beklagte lehnte Kostener-
stattung mit der Begründung ab, dass Frau H. in der Strafvollzugseinrichtung keine
Sozialhilfe bezogen habe.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, eine Kos-
tenerstattung nach § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG setze voraus, dass bereits in der Ein-
richtung Hilfe benötigt worden sei. Das Oberverwaltungsgericht hingegen hat der
Klage unter entsprechender Änderung des erstinstanzlichen Urteils stattgegeben und
den Beklagten zur Erstattung von Sozialhilfeleistungen in Höhe von 11 341,75 Euro
verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
In der Frage, ob Hilfeempfänger i.S. des § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG nur sei, wer be-
reits in der Einrichtung Hilfe erhalten habe, fehle es an einer Eindeutigkeit des Ge-
setzeswortlauts im einen wie im anderen Sinne. Zwar sei nach allgemeinem Sprach-
gebrauch "Hilfeempfänger" nur, wer bereits Hilfe empfange. Von diesem allgemeinen
Sprachverständnis habe sich das Bundessozialhilfegesetz jedoch entfernt. Etwa in
der Zuständigkeitsregelung des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG werde vom "Hilfeempfän-
ger" gesprochen, während diese Regelung nach einhelliger Meinung auch für Hilfe-
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suchende gelte, die erstmals für ihren Aufenthalt in einer Einrichtung der Sozialhilfe
bedürften. Der Wortlaut des § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG sei auch nicht deshalb ein-
deutig, weil die Vorschrift auf die "Fälle des § 97 Abs. 2 BSHG" verweise, dessen
Satz 1 von "Hilfe in einer Anstalt" spreche. § 97 BSHG bestimme allein die örtliche
Zuständigkeit der Träger der Sozialhilfe und sei nicht nur einschlägig, wenn Hilfe ge-
währt werde, sondern ebenso für die Frage, an welchen Träger der Sozialhilfe ein
Hilfesuchender sich wenden könne und wer über ein Hilfegesuch zu entscheiden
habe; ein Fall des § 97 Abs. 2 BSHG könne daher auch dann vorliegen, wenn in der
Einrichtung keine Hilfe geleistet worden sei. Auch eine systematische Betrachtung
lasse keinen eindeutigen Regelungsgehalt erkennen. Aufgrund der entsprechenden
innerhalb der Einrichtung typischerweise keine Sozialhilfe geleistet werde. Es bliebe
jedoch fraglich, ob es mit Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbar sei, die Kostener-
stattung - soweit es um Vollzugsanstalten gehe - auf Ausnahmefälle zu beschränken.
Zwar spreche die Gesetzesbegründung für diese Auslegung, dagegen jedoch eine
objektiv-teleologische Auslegung. Der Schutz der Anstaltsorte, der ausweislich der
Gesetzesbegründung im Wesentlichen erhalten bleiben sollte, werde jedenfalls für
einen Zeitraum von zwei Jahren mit Hilfe der Kostenerstattungsregelung des § 103
BSHG erreicht. Dies werde von der Überlegung getragen, dass dann, wenn der
Hilfeempfänger nicht zum früheren Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehre,
die Aufenthaltnahme am Anstaltsort wahrscheinlicher sei als ein Verziehen in be-
liebige andere Orte; das Risiko der Kostenverteilung treffe nicht alle örtlichen Sozial-
hilfeträger gleichermaßen, sondern Anstaltsorte vergleichsweise stärker. Gerade die
Einbeziehung der Strafvollzugsfälle spreche dafür, dass eine Kostenerstattungspflicht
nicht von der Hilfegewährung in der Anstalt abhänge. Dadurch werde eine klare
Abgrenzung erreicht und der Tatbestand nicht mit der zusätzlichen Frage befrachtet,
ob eine Kostenerstattung bereits dann vorzunehmen sei, wenn nur sporadisch Hilfe
in der Anstalt gewährt worden sei.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 103 Abs. 3 Satz 1
BSHG. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Die Beteiligten sind mit einer
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
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II.
Die Revision des Beklagten ist unbegründet, so dass sie zurückzuweisen ist (§ 144
Abs. 2 VwGO).
Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Er-
stattung der für die Hilfeempfängerin Frau H. aufgewendeten Sozialhilfekosten nach
§ 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG ohne Verstoß gegen Bundesrecht mit der Begründung
bejaht, diese Bestimmung setze entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts
einen Bezug von Sozialhilfe bereits während des Aufenthaltes in der Einrichtung
nicht voraus.
Die Frage, ob der kraft der Verweisung in § 97 Abs. 5 BSHG für Hilfen an Personen,
die sich in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung
aufhalten oder aufgehalten haben, entsprechend geltende Kostenerstattungsan-
spruch aus § 103 Abs. 3 BSHG voraussetzt, dass "der Hilfeempfänger" schon wäh-
rend des Einrichtungsaufenthalts Sozialhilfe bezogen hat, ist in Rechtsprechung,
Spruchpraxis und Literatur umstritten (bejahend VGH München, Urteile vom 14. März
- 12 B 01.2150 - und 10. April 2002 - 12 B 00.2245 -
des zeitgleich mit dem vorliegenden Verfahren entschiedenen Revisionsverfahrens
5 C 20.02>; VG Regensburg, Urteil vom 12. Juli 2001 - RO 8 K 99.152 -; VG Mainz,
Urteil vom 25. Januar 2001 - 1 K 1222/99.MZ -; Spruchstelle München, Beschluss
vom 13. Mai 1997 - NR 39/95 -; W. Schellhorn/ H. Schellhorn, BSGH, 16. Aufl. 2002,
§ 103 Rn. 35, 37; Eichhorn/Fergen, BSHG, 4. Aufl. 1998, S. 1450; Zeitler, NDV 1994,
S. 173, 179 und NDV 1998, S. 104, 107; wie die Vorinstanz: VG Berlin, Urteile vom
22. April 1999 - VG 6 A 326.96 – und vom 14. November 2000 - VG 18 A 294.97 -;
Zentrale Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten, Entscheidung vom 10. Mai 2001
- B 76/99 -, EuG Bd. 56 <2002>, S. 135 <141>; Spruchstelle Münster, Entscheidung
vom 6. Dezember 1996 - Nr. 6/96 -, EuG Bd. 52 <1999>, S. 129 ff.; Spruchstelle
Goslar, Entscheidung vom 29. Oktober 1997 - Nr. 84/96 -, EuG Bd. 53 <2000>,
S. 392 ff.; Bräutigam in: Fichtner, BSHG, 2. Aufl. 2003, § 103 Rn. 21 ff.; Schoch in:
LPK, BSHG, 6. Aufl. 2003, § 103 Rn. 41; Mergler/ Zink, BSHG, 4. Aufl., Stand: Mai
2003, § 103 Rn. 52). Die Gesetzesauslegung, welche den Bezug von Sozialhilfe
schon in der Einrichtung für notwendig hält, stützt sich auf Gesetzeswortlaut und
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Gesetzesgeschichte; gegen diese Auslegung sprechen jedoch der Zusammenhang
des § 103 Abs. 1, § 97 Abs. 2 BSHG und überwiegende systematische
Gesichtspunkte im Gesamtzusammenhang der Kostenerstattungstatbestände des
Bundessozialhilfegesetzes. Hierzu hat der Senat in seinem Urteil vom heutigen Tage
im Verfahren 5 C 20.02 ausgeführt:
"Der Wortlaut des § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG in der seit dem 1. Januar 1994 gel-
tenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungs-
programms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) stellt im Gegensatz zur
Vorläuferbestimmung nicht mehr unspezifisch darauf ab, dass 'jemand' die Ein-
richtung verlässt (und innerhalb von zwei Wochen danach der Sozialhilfe bedarf),
sondern darauf, dass 'in den Fällen des § 97 Abs. 2 der Hilfeempfänger' die Ein-
richtung verlässt (und innerhalb von einem Monat danach der Sozialhilfe bedarf).
Mit der Bezugnahme auf die 'Fälle des § 97 Abs. 2' knüpft die Bestimmung an die
- ebenfalls durch das FKPG - anstelle der früheren Kostenerstattungspflicht neu
eingeführte Hilfezuständigkeit des Sozialhilfeträgers am Ort des gewöhnlichen
Aufenthalts für die Hilfe in der Einrichtung an und verbindet den bei Verlassen der
Einrichtung eintretenden Zuständigkeitswechsel mit einem Kostenerstattungsan-
spruch des zuständig werdenden Trägers. Der Umstand, dass die neu geschaffe-
ne Zuständigkeitsbestimmung in § 97 Abs. 2 BSHG als Bezugsnorm ebenso wie
§ 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG den Begriff des 'Hilfeempfängers' verwendet, legt die
Annahme nahe, dass dieser Begriff in beiden systematisch zusammenhängenden
Vorschriften gleich zu verstehen ist.
Nach allgemeinem Sprachverständnis ist Hilfeempfänger, wer Hilfe empfängt. Das
spricht dafür, im hier maßgeblichen Bereich des Sozialhilferechts (§§ 97, 103
BSHG) denjenigen als Hilfeempfänger zu verstehen, der Sozialhilfe empfängt. Lä-
ge dem § 97 Abs. 2, § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG dieses Sprachverständnis zugrun-
de, wäre der Empfang von Sozialhilfe in der Einrichtung Voraussetzung für die Hil-
fezuständigkeit des Trägers am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts wie für seine
Erstattungspflicht. Dem lässt sich für § 103 Absatz 3 Satz 1 BSHG nicht entge-
genhalten, dass in dieser Bestimmung das Wort 'Hilfeempfänger' zweimal er-
scheint, und zwar im zweiten Fall bezogen auf die nach Verlassen der Einrichtung
geleistete Sozialhilfe, welche den Gegenstand des Erstattungsanspruches bildet.
Der Umstand, dass die erste Verwendung des Begriffs 'Hilfeempfänger' sich auf
den Zeitpunkt des Verlassens der Einrichtung bezieht, spricht vielmehr dafür, dass
die Person schon in diesem Zeitpunkt Hilfeempfänger gewesen sein muss, und
zwar Empfänger von Hilfe in einer Einrichtung gemäß der in Bezug genommenen
Bestimmung des § 97 Abs. 2 BSHG, und dass es für den Erstattungsanspruch
nicht ausreicht, dass diese Person später Empfänger der Sozialhilfe geworden ist,
deren Erstattung begehrt wird.
Dieses primär aus der Wortbedeutung gewonnene Ergebnis wird jedoch dadurch
in Frage gestellt, dass die Bezeichnung als 'Hilfeempfänger' in der in Bezug ge-
nommenen Zuständigkeitsnorm des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG nicht eng dahin
verstanden werden darf, sie erfasse nur diejenigen, die Sozialhilfe bereits emp-
fangen; sie umfasst nämlich auch Hilfesuchende bzw. Hilfebedürftige, deren Be-
darf erst in der Anstalt entsteht, und setzt nicht voraus, dass die Betreffenden be-
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reits im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung Sozialhilfeempfänger waren.
Denn § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG regelt die Zuständigkeit für Sozialhilfe in einer An-
stalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung unabhängig davon, ob zuvor
Sozialhilfebedürftigkeit bestand. Dies spricht dafür, dass auch in § 103 Abs. 3
Satz 1 BSHG kein wörtliches, sondern ein weiteres Verständnis des Begriffs des
'Hilfeempfängers' erforderlich ist, das alle Anwendungsfälle des § 97 Abs. 2 BSHG
umfasst.
Allerdings ist bei der Auslegung auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber
mit der Neuregelung des Kostenerstattungsrechts generell das Ziel verfolgte, die
Kostenerstattungstatbestände einzuschränken (dazu Zeitler, NDV 1994, 173 ff.).
Durch die Neufassung des § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG in Verbindung mit der Be-
gründung der Leistungszuständigkeit des Sozialhilfeträgers am Ort des gewöhnli-
chen Aufenthalts sollte die Kostenerstattung bei Sozialhilfeleistungen in einer Ein-
richtung ganz vermieden und sollten die Voraussetzungen der - grundsätzlich er-
halten gebliebenen - Kostenerstattung nach Verlassen der Einrichtung neu gere-
gelt werden. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es hierzu (BTDrucks
12/4401, S. 84):
'Eine Kostenerstattung soll nur noch stattfinden
...
- nach § 103 Abs. 3 durch den zuständig bleibenden Träger des gewöhnlichen
Aufenthalts an den Träger des tatsächlichen Aufenthalts bei dessen Leistungs-
gewährung im Anschluss an eine Hilfe in einer Einrichtung, wenn die Hilfebe-
dürftigkeit am Ort der Einrichtung innerhalb von einem Monat entsteht; die Kos-
tenerstattung ist dann auf zwei Jahre begrenzt
...'.
Soweit dabei die Kostenerstattung auf die Leistungsgewährung 'im Anschluss an
eine Hilfe in einer Einrichtung' bezogen wird, lässt dies darauf schließen, dass
§ 103 Abs. 3 BSHG n.F. nach Auffassung des Gesetzentwurfsverfassers eine vo-
rausgegangene (Sozial-)Hilfe in einer Einrichtung voraussetze. Wie jedoch § 97
Abs. 2 BSHG als zuständigkeitsbegründende Norm nicht an einen bereits vorlie-
genden Sozialhilfebezug anknüpft, sondern nur an den gewöhnlichen Aufenthalt
im Zeitpunkt der Aufnahme bzw. in den zwei Monaten vor Aufnahme, berücksich-
tigt § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG mit der Verwendung des Begriffs des 'Hilfeemp-
fängers' nur eine der verschiedenen im Rahmen der Zuständigkeit nach § 97
Abs. 2 BSHG möglichen Sachverhaltsgestaltungen. Bei der gebotenen zusam-
menhängenden Betrachtung der Bestimmungen ordnet § 103 Abs. 3 Satz 1
BSHG eine Kostenerstattung deshalb nicht nur für den Fall an, dass jemand in der
Einrichtung tatsächlich Sozialhilfe erhalten hat, sondern auch für den Fall der Ak-
tualisierung der Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG dadurch, dass jemand für
seinen Aufenthalt in der Einrichtung Sozialhilfe beantragt, aber nicht erhalten hat
(Hilfesuchender), sowie für die Sachverhaltsgestaltung, dass ein Anspruch auf
Sozialhilfe in der Einrichtung zu prüfen, aber im Einzelfall wegen Fehlens der Vo-
raussetzungen abzulehnen war (nur vermeintlich Hilfebedürftiger). Ist aber - wie
bei der notwendigen berichtigenden Auslegung des § 97 Abs. 2 BSHG - die Zu-
ständigkeit des Sozialhilfeträgers normativ vom Hilfeempfang zu entkoppeln, ist in
entsprechender Auslegung des Begriffs 'Hilfeempfänger' in § 103 Abs. 3 Satz 1
BSHG die Erstattung auch auf die Fälle zu erstrecken, in denen die örtliche Zu-
ständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG sich mangels Hilfebedarfs zwar nicht zu einer
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Leistung konkretisiert hat, aber im Bedarfsfall zu einer Leistung geführt hätte. Es
ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, dass ein im Bedarfsfall zuständiger
Träger infolge Nichteintretens des Bedarfs während eines Einrichtungsaufenthalts
nicht nur Hilfe in der Einrichtung nicht zu leisten braucht, sondern dadurch auch
von seiner mit dem nachfolgenden Zuständigkeitswechsel auf den 'Träger des tat-
sächlichen Aufenthalts' verbundenen Kostenerstattungspflicht befreit wird.
.
Dafür, dass es Sinn und Zweck des § 103 Abs. 3 BSHG entspricht, seinen Schutz
der Anstaltsorte (der nach der Gesetzentwurfsbegründung bei der Reduzierung
der Kostenerstattungsfälle infolge der unmittelbaren Zuordnung von örtlichen Zu-
ständigkeiten an die bisher erstattungspflichtigen Träger 'im Wesentlichen' erhal-
ten bleiben sollte, vgl. BTDrucks 12/4401, S. 84) generell weit - unabhängig von
einer Konkretisierung der Hilfezuständigkeit des Trägers des gewöhnlichen Auf-
enthalts durch Sozialhilfeleistungen in der Einrichtung - zu verstehen, spricht im
Gesamtzusammenhang der Kostenerstattungstatbestände entscheidend folgender
systematischer Gesichtspunkt: Die im 9. Abschnitt des Bundessozialhilfegesetzes
geregelten Tatbestände der Kostenerstattung zwischen Trägern der Sozialhilfe
- Kostenerstattung bei Aufenthalt in einer Anstalt (§ 103 BSHG), Kostenerstattung
bei Unterbringung in einer anderen Familie (§ 104 BSHG), Kostenerstattung bei
Umzug (§ 107 BSHG) und Kostenerstattung bei Übertritt aus dem Ausland (§ 108
BSHG) - sowie der außerhalb des 9. Abschnitts geregelte Kostener-
stattungstatbestand des § 97 Abs. 5 BSHG betreffend Hilfe in Einrichtungen des
Freiheitsentzuges mit seiner Verweisung auf § 103 BSHG knüpfen Erstattungen
an den Fall an, dass ein Träger der Sozialhilfe neu zuständig wird. Weder für den
Kostenerstattungstatbestand des § 104 BSHG noch für den aus § 107 BSHG und
§ 108 BSHG ist es erforderlich, dass die Person, für die der neu zuständig gewor-
dene Träger nunmehr Sozialhilfe leistet, bereits vorher Sozialhilfe empfangen hat-
te. Selbst wenn man den Hinweis auf § 104 BSHG nicht für aussagekräftig hielte,
weil diese Bestimmung wieder auf § 97 Abs. 2 und § 103 BSHG verweist, und
§ 108 BSHG als Sonderfall einer erstmaligen Zuständigkeitsbegründung beiseite
lässt, spricht doch § 107 BSHG eindeutig dafür, dass der Gesetzgeber die Kos-
tenerstattung nicht davon abhängig machen wollte, dass bereits vor dem Umzug
Sozialhilfe bezogen wurde, vielmehr ist allein der Ortswechsel der Grund für die
maximal zwei Jahre dauernde Kostenerstattung. Bei § 103 Abs. 3 BSHG liegt zwar
kein Ortswechsel unmittelbar vom Ort des letzten gewöhnlichen Aufenthalts i.S.
des § 97 Abs. 2 BSHG in den Bereich des Trägers vor, in dem die Einrichtung
liegt. Es bestehen jedoch Parallelen: Im Falle des § 107 BSHG ist der Träger kos-
tenerstattungspflichtig, der für Sozialhilfe ohne den zuständigkeitsverändernden
Umzug zuständig gewesen wäre, und entsprechend im Falle des § 103 Abs. 3
BSHG derjenige Träger, der für Sozialhilfe ohne das zuständigkeitsverändernde
Verlassen der Einrichtung zuständig gewesen wäre. Dem Gesetzgeber kann nicht
unterstellt werden, dass er - abweichend von allen anderen Fällen der Kostener-
stattung wegen eines Zuständigkeitswechsels - allein im unmittelbaren Anwen-
dungsfall des § 103 Abs. 3 BSHG die Kostenerstattung von einem vorangegange-
nen Sozialhilfebezug abhängig machen wollte. Für eine solche Differenzierung ist
ein sachlicher Grund weder im Verhältnis zu den anderen Kostenerstattungstat-
beständen erkennbar, noch zwingen - wie dargelegt - der Begriff des 'Hilfeemp-
fängers' und die Bezugnahme auf die 'Fälle des § 97 Abs. 2' zu einer solchen
Auslegung. Deshalb ist es gerechtfertigt, im Falle des § 103 Abs. 3 BSHG wie in
allen anderen gesetzlichen Fällen der Kostenerstattung wegen eines Zuständig-
keitswechsels den infolge des Zuständigkeitswechsels neu zuständig gewordenen
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Sozialhilfeträger unabhängig von vorangegangener Sozialhilfe für längstens zwei
Jahre zu schützen. Bei einer solchen Auslegung des § 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG
nach seinem Sinn und Zweck als einer dem Schutz der Anstaltsorte dienenden
Bestimmung und mit Rücksicht auf seine systematische Einordnung als Fall der
Kostenerstattung aus Anlass eines Zuständigkeitswechsels reicht für die Auslö-
sung des Kostenerstattungsanspruchs trotz des eigentlich engeren Wortlauts 'Hil-
feempfänger' der vorangegangene Aufenthalt in einer Einrichtung aus; die Be-
zeichnung 'Hilfeempfänger' und die Bezugnahme auf § 97 Abs. 2 BSHG sind da-
bei als Bezugnahme auf eine aktuelle ebenso wie auf eine potentielle Sozialhilfe-
zuständigkeit des in § 97 Abs. 2 BSHG genannten Sozialhilfeträgers zu verste-
hen."
Diese Ausführungen gelten auch im Falle der in § 97 Abs. 5 BSHG angeordneten
entsprechenden Geltung der genannten Bestimmungen für Hilfe an Personen, die
sich in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung auf-
halten oder aufgehalten haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Aufgrund von § 194 Abs. 5
i.V.m. § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung
des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20. Dezember
2001 (BGBl I S. 3987) ist die zuvor nach § 188 Satz 2 VwGO a.F. auch Erstattungs-
streitigkeiten zwischen Sozialhilfeträgern erfassende Gerichtskostenfreiheit für das
vorliegende, nach dem 1. Januar 2002 beim Bundesverwaltungsgericht anhängig
gewordene Verfahren entfallen.
Dr. Säcker
Schmidt
Dr. Rothkegel
Dr. Franke
Prof. Dr. Berlit
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 11 341,75 €
festgesetzt.
Dr. Säcker
Schmidt
Dr. Franke
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Sozialhilferecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
BSHG § 97 Abs. 5, § 103 Abs. 3 Satz 1, § 97 Abs. 2
Stichworte:
- Einrichtungsorte, Schutz der - durch Kostenerstattung bei
Entlassung aus einer Einrichtung des Strafvollzuges;
- Kostenerstattung nach Entlassung aus einer Einrichtung des
Strafvollzuges;
- Kostenerstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers des
Einrichtungsortes (hier: Einrichtung des Strafvollzuges)
gegen Sozialhilfeträger des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts;
- Schutz der Einrichtungsorte durch Kostenerstattung bei
Entlassung aus einer Einrichtung des Strafvollzuges;
- Sozialhilfekosten, Erstattung von - bei Sozialhilfe am
Einrichtungsort nach Verlassen einer Einrichtung des
Strafvollzuges;
- Strafvollzug, Erstattung von Sozialhilfekosten nach Entlassung aus -.
Leistsatz:
Der Kostenerstattungsanspruch des örtlichen Sozialhilfeträgers, in dessen Bereich
eine Einrichtung des Strafvollzuges liegt, gegen den Sozialhilfeträger des gewöhnli-
chen Aufenthalts setzt nach dem entsprechend anzuwendenden (§ 97 Abs. 5 BSHG)
§ 103 Abs. 3 Satz 1 BSHG nicht voraus, dass dieser dem Hilfeempfänger während
des Einrichtungsaufenthalts Sozialhilfe geleistet hat (entsprechend Urteil vom
2. Oktober 2003 - BVerwG 5 C 20.02 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungs-
sammlung bestimmt).
Urteil des 5. Senats vom 2. Oktober 2003 - BVerwG 5 C 24.02
I. VG Schleswig vom 10.12.1999 - Az.: VG 13 A 291/98 -
II. OVG Schleswig vom 24.04.2002 - Az.: OVG 2 L 55/01 -