Urteil des BVerwG vom 02.10.2003

Sozialhilfe, Übertritt, Umzug, Doppelbelastung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 23.02
Verkündet
OVG 2 L 122/01
am 2. Oktober 2003
Schmidt
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Oktober 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Januar 2002
wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin nimmt den Beklagten nach § 107 BSHG auf Erstattung von Sozialhilfe-
kosten in Anspruch, die sie vom 1. Februar 1998 bis zum 31. Januar 2000 für Frau B.
aufgewendet hat.
Die Hilfeempfängerin war als Kontingentflüchtling aus der ehemaligen UdSSR in das
Bundesgebiet aufgenommen und zunächst dem Land Schleswig-Holstein zugewie-
sen worden. Dort leistete ihr der Beklagte bis zum 31. Januar 1998 Sozialhilfe durch
Hilfe zum Lebensunterhalt. Seine Aufwendungen rechnete der Beklagte mit dem
Land als überörtlichen Träger der Sozialhilfe ab. Am 1. Februar 1998 verzog Frau B.
in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin. Das Bundesverwaltungsamt nahm eine
Umverteilung der Hilfeempfängerin vom Land Schleswig-Holstein auf die Kontingent-
flüchtlingsquote der Klägerin vor.
Nach Weigerung des Beklagten, die der Klägerin entstandenen Sozialhilfeaufwen-
dungen zu erstatten, hat diese den Beklagten auf Zahlung von 57 961,54 DM (ent-
spricht 29 635,26 €) verklagt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begrün-
dung abgewiesen, die Kosten für Kontingentflüchtlinge würden jedenfalls nicht vom
örtlichen Sozialhilfeträger aufgewandt, sondern diesem erstattet; der § 107 BSHG
- 3 -
innewohnende Gedanke des Lastenausgleichs zwischen Sozialhilfeträgern komme
bei einer Quotenumverteilung von einem Bundesland in das andere nicht zum Tra-
gen. Die Nichtanwendbarkeit des § 107 BSHG folge auch aus dem so genannten
Interessenwahrungsgrundsatz, wonach der kostenerstattungsberechtigte Sozialhilfe-
träger die aufgewandten Sozialhilfekosten zunächst von der Stelle anfordern müsse,
die letztlich die Kosten trage; dies sei bei Kontingentflüchtlingen aber nicht der örtli-
che Sozialhilfeträger.
Das Oberverwaltungsgericht hat dagegen den Beklagten nach § 107 BSHG zur vol-
len Kostenerstattung verpflichtet: Anders als § 108 BSHG nach dessen Absatz 6
stehe § 107 BSHG nicht unter einem Vorbehalt anderweitiger bundesrechtlicher Re-
gelungen oder Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern; die Vorschrift kenne
daher keinen Anwendungsausschluss für bestimmte Personengruppen. Eine ent-
sprechende Anwendung von § 108 Abs. 6 BSHG auf § 107 Abs. 1 BSHG komme in
Ansehung von dessen klarem Wortlaut nicht in Betracht. Unbilligkeiten, die bei der
Anrechnung von umziehenden Kontingentflüchtlingen auf die Quote entstünden,
könnten nur durch den Gesetzgeber korrigiert werden. Eine andere Frage sei es
auch, ob der Beklagte in Höhe seiner Kostenerstattungspflicht einen Kostenerstat-
tungsanspruch gegenüber dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe habe, der auch
bisher Kostenerstattung gewährt habe.
Mit der Revision macht der Beklagte u.a. geltend, hier sei § 108 Abs. 6 BSHG analog
auf § 107 BSHG anzuwenden mit der Folge, dass eine Kostenerstattungspflicht nach
dieser Vorschrift ausgeschlossen sei. Eine Kostenerstattung nach einer Umverteilung
von Kontingentflüchtlingen würde Sinn und Zweck des § 107 BSHG widersprechen.
Nach § 107 Abs. 1 BSHG käme es sonst zu einer Doppelbelastung des abgebenden
Landes, da es zusätzlich zur Aufnahme eines neuen Kontingentflüchtlings weiterhin
die Sozialhilfekosten für den abgegebenen Kontingentflüchtling tragen müsste.
II.
Die Revision ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat den Beklagten im Einklang
mit dem Bundesrecht nach § 107 Abs. 1 BSHG zur Kostenerstattung verurteilt.
- 4 -
Der gesetzliche Tatbestand dieser Vorschrift ist hier ihrem Wortlaut nach erfüllt. Dies
zieht auch der Beklagte nicht in Zweifel. Zu Recht hat das Berufungsgericht § 107
BSHG nicht vor dem Hintergrund des § 108 Abs. 6 BSHG einschränkend dahin ge-
hend ausgelegt, dass ein Umzug von Kontingentflüchtlingen von der Vorschrift nicht
erfasst werde.
Dem Oberverwaltungsgericht ist darin zu folgen, dass für eine analoge Anwendung
des § 108 Abs. 6 BSHG hier kein Raum ist. Der Beklagte entnimmt dieser Vorschrift
den Grundgedanken, dass eine Kostenerstattungspflicht unter Sozialhilfeträgern
ausscheide, wenn eine "willkürliche, unkontrollierbare Belastung irgendeines Sozial-
hilfeträgers" ausgeschlossen sei; dies sei bei einer Umverteilung von Kontingent-
flüchtlingen nach Quoten gegeben, da auf diese Weise eine Zuordnung zu einem
bestimmten Sozialhilfeträger erfolge. Diesen Grundgedanken will der Beklagte auch
auf einen Umzug von Kontingentflüchtlingen innerhalb des Bundesgebietes erstreckt
wissen. Das ist aber nicht gerechtfertigt.
Der vom Beklagten für geboten gehaltenen entsprechenden Anwendung des § 108
Abs. 6 BSHG mit dem Ziel, Kontingentflüchtlinge aus dem persönlichen Geltungsbe-
reich des § 107 BSHG herauszunehmen, stehen der grundlegende Unterschied zwi-
schen dem Regelungsgegenstand und der gesetzlichen Zielsetzung beider Vorschrif-
ten sowie die Tatsache entgegen, dass der Gesetzgeber zwar in § 108 Abs. 6 BSHG,
aber gerade nicht in § 107 BSHG eine auch für Kontingentflüchtlinge geltende
Ausnahmeregelung getroffen hat.
§ 108 BSHG regelt eine Kostenerstattung bei Übertritt aus dem Ausland und nimmt
diese in Absatz 6 für Personen aus, deren Unterbringung nach dem Übertritt bundes-
rechtlich oder durch Vereinbarung zwischen Bund und Ländern geregelt ist. Infolge-
dessen werden für den Personenkreis des § 108 Abs. 6 BSHG die "§§ 103 ff. wirk-
sam" (so Mergler/Zink, BSHG, 4. Aufl., Stand: März 2000, § 108 Rn. 26) und ist also
auch die Anwendung von § 107 BSHG auf Kontingentflüchtlinge aus der Sicht des
§ 108 Abs. 6 BSHG nicht ausgeschlossen. Wäre hingegen beabsichtigt gewesen, für
diesen Personenkreis nicht nur in der Situation nach ihrem Übertritt aus dem Aus-
land, sondern auch für den - für den Gesetzgeber vorhersehbaren - Fall einer Um-
verteilung innerhalb des Bundesgebietes eine Kostenerstattung abweichend von den
- 5 -
§§ 103 ff. BSHG zu regeln, wäre zu erwarten, dass der Gesetzgeber dies ähnlich wie
in § 108 Abs. 6 BSHG zum Ausdruck gebracht hätte. Aus dem Fehlen einer solchen
Regelung ergibt sich in Anbetracht des unterschiedlichen Weges, den der Gesetz-
geber bei der Kostenerstattungsregelung des § 107 BSHG im Vergleich zu § 108
BSHG beschritten hat, und der unterschiedlichen Zielsetzung, die der in § 107 BSHG
angeordnete "Lastenausgleich" im Vergleich zu einer zwischen zwei Bundesländern
vereinbarten Umverteilung von Kontingentflüchtlingen verfolgt, dass eine solche Um-
verteilung die Erstattungsregelung des § 107 BSHG nicht verdrängen soll.
§ 107 BSHG bewirkt einen Lastenausgleich im Wege "horizontaler" Kostenerstattung
unter örtlichen Trägern der Sozialhilfe. Dem wird der Sinn beigemessen, zur Vermei-
dung einer Kostenüberlastung von Ballungsräumen die Sozialhilfeträger des tatsäch-
lichen Aufenthaltsortes auf Kosten der Wegzugsorte zu stützen (vgl. z.B. Mergler/
Zink, a.a.O., § 107 Rn. 7; Schoch in: LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, § 107 Rn. 6). Dem-
gegenüber geht es § 108 BSHG darum, die Belastung des Sozialhilfeträgers, in des-
sen örtlichem Zuständigkeitsbereich der Eingereiste Aufenthalt nimmt, nicht von dem
frei gewählten Aufenthalt abhängig zu machen, sondern sie gerecht zu verteilen
(siehe Urteil des Senats vom 20. Februar 1992 - BVerwG 5 C 22.88 - Buchholz 436.0
§ 108 BSHG Nr. 1). Zu diesem Zweck sieht § 108 Abs. 1 BSHG durch Kos-
tenerstattung seitens eines von einer Schiedsstelle zu bestimmenden überörtlichen
Trägers der Sozialhilfe einen "vertikalen" Lastenausgleich vor, dessen es nach § 108
Abs. 6 BSHG nicht bedarf, wenn eine bundesrechtliche oder durch Vereinbarung
zwischen Bund und Ländern getroffene Verteilungsregelung besteht, die - wenn auch
im Zusammenwirken mit weiteren Regelungen - die willkürliche, unkontrollierbare
Belastung irgendeines Sozialhilfeträgers ausschließt und es gerade mit Rücksicht auf
die Kostentragung ermöglicht, den Hilfesuchenden einem bestimmten Sozialhil-
feträger zuzuordnen (Urteil des Senats vom 20. Februar 1992, a.a.O.). Ist eine sol-
che Zuordnung erst einmal erfolgt, bedarf es ihrer aber nicht erneut, wenn der Betref-
fende von dem Bundesland, in dem er nach dem Übertritt in das Bundesgebiet
Aufenthalt genommen hat, in ein anderes Bundesland umverteilt wird. Abgesehen
davon, dass zweifelhaft ist, ob die zwischen den beteiligten Bundesländern verein-
barte Umverteilung allein mit Rücksicht auf die Mitwirkung des Bundesverwaltungs-
amtes, das einen entsprechenden Quotenausgleich vornimmt, einer Vereinbarung
"zwischen Bund und Ländern" im Sinne des § 108 Abs. 6 BSHG gleichgestellt und
- 6 -
deshalb überhaupt dem sachlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift - sei es
auch nur in entsprechender Anwendung - zugeordnet werden kann, ist eine Zuord-
nung zu einem bestimmten Sozialhilfeträger im Zeitpunkt der Umverteilung bereits
erfolgt und eine unkontrollierbare Belastung eines Sozialhilfeträgers damit ausge-
schlossen. Dagegen bleibt für die Ziele des § 107 BSHG in solchen Fällen Raum.
Dem lässt sich nicht die vom Beklagten für seinen Rechtsstandpunkt geltend ge-
machte "Doppelbelastung" entgegenhalten, die eintrete, wenn er einer Erstattungs-
pflicht aus § 107 BSHG ausgesetzt sei, zugleich aber nach einem Quotenausgleich
aufgrund des Verteilungsschlüssels für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufge-
nommene ausländische Flüchtlinge dem Land Schleswig-Holstein ein neuer Kontin-
gentflüchtling zugewiesen werde könne. Abgesehen davon, dass eine solche "Dop-
pelbelastung" voraussetzte, dass das Land Schleswig-Holstein aufgrund seiner lan-
desinternen Kostentragungsregelungen nicht auch für Erstattungsleistungen auf-
kommen muss, die ein örtlicher Sozialhilfeträger auf der Grundlage des § 107 BSHG
erbringt, oder dass ein neuer Kontingentflüchtling aufgrund des landesinternen Ver-
teilungsschlüssels ausgerechnet dem örtlichen Sozialhilfeträger am Wegzugsort des
verzogenen Kontingentflüchtlings zugeteilt wird, gibt es keinen zwingenden Grund
dafür, solche "unbillig" erscheinenden Konsequenzen einer unzulänglichen Abstim-
mung zwischen dem System der §§ 103 ff. BSHG und den Regelungen des Kontin-
gentflüchtlingsrechts ohne Anhalt im Gesetz gerade im Bereich des Erstattungs-
rechts des Bundessozialhilfegesetzes auszugleichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Aufgrund von § 194 Abs. 5
in Verbindung mit § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO in der Fassung des Gesetzes zur
Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom
20. Dezember 2001 (BGBl I S. 3987) ist das nach dem 1. Januar 2002 beim Bun-
desverwaltungsgericht anhängig gewordene Revisionsverfahren nicht gerichtskos-
tenfrei.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
- 7 -
B e s c h l u s s
Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 29 635,26 € festgesetzt (§ 13
Abs. 2, § 14 GKG).
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Sozialhilfe
Fachpresse:
nein
Rechtsquellen:
BSHG §§ 107, 108
Stichworte:
Kontingentflüchtlinge, Kostenerstattung zwischen örtlichen Sozialhilfeträgern bei
Umverteilung von -;
Kostenerstattung zwischen örtlichen Sozialhilfeträgern nach Umverteilung von Kon-
tingentflüchtlingen;
Umverteilung, Kostenerstattung zwischen örtlichen Sozialhilfeträgern nach - von
Kontingentflüchtlingen;
Umzug, Kostenerstattung zwischen örtlichen Sozialhilfeträgern nach - von Kontin-
gentflüchtlingen.
Leitsatz:
Die Kostenerstattungsregelung des § 107 BSHG gilt auch in Fällen einer Umvertei-
lung von Kontingentflüchtlingen (wie BVerwG 5 C 22.02).
Urteil des 5. Senats vom 2. Oktober 2003 - BVerwG 5 C 23.02
I. VG Schleswig vom 17.01.2001 - Az.: VG 10 A 372/99 -
II. OVG Schleswig vom 16.01.2002 - Az.: OVG 2 L 122/01 -