Urteil des BVerwG vom 16.05.2012

Rechtsstaatlichkeit, Humanitäres Völkerrecht, Wiederaufnahme des Verfahrens, Einziehung Von Vermögenswerten

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 2.11
VG 4 K 5.10
Verkündet
am 16. Mai 2012
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Mai 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler
und Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Berlin vom 8. Oktober 2010 wird zurückge-
wiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerinnen begehren als Erbeserbinnen nach ihrem Vater Ausgleichsleis-
tungen für den Verlust von Miteigentumsanteilen an mehreren in Berlin beleg-
enen Grundstücken.
Ihr Rechtsvorgänger war als Rechtsanwalt und Notar tätig. Im Juli 1933 trat er
in die SA (Motorstaffel) ein, in der er seit April 1935 den Rang eines Truppfüh-
rers bekleidete. Im Mai 1937 trat er der NSDAP bei. Er wurde im Februar 1940
als Kriegsgerichtsrat z.V. in den Heeresjustizdienst beordert und bei dem Ge-
richt der Gruppe XXI eingesetzt, das im Dezember 1941 durch Umbenennung
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des Stabes die Bezeichnung „Gericht des Armeeoberkommandos Norwegen“
erhielt. In einer im Dezember 1943 erstellten Beurteilung wurde ihm u.a. attes-
tiert, „die absolute Gewähr“ zu bieten, „dass er sich jederzeit rückhaltlos für den
nationalsozialistischen Staat einsetz[e]“. In einer schriftlichen Erklärung aus
demselben Monat stimmte er der Ernennung zum Kriegsgerichtsrat d.R.
und
dem Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis als Offizier des Beurlaubtenstan-
des zu. Nach der Übernahme in den Truppensonderdienst zum Mai 1944 ver-
richtete er seinen Dienst im Rang eines Oberstabsrichters d.R.
Im jeweils hälftigen Miteigentum des Rechtsvorgängers der Klägerinnen und
seines Bruders standen sechs Grundstücke in Berlin. Deren Sequestration im
Jahr 1947 wie auch die Wiederholung der Beschlagnahme im Jahr 1948 wur-
den u.a. damit begründet, dass der Rechtsvorgänger der Klägerinnen im Krieg
als „Oberster Militärrichter für Fahnenfluchtfälle in Norwegen“ fungiert habe und
(daher einflussreiches) Mitglied der NSDAP gewesen sei. Aufgrund des Geset-
zes vom 8. Februar 1949 „zur Einziehung von Vermögenswerten der Kriegsver-
brecher und Naziaktivisten“ (VOBl für Groß-Berlin I S. 34) wurden die
Grundstücke durch die Bekanntmachung des sogenannten „Demokratischen
Magistrats von Groß-Berlin“ vom 14. November 1949 „über weitere Einziehun-
gen auf Grund des Gesetzes vom 8. Februar 1949 (Liste 3)“ (VOBl für Groß-
Berlin I S. 425) entschädigungslos eingezogen und in der Folge in Volkseigen-
tum überführt.
Der Rechtsvorgänger der Klägerinnen wurde im Dezember 1949 vom Kriegstri-
bunal der Truppen des sowjetischen Innenministeriums im Bezirk Nowgorod zu
zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Nach Rückkehr in die Bundesrepublik
war er als Notar tätig. Im Februar 1995 rehabilitierte ihn die Generalstaatsan-
waltschaft der Russischen Föderation auf der Grundlage des russischen Geset-
zes über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen.
Den Antrag der Klägerinnen auf Gewährung einer Ausgleichsleistung für die
Entziehung der Grundstücke lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der
Rechtsvorgänger der Klägerinnen habe durch seine richterliche Tätigkeit dem
nationalsozialistischen System erheblich Vorschub geleistet, so dass ein Aus-
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schlussgrund des § 1 Abs. 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes (AusglLeistG)
vorliege.
Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Beklagten verpflichtet, den Klägerinnen
eine Ausgleichsleistung für den Verlust des Eigentums an den Grundstücken
nach Maßgabe des Ausgleichsleistungsgesetzes zu gewähren. Die Gewährung
sei nicht nach § 1 Abs. 4 Alt. 1 und 3 AusglLeistG ausgeschlossen. Erkenntnis-
se über die Art und Weise der Ausübung der militärrichterlichen Tätigkeit lägen
in Bezug auf den Rechtsvorgänger der Klägerinnen nicht vor. Es deute nichts
darauf hin, dass weitere Aufklärungsbemühungen erfolgreich wären. § 1 Abs. 4
AusglLeistG begründe weder eine gesetzliche Vermutung zu Lasten des Betrof-
fenen, noch lasse sich aus der Tätigkeit als Wehrmachtrichter im Wege des
Anscheinsbeweises auf das Vorliegen eines Ausschlussgrundes schließen. Der
Annahme einer tatsächlichen Vermutung eines erheblichen Vorschubleistens
zugunsten des nationalsozialistischen Systems stehe entgegen, dass die För-
derung der Eroberung fremden Territoriums keine spezifische Unterstützung
des nationalsozialistischen Systems sei. Ebenso wenig lasse sich ein Verstoß
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit tatsächlich
vermuten. Einer solchen Vermutung stehe etwa die hohe Anzahl eingestellter
Verfahren entgegen. Ebenso wenig komme dem Gesetz zur Aufhebung natio-
nalsozialistischer Unrechtsurteile die Funktion einer Beweislastregel für den Fall
der Unaufklärbarkeit der konkreten Tätigkeit eines auf besatzungshoheitlicher
Grundlage enteigneten Wehrmachtrichters zu.
Der Beklagte stützt seine Revision auf einen Aufklärungsmangel sowie auf die
Verletzung von § 1 Abs. 4 AusglLeistG. In verfahrensrechtlicher Hinsicht habe
es das Verwaltungsgericht versäumt, alle ihm vernünftigerweise zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, Erkenntnisse über die wehrmachtrich-
terliche Tätigkeit des Rechtsvorgängers der Klägerinnen zu gewinnen. Es habe
sich ihm aufdrängen müssen, eine Auskunft des Bundesarchivs - Militärarchiv -
einzuholen. Das Verwaltungsgericht habe zudem die Reichweite des § 1 Abs. 4
AusglLeistG verkannt, indem es die Tätigkeit des Rechtsvorgängers der Kläge-
rinnen als Wehrmachtrichter zu Unrecht nicht als Ausschlussgrund gewertet
habe. Es sei tatsächlich zu vermuten, dass Wehrmachtrichter bei ihrer Tätigkeit
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in der Regel gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtstaatlichkeit
verstoßen hätten. Eine Tätigkeit als Wehrmachtrichter begründe des Weiteren
regelmäßig eine tatsächliche Vermutung dafür, dass durch diese Tätigkeit dem
nationalsozialistischen Unrechtsystem erheblichen Vorschub geleistet worden
ist. Die Wehrmachtgerichtsbarkeit sei als Teil der nationalsozialistischen (Un-
rechts-)Justiz ein tragender Pfeiler des nationalsozialistischen Unterdrückungs-
und Verfolgungssystems gewesen. Dass kriegsgerichtliche Entscheidungen im
Einzelfall auch rechtstaatlichen Kriterien entsprochen haben könnten, wider-
streite der Annahme eines Ausschlussgrundes im Sinne des § 1 Abs. 4 Aus-
glLeistG nicht.
Die Klägerinnen verteidigen das Urteil des Verwaltungsgerichts.
II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass den Klägerinnen als
Erbeserbinnen ihres Vaters Ausgleichsleistungen für die auf besatzungshoheit-
licher Grundlage bewirkte entschädigungslose Enteignung der betreffenden
Grundstücke zu gewähren sind.
Der Anspruch gründet auf § 1 Abs. 1 des Gesetzes über staatliche Ausgleichs-
leistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheit-
licher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können (Aus-
gleichsleistungsgesetz - AusglLeistG) in der Fassung der Bekanntmachung
vom 13. Juli 2004 (BGBl I S. 1665), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes
vom 21. März 2011 (BGBl I S. 450). Er ist nicht gemäß § 1 Abs. 4 Alt. 1 oder 3
AusglLeistG ausgeschlossen. Danach werden Leistungen nach diesem Gesetz
unter anderem nicht gewährt, wenn der nach Absatz 1 Berechtigte oder derje-
nige, von dem er seine Rechte ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlich-
keit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen (1.) oder dem nationalsozialistischen
System erheblichen Vorschub geleistet hat (2.).
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1. Ohne Verstoß gegen § 1 Abs. 4 Alt. 1 AusglLeistG ist das Verwaltungsgericht
davon ausgegangen, dass den Klägerinnen Leistungen nach diesem Gesetz
nicht wegen eines Verstoßes ihres Rechtvorgängers gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit (a) zu versagen sind. Die tatsächlichen
Feststellungen des Verwaltungsgerichts, an die das Bundesverwaltungsgericht
gebunden ist, rechtfertigen es nicht, davon auszugehen, der Betroffene habe
die Voraussetzungen des Ausschlussgrundes durch die Art und Weise seiner
Amtsausübung erfüllt (b). Ebenso wenig ist ein Verstoß gegen die Grundsätze
der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit tatsächlich zu vermuten (c).
a) Die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit im Sinne des § 1
Abs. 4 Alt. 1 AusglLeistG gründen in dem Sittengesetz und den jeder Rechts-
ordnung vorgegebenen natürlichen Rechten des Einzelnen, die auch unter der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft fortgalten. Sie finden ihre Ausprägung
insbesondere in den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten
im Sinne des Art. 1 Abs. 2 GG und der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion. Die Verwirklichung des Ausschlussgrundes setzt voraus, dass den Grund-
sätzen in erheblicher Weise zuwidergehandelt wird, wobei die Zuwiderhandlung
einen gewissen Systembezug aufweisen muss. Für dessen Annahme genügt
ein allgemeiner Zusammenhang mit dem Staats- und Gesellschaftssystem. Das
Verhalten muss dem Betroffenen zurechenbar und vorwerfbar sein. Dieser
muss wissentlich und willentlich an dem Verstoß gegen die genannten Grund-
sätze mitgewirkt haben. Die Annahme eines Verstoßes gegen die Grundsätze
deroderwird nicht dadurch ausgeschlossen,
dass das Verhalten durch die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus gel-
tenden Gesetze oder durch obrigkeitliche Anordnungen oder Befehle, denen
nach nationalsozialistischer Ideologie Gesetzesrang zuerkannt wurde, formal
erlaubt oder von der Strafverfolgung ausgenommen war. Maßgeblich ist nicht
die formale Gesetzmäßigkeit, sondern der materielle Unrechtscharakter des
Verhaltens. Die Unwürdigkeitsklausel des § 1 Abs. 4 AusglLeistG verfolgt das
Ziel, die Hauptverantwortlichen für die Unrechtsmaßnahmen bzw. deren
Rechtsnachfolger von der Leistungsgewährung auszuschließen (Urteile vom
28. Februar 1963 - BVerwG 8 C 67.62 - BVerwGE 15, 336 <338 f.>, vom
28. Februar 2007 - BVerwG 3 C 38.05 - BVerwGE 128, 155 = Buchholz 428.4
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§ 1 AusglLeistG Nr. 9, jeweils Rn. 35 und 37 ff. und - BVerwG 3 C 13.06 - ZOV
2007, 69 <72> sowie vom 29. September 2010 - BVerwG 5 C 16.09 - Buchholz
428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 21 Rn. 19 m.w.N.). Diese Maßstäbe hat das Verwal-
tungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt.
b) Es gelangt im Rahmen der Würdigung des von ihm festgestellten Sachver-
halts zu dem Ergebnis, dass Tatsachen, die auf eine individuelle Verwirklichung
des Ausschlussgrundes des § 1 Abs. 4 Alt. 1 AusglLeistG in der Person des
Rechtsvorgängers der Klägerinnen schließen ließen, nicht vorlägen (aa). An
diese tatrichterlichen Feststellungen und deren Würdigung ist das Bundesver-
waltungsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, da insoweit zulässige
und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht sind (bb).
aa) Ob das individuelle Verhalten des Berechtigten die Anforderungen an einen
Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit er-
füllt, ist im Rahmen einer umfassenden Würdigung aller bedeutsamen Umstän-
de des Einzelfalles zu prüfen. Diese Würdigung ist vom Standpunkt eines mit
den gesamten Verhältnissen vertrauten objektiven Beurteilers vorzunehmen
und obliegt in erster Linie dem Tatsachengericht (Urteile vom 18. September
2009 - BVerwG-= Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG
Nr. 19, jeweils Rn. 13 und 16 m.w.N. und vom 30. Juni 2010 - BVerwG 5 C
9.09 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 20 Rn. 11; Beschluss vom 30. Sep-
tember 2009 - BVerwG 5 B 38.09 - ZOV 2009, 316).
Das Verwaltungsgericht vermochte nicht festzustellen, dass der Rechtsvorgän-
ger der Klägerinnen den Ausschlussgrund des § 1 Abs. 4 Alt. 1 AusglLeistG
erfüllt hat. Es hat in diesem Zusammenhang insbesondere angenommen, die
dienstliche Beurteilung des Rechtsvorgängers der Klägerinnen einschließlich
der darin gewählten Formulierung, er biete die absolute Gewähr, dass er sich
jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einsetze, sage nichts
Greifbares aus. Nichts anderes folge aus seiner Dienstlaufbahn, seinem berufli-
chen Aufstieg und seiner Parteimitgliedschaft sowie aus der im Enteignungsver-
fahren wiedergegebenen Aussage, der Rechtsvorgänger der Klägerinnen sei
„Oberster Militärrichter für Fahnenfluchtfälle in Norwegen“ gewesen. In diesem
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Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht deutlich gemacht, dass es davon
ausgehe, dass jener in seiner Funktion als Kriegsrichter unter anderem mit der
Bearbeitung von Fahnenfluchtdelikten befasst gewesen sei.
bb) Der Senat hat von den vorstehenden tatsächlichen Feststellungen und der
darauf aufbauenden Würdigung auszugehen. Das Verwaltungsgericht hat nicht
gegen allgemeine Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung versto-
ßen (1). Die Feststellungen und deren Würdigung entfalten gemäß § 137 Abs. 2
VwGO Bindungswirkung, weil der Beklagte insoweit keine zulässigen und be-
gründeten Revisionsrügen erhoben hat (2).
(1) Dem Bundesverwaltungsgericht ist es grundsätzlich versagt, die tatrichterli-
che Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch eine eigene Würdigung zu kor-
rigieren oder gar zu ersetzen. Es ist insoweit darauf beschränkt zu überprüfen,
ob die tatrichterliche Würdigung auf einem Rechtsirrtum beruht oder allgemeine
Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche
Beweisregeln, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, verletzt (Be-
schluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - NVwZ-RR 1996, 359
<360>).
Gemessen an diesen Maßstäben wie auch an dem Zweck der Unwürdigkeits-
klausel, die Hauptverantwortlichen von der Leistungsgewährung auszuschlie-
ßen, ist die verwaltungsgerichtliche Sachverhaltswürdigung nicht zu beanstan-
den. Das Tatgericht hat seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Ver-
fahrens gewonnen. Die unter aa) wiedergegebene Formulierung aus der dienst-
lichen Beurteilung allein zwingt nicht zu der Annahme, das rückhaltlo-
se Sicheinsetzen für den nationalsozialistischen Staat sei denknotwendig mit
der Begehung von Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder
Rechtsstaatlichkeit verbunden gewesen. Mit der Würdigung, diese als üblich zu
wertende Formulierung beinhalte nichts Greifbares, hat das Verwaltungsgericht
in knapper Form deutlich gemacht, dass es sich zu einer entsprechenden
Schlussfolgerung nicht in der Lage sah. Dass es bei der Überzeugungsbildung
einzelne zum Prozessstoff gehörende Umstände außer Acht gelassen hätte, ist
nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist es revisionsgerichtlich zu beanstanden, dass
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es gleichsam im Rahmen einer Gesamtbeurteilung der Tätigkeit des Rechts-
vorgängers der Klägerinnen als richterlicher Militärjustizbeamter aus dem Um-
stand, dass über die Bearbeitung einzelner Verfahren nichts bekannt sei, auf
die Nichterfüllung des Ausschlussgrundes geschlossen hat.
(2) Der Beklagte hat keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erho-
ben.
(a) Soweit er eine Verletzung der Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sach-
verhalts mit der Begründung rügt, die Vorinstanz habe es versäumt zu ermitteln,
ob sich bei dem Bundesarchiv - Militärarchiv - weitere Unterlagen befänden, die
näheren Aufschluss über die Tätigkeit des Rechtsvorgängers der Klägerinnen
gegeben hätten, rechtfertigt dies nicht die Annahme eines Verfahrensfehlers.
Nach § 86 Abs. 1 Halbs. 1 VwGO obliegt dem Tatsachengericht die Pflicht, jede
mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Gren-
ze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für den Rechtsstreit erforderlich
ist (vgl. Urteil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38
<41> = Buchholz 303 § 414 ZPO Nr. 1 S. 2 und Beschluss vom 2. Mai 2006
- BVerwG 6 B 53.05 - Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 206 Rn. 21). Dabei ent-
scheidet das Tatsachengericht über die Art der heranzuziehenden Beweismittel
und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Sachver-
haltsermittlung von Amts wegen nach Ermessen (vgl. Beschluss vom
4. November 2008 - BVerwG 2 B 19.08 - Buchholz 301 § 86 Abs. 1 VwGO
Nr. 370 Rn. 11 m.w.N.). Sind - wie hier - keine förmlichen Beweisanträge ge-
stellt, überschreitet das Gericht die Grenzen seines Aufklärungsermessens nur,
wenn es eine Sachverhaltsermittlung unterlässt, die sich nach den Umständen
des Falles - auch nach dem Vorbringen der Beteiligten - von seinem Rechts-
standpunkt aus aufdrängen musste. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel
dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor
allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren
(stRspr, vgl. z.B. Urteil vom 28. Juli 2011 - BVerwG 2 C 28.10 - BVerwGE 140,
199 = Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 60 Rn. 24 f. und Beschlüsse vom 6. März
1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 S. 9 sowie
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vom 2. November 2007 - BVerwG 3 B 58.07 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2
VwGO Nr. 70 Rn. 7 jeweils m.w.N.). Insbesondere ist ein Verwaltungsgericht
nicht verpflichtet, von sich aus ohne nähere Anhaltspunkte in Archiven allge-
mein nach Unterlagen zu forschen, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen
Streitgegenstand von Bedeutung sein könnten (vgl. Beschluss vom 24. Juli
1998 - BVerwG 8 B 22.98 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 292 S. 40).
Daran gemessen war die von der Beklagten vermisste weitere Aufklärung nicht
nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO geboten, weil sie sich dem Verwal-
tungsgericht nicht aufdrängen musste.
Den von dem Beklagten aus den Archivbeständen übermittelten Personalak-
tenbestandteilen ließ sich nicht entnehmen, dass eine erneute und ggf. erwei-
terte Recherche weitere Aktenbestandteile, insbesondere auch Verfahrensak-
ten, zu Tage fördern würde. Hiervon durfte das Verwaltungsgericht nicht zuletzt
vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Wehrmachtsakten zerstört wurde
und die Erfassung und Zuordnung des erhaltenen wehrmachtsgerichtlichen Ak-
tenbestandes bei Weitem nicht abgeschlossen ist, ausgehen.
(b) Soweit dem Vorbringen des Beklagten die Rüge entnommen werden könn-
te, das Verwaltungsgericht habe verfahrensfehlerhaft versäumt, zwei sich im
Bestand des Bundesarchivs - Militärarchiv - befindende näher bezeichnete Ver-
fahrensakten, in denen der Rechtsvorgänger der Klägerinnen in Erscheinung
trete, beizuziehen, kann er damit nicht gehört werden. Der Umstand des Vor-
handenseins der beiden Akten wurde erstmals in der Revisionsinstanz vorge-
bracht. Es liegt keiner der Fälle vor, in denen das Revisionsgericht ausnahms-
weise neues tatsächliches Vorbringen selbst würdigen kann (vgl. dazu Urteil
vom 14. Dezember 2006 - BVerwG 3 C 36.05 - BVerwGE 127, 236 = Buchholz
428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 8 Rn.16 f.). Insbesondere ist der in Rede stehende
Umstand nicht geeignet, eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 153
VwGO i.V.m. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO zu begründen. Dies folgt schon da-
raus, dass nicht ersichtlich ist, dass die beiden Akten erst nach Abschluss der
Tatsacheninstanz im Sinne des § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO „aufgefunden“ wur-
den. Dazu gehören u.a. solche Urkunden nicht, die sich in von öffentlichen Stel-
len geführten Archiven befinden (vgl. Urteil vom 14. Dezember 2006 a.a.O. Rn.
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17). Der Beklagte zeigt nicht auf, dass das Auffinden der Akten in der Vorin-
stanz auch bei gehörigem Bemühen nicht möglich war (vgl. § 582 ZPO).
c) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, ein Verstoß des Rechtsvorgängers
der Klägerinnen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaat-
lichkeit lasse sich nicht auf eine tatsächliche Vermutung stützen, ist revisionsge-
richtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Zwar ist für eine solche Vermutung
auch im Rahmen des § 1 Abs. 4 Alt. 3 AusglLeistG grundsätzlich Raum (aa).
Nach dem gegenwärtigen Stand der militärgeschichtlichen Forschung ist jedoch
eine entsprechende tatsächliche Vermutung in Bezug auf die Personengruppe,
der der Rechtsvorgänger der Klägerinnen angehörte, nicht anzunehmen (bb).
aa) Die Beurteilung, ob aus der Wahrnehmung bestimmter Ämter oder Funktio-
nen im Wege einer tatsächlichen Vermutung (Indizwirkung) auf die Verwirkli-
chung eines Ausschlussgrundes des § 1 Abs. 4 AusglLeistG geschlossen wer-
den kann, ist nicht nur eine der revisionsgerichtlichen Prüfung weitgehend ent-
zogene tatsächliche Würdigung, sondern auch das Ergebnis einer rechtlichen
Subsumtion, die vom Revisionsgericht anhand des i
vorgegebenen rechtlichen Maßstabs zu überprüfen ist (stRspr, vgl. z.B. Urteil
vom 18. September 2009 - BVerwG 5 C 1.09 - BVerwGE 135, 1 = Buchholz
428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 19 jeweils Rn. 21 m.w.N.).
Ebenso wie im Anwendungsbereich der dritten Alternative ist auch im Rahmen
der ersten Alternative des § 1 Abs. 4 AusglLeistG grundsätzlich Raum für die
Annahme einer tatsächlichen Vermutung. Der Ausschlussgrund eines Versto-
ßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit ist in
gleicher Weise wie derjenige des erheblichen Vorschubleistens im Sinne des
§ 1 Abs. 4 Alt. 3 AusglLeistG dadurch gekennzeichnet, dass sich die ihm zu-
grunde liegenden Handlungen aufgrund des Zeitablaufs oft nicht (mehr) nach-
weisen lassen. Ebenso wie in bestimmten Situationen aus zeithistorisch beleg-
baren Erkenntnissen und Erfahrungstatsachen auf ein erhebliches Vorschub-
leisten geschlossen werden kann, können entsprechende Erkenntnisse und
Erfahrungstatsachen auch ein gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder
Rechtsstaatlichkeit verstoßendes Handeln indizieren (vgl. Urteil vom
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28. Februar 2007 - BVerwG 3 C 38.05 - BVerwGE 128, 155 = Buchholz 428.4
§ 1 AusglLeistG Nr. 9 jeweils Rn. 42).
Allerdings unterliegt die Annahme einer tatsächlichen Vermutung im Rahmen
des § 1 Abs. 4 AusglLeistG engen Voraussetzungen. Dies folgt sowohl aus der
Zweckrichtung der Unwürdigkeitsklausel, die abschließend diejenigen Gründe
normiert, die der Gewährung einer Ausgleichsleistung zwingend entgegenste-
hen, als auch aus der mit der Anerkennung einer solchen Indizwirkung einher-
gehenden Umkehr der Feststellungslast. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit ist daher zu Lasten eines einzelnen
Mitglieds einer Personengruppe nur dann tatsächlich zu vermuten, wenn im
Rahmen einer Gesamtwürdigung des Geschehensablaufes aufgrund hinrei-
chender zeithistorisch belegbarer Erkenntnisse und Erfahrungstatsachen mit
der gebotenen Gewissheit anzunehmen ist, dass grundsätzlich jedes Mitglied
dieser Personengruppe gegen die vorbezeichneten Grundsätze verstoßen hat.
Der Einzelne hat die Möglichkeit, die tatsächliche Vermutung nach den Grund-
sätzen des Anscheinsbeweises zu erschüttern (vgl. Urteil vom 26. Februar 2009
- BVerwG 5 C 4.08 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 16 Rn. 24 m.w.N.).
bb) Gemessen daran scheidet die tatsächliche Vermutung eines Verstoßes
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit hier aus, da
die hierfür erforderliche Typizität nicht feststellbar ist. Sie lässt sich mit der in-
soweit gebotenen Gewissheit nicht aus zeitgeschichtlichem Erfahrungswissen,
wie es allgemein zugänglichen Quellen zuverlässig zu entnehmen ist, ableiten.
Der Rechtsvorgänger der Klägerinnen gehörte zur Gruppe der bei Feldkriegs-
gerichten des Heeres in den besetzten Gebieten eingesetzten richterlichen Mili-
tärjustizbeamten im Sinne des § 7 der Verordnung vom 17. August 1938 über
das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegs-
strafverfahrensordnung - KStVO - RGBl 1939 S. 1457). Eine Gesamtwürdigung
des von den Angehörigen dieser Gruppe anzuwendenden Kriegsstraf-,
-strafverfahrens- und -gerichtsorganisationsrechts (1) im Lichte der feldkriegs-
gerichtlichen Straf- und Strafzumessungspraxis (2) und der im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ohne Weiteres
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zugänglichen Erkenntnisse der militärgeschichtlichen Forschung (3) rechtfertigt
nicht die Annahme, grundsätzlich jedes Mitglied dieser Personengruppe habe
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen
(4).
(1) Das von den Feldkriegsgerichten anzuwendende Straf- und Strafzumes-
sungsrecht unterlag nicht erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs einem
tiefgreifenden Wandel. Bereits mit dem Gesetz zur Änderung des Strafgesetz-
buches vom 28. Juni 1935 (RGBl I S. 839) war das Analogieverbot aufgehoben
worden. Nach § 2 StGB wurde fortan bestraft, wer eine Tat beging, die das Ge-
setz für strafbar erklärte oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgeset-
zes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdiente; fand auf
die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wurde die Tat
nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutraf. Das
Militärstrafgesetzbuch vom 20. Juni 1872 (RGBl S. 174) wurde mehrfach den
veränderten staats- und wehrrechtlichen Bestimmungen angepasst. Tatbe-
stände wurden allgemeiner gefasst. Strafandrohungen wurden erhöht, soweit
es die „Aufrechterhaltung der Manneszucht und die Sicherheit der Truppe“ ge-
bot. Mit der am 26. August 1939 in Kraft gesetzten Verordnung vom 17. August
1938 über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz
(Kriegssonderstrafrechtsverordnung - KSSVO - RGBl 1939 I S. 1455) wurden
weitere Straftatbestände geschaffen, darunter die grundsätzlich mit der Todes-
strafe zu ahndende so genannte „Zersetzung der Wehrkraft“ nach § 5 KSSVO.
Es folgten weitere Neuerungen, so die Einführung und spätere Anpassung des
§ 5a KSSVO, der die Möglichkeit der Überschreitung des regelmäßigen Straf-
rahmens vorsah und es so ermöglichte, „zur Aufrechterhaltung der Mannes-
zucht“ bei jedem Tatbestand auf die Todesstrafe zu erkennen, die Neufassung
des § 6 KSSVO, der unter anderem die Straftatbestände der unerlaubten Ent-
fernung und der Fahnenflucht regelte, und die Aufnahme des „gesunden Volks-
empfindens“ als Abwägungskriterium auch in die Kriegssonderstrafrechtsver-
ordnung. Infolge dieser Anpassungen stieg die Anzahl der Delikte, für die die
Todesstrafe verhängt werden konnte, von drei im Jahr 1933 auf 46 im Jahr
1944.
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Daneben wurde auch das Kriegsstrafverfahrensrecht wiederholt „den Kriegs-
notwendigkeiten angepasst“. An die Stelle der Militärstrafgerichtsordnung trat
mit Wirkung ebenfalls vom 26. August 1939 die Kriegsstrafverfahrensordnung.
Mit ihr ging eine „Vereinfachung“ des Strafverfahrens einher. Das Recht zur
Wahl oder Bestellung eines Verteidigers in „Kriegsverfahren“ wurde gemäß
§ 49 Abs. 1 Satz 2 KStVO auf strafbare Handlungen beschränkt, die mit dem
Tode bedroht waren; in den übrigen Verfahren wurde ein Verteidiger beigezo-
gen, sofern es der Gerichtsherr für sachdienlich hielt.
Im Verlaufe des Krieges wuchs die Anzahl der Kriegsgerichte der Wehrmacht
auf deutlich über 1 000 an (Messerschmidt/Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im
Dienste des Nationalsozialismus, 1987, S. 49). Die Anzahl der Richter belief
sich zeitweise auf mehr als 3 000 (Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend
der Geschichtsschreibung, 1991, S. 110). Der Bedarf an Wehrmachtrichtern
wurde zunächst nach Möglichkeit durch Juristen gedeckt, die bereits im Ersten
Weltkrieg als Kriegsrichter oder Frontoffiziere gedient hatten oder zu Reserveof-
fizieren ausgebildet worden waren. Mit dem wachsenden Bedarf an Wehr-
machtrichtern im Verlaufe des Krieges wurden vor allem junge Assessoren ver-
pflichtet, die teils freiwillig, teils unter Druck der Partei beigetreten waren
(Thomas, Wehrmachtjustiz und Widerstandsbekämpfung, Diss. Baden-Baden
1990, S. 42 f.; Rass/Quadflieg, in: Kirschner , Deserteure, Wehrkraft-
zersetzer und ihre Richter, 2010, S. 39 <54>; Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels
, „Mit reinem Gewissen“: Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und
ihre Opfer, 2011, S. 184 <188>). In Friedenszeiten wurden die Wehrmachtsju-
risten auf Lebenszeit ernannt. Mit Beginn des Krieges wurden sie nur noch als
Kriegsrichter der Reserve auf Zeit einberufen. Als „Kriegsgerichtsräte“ waren
sie keine Soldaten, sondern Beamte. Im Jahre 1944 wurden die Wehrmachtbe-
amten in den Stand von Offizieren im Truppensonderdienst überführt. Fortan
unterstanden sie als Soldaten den jeweiligen Truppen- und Fachvorgesetzten.
Als Gerichtsherr fungierte der jeweilige militärische Vorgesetzte des übergeord-
neten Truppenverbandes, was zwar der vordemokratischen preußisch-
deutschen Militärtradition, nicht aber dem rechtsstaatlichen Gebot der Gewal-
tentrennung entsprach. Der Gerichtsherr war - jedenfalls außerhalb der Haupt-
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verhandlung - Herr des Verfahrens. Er bestimmte, welcher Justizbeamte in wel-
chem Verfahren die Verhandlungsleitung übernehmen sollte. Er war zugleich
Strafverfolgungs- und -vollstreckungsbehörde. In seinen Aufgaben wurde er von
den richterlichen Militärjustizbeamten unterstützt. Diese konnten daher sowohl
als ermittelnde bzw. untersuchungsführende Beamte als auch als erkennende
Richter tätig werden mit der Einschränkung, dass dem im Vorverfahren ermit-
telnden richterlichen Militärjustizbeamten die Tätigkeit in derselben Sache als
Richter des Spruchgerichts verwehrt war. Die Gerichtsherren waren in der Re-
gel für die Bestätigung von Urteilen der Kriegsgerichte zuständig, während das
Aufhebungsrecht dem vorgesetzten Befehlshaber oblag.
(2) Die ganz überwiegend rigide Straf- und Strafzumessungspraxis der Feld-
kriegsgerichte in den besetzten Gebieten spiegelt sich in der Wehrmachtkrimi-
nalstatistik wider, die allerdings gravierende Mängel aufweist, welche zum einen
auf Nachlässigkeit gründen und zum anderen auf kriegsbedingte Aktenverluste
zurückgehen. In der militärgeschichtlichen Forschung wird davon ausgegangen,
dass von den Kriegsparteien bis zu vier Millionen Verfahren durchgeführt wur-
den. Die Anzahl der durchgeführten Strafverfahren wird auf 2,4 bis 3 Millionen
taxiert. In 50 % bis 60 % der Verfahren sollen Urteile gefällt oder Strafverfügun-
gen erlassen worden sein, wobei etwa 800 000 bis 900 000 Urteilen ungefähr
500 000 bis 600 000 Strafverfügungen gegenübergestanden haben sollen. Die
Freispruchsquote wird auf 8 % bis 10 % geschätzt. Hiernach wären etwa ein-
einhalb Millionen Personen verurteilt worden. Die Schätzungen hinsichtlich der
Anzahl der gefällten Todesurteile sind uneinheitlich: Sie wird je nach Quelle mit
10 000 bis 50 000 überwiegend jedoch mit 30 000 angegeben. Allein die Anzahl
der wegen Fahnenflucht ergangenen Todesurteile wird auf 20 000 bis 25 000
taxiert. Etwa 85 % der Todesurteile sollen von Heeresgerichten gefällt worden
sein. Insgesamt wird die Anzahl der hingerichteten Angehörigen der Wehrmacht
nebst Gefolge auf 20 000 bis 25 000 geschätzt (vgl. zum Ganzen: Kalmbach,
Wehrmachtjustiz, 2012, S. 323; Messerschmidt/Wüllner, a.a.O. S. 51, 63 f.,
67 - 70, 73 - 131; Wüllner, a.a.O. S. 77, 116, 160 - 70, 173, 202, 270 - 294 und
476; Seidler, Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939 - 1945,
1999, S. 27 und 41 - 44; Hennicke, Auszüge aus der Wehrmachtsstatistik, Zeit-
schrift für Militärgeschichte 1966, 438 <445>; Schnackenberg, „Ich wollte keine
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Heldentaten mehr vollbringen“, 1997, S. 19 f.; Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels
, a.a.O. S. 192).
Die Strafpraxis der Feldkriegsgerichte war durch verschiedene Faktoren beein-
flusst. So ließen die Auswirkungen des Krieges, die nationalsozialistische
„Schädlingsmetaphorik“ und der allgemeine Verlust an humanistischen Werten
auch die Wehrmachtjustiz nicht unbeeindruckt. Gleiches galt für den verbreite-
ten und von Hitler aufgegriffenen Vorwurf, die zu nachsichtige Militärgerichts-
barkeit trage Schuld an der militärischen Niederlage des Deutschen Reichs im
Ersten Weltkrieg. Hinzu kam das tradierte Selbstverständnis der Militärgerichts-
barkeit, weniger als Bestrafungs- als vielmehr als Abschreckungsinstanz zu
fungieren (Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933 - 1945, 2005, S. 19 - 22;
Schnackenberg, a.a.O. S. 64 - 71 und 79; Haase, BT, 14. WP, RA, 126. Sitzung
vom 24. April 2002, Protokoll Nr. 126 S. 47; Garbe, in: Pirker/Wenninger
, Wehrmachtsjustiz, 2011, S. 29 <31>; Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels
, a.a.O. S. 187).
(3) Die Aufarbeitung der Rolle der Wehrmachtjustiz im Allgemeinen und der bei
Feldkriegsgerichten in den besetzten Gebieten eingesetzten richterlichen Mili-
tärjustizbeamten im Besonderen ist bei Weitem nicht abgeschlossen. Dement-
sprechend kann eine Bewertung dieser Rolle nur auf dem gegenwärtigen Stand
der militärgeschichtlichen Forschung gründen. Sie steht stets unter dem Vorbe-
halt, dass etwa die voranschreitende Zusammenführung von Personal- und
Verfahrensakten bei dem Bundesarchiv - Militärarchiv - neue Erkenntnisse zu
Tage fördert.
Die militärhistorische Forschung zeichnet ein heterogenes, vielschichtiges Bild
der der richterlichen Militärjustizbeamten und ihrer Straf- und Strafzumessungs-
praxis. Einerseits wird ausgeführt, dass jene in der Masse und als organisatori-
sche Gesamtheit mit dem Regime konform gegangen seien und sich in ihrer
großen Mehrheit so verhalten hätten, wie es das nationalsozialistische Regime
es von ihnen erwartet habe. Manche seien bestrebt gewesen, den Krieg mit
rigiden Strafurteilen zu begleiten (Kalmbach, a.a.O. S. 323; Seidler, Fahnen-
flucht, 1993, S. 151). Für andere hätten Beförderungswünsche, Karrieresucht,
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aber auch die Sorge um die eigene Familie im Vordergrund ihres Handelns ge-
standen (Thomas, a.a.O. S. 48; Gribbohm, NJW 1988, 2842 <2845 f.>). Ande-
rerseits wird darauf hingewiesen, dass sich das Gros der richterlichen Militärjus-
tizbeamten nicht als Nationalsozialisten, sondern als nationalkonservative
Deutsche empfunden habe, die dem „Recht“ verbunden und bereit gewesen
seien, dem „Vaterland in schwerer Stunde zu dienen“ (Thomas, a.a.O. S. 43;
Wulfhorst, BT, 13. WP, RA, 31. Sitzung vom 29. November 1995, Protokoll Nr.
31 S. 87; Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels , a.a.O. S. 188). Daneben
habe es auch richterliche Militärjustizbeamte gegeben, die im Widerstand
gegen Hitler und die NSDAP gestanden hätten (Kalmbach, a.a.O. S. 323;
de Zayas, Humanitäres Völkerrecht 1996, 18 <19>). Allerdings entspräche es
nicht der historischen Realität anzunehmen, die Kriegsgerichtsbarkeit sei ein
gleichsam „unbefleckter“ Teil der nationalsozialistischen Justiz gewesen und
habe gegen die Ziele des Nationalsozialismus Widerstand geleistet. Allgemein
wird davon ausgegangen, dass ein großer Teil der richterlichen Militärjustizbe-
amten strengstes, vielfach übermäßig hartes Kriegsrecht praktiziert hätten, das
formeller und materieller Gerechtigkeit nicht selten in unerträglichem Maße wi-
dersprochen habe (Dietz, Das Primat der Politik in kaiserlicher Armee, Reichs-
wehr, Wehrmacht und Bundeswehr, 2011, S. 492; Messerschmidt/Wüllner,
a.a.O. S. 307; Thomas, a.a.O. S. 194). Selbst Richter, die nicht mit dem natio-
nalsozialistischen Regime sympathisiert hätten, hätten - zumeist befangen in
den Denkstrukturen ihrer Zeit - mit aller Härte gerichtet, wenn sie die Wehrkraft
oder die Disziplin der Truppe gefährdet gesehen hätten (Schnackenberg, a.a.O.
S. 67). Zugleich finden sich jedoch Hinweise auf richterliche Militärjustizbeamte,
die es in ihrem Amt abgelehnt hätten, sich dem Unrechtssystem zu unterwer-
fen, die um Ausgewogenheit bemüht gewesen seien, die ihr Amt mit Augenmaß
ausgeübt und die Auslegungsspielräume zugunsten der Angeklagten ausge-
schöpft hätten (Thomas, a.a.O. S. 46 - 49, 191 und 194; Rass/Quadflieg, in:
Wette/Perels , a.a.O. S. 192; Möller, BT, 13. WP, RA, 31. Sitzung vom
29. November 1995, Protokoll Nr. 31 S. 60). Einem schmalen Segment sei es
gelungen, ihren Dienst zu verrichten, ohne ein Todesurteil zu fällen, bzw. nur
wenige Todesurteile zu verhängen (Wüllner, a.a.O. S. 157 f.) Eine vergleichs-
weise kleine Gruppe habe überdurchschnittlich viele Todesurteile erlassen,
während eine größere Anzahl der Richter durchschnittlich oft auf Todesstrafe
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erkannt habe (Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels , a.a.O. S. 190). Viele
Entscheidungen seien als Unrechtsurteile zu qualifizieren. Dennoch habe es
auch Entscheidungen gegeben, die auch heutigen rechtsstaatlichen Wertmaß-
stäben entsprochen hätten (Gribbohm, Das Reichskriegsgericht, 2003, Rn. 333;
Thomas, a.a.O. S. 191; Steinkamm, BT, 14. WP, RA, 126. Sitzung vom 24.
April 2002, Protokoll Nr. 126 S. 2 f., 72 f.). Konstatiert wird, dass auch ein Ver-
gleich der Straf- bzw. Strafzumessungspraxis der Feldkriegsgerichte in den ver-
schiedenen besetzten Gebieten deutliche Unterschiede offenbar werden lasse
(Thomas, a.a.O. S. 191 f.; Rüping, SGb 1992, 429 <431>; vgl. auch Bohn,
Reichskommissariat Norwegen, 2000, S. 107).
(4) Eine Auswertung der für jedermann ohne besondere Fachkunde aus allge-
mein zugänglichen Quellen zuverlässig zu entnehmenden zeitgeschichtlichen
Erkenntnissen und Erfahrungstatsachen rechtfertigt derzeit nicht die Annahme
einer tatsächlichen Vermutung, dass grundsätzlich jeder bei Feldkriegsgerich-
ten in den besetzten Gebieten eingesetzte richterliche Militärjustizbeamte
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen
hat.
Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft bewirkte eine gleichsam zur Norma-
lität gewordene Perversion nicht nur der Rechtsordnung, sondern auch des
Rechtsdenkens und der Rechtsprechung. Diese spiegelte sich in oftmals dra-
konischen und übermäßigen Strafen und insbesondere in der exzessiven Ver-
hängung der Todesstrafe durch die Kriegsgerichte wider. Zweifelsohne wider-
sprach dieser Teil der Straf- und Strafzumessungspraxis in unerträglichem Ma-
ße den Grundsätzen der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit (BSG, Urteil
vom 11. September 1991 - 9a RV 11/90 -
BSGE 69, 211 <216 und 218>; BGH,
Urteil vom 16. November 1995 - 5 StR 747/94 - BGHSt 41, 317 <326, 329 f. und
339>; Dietz, a.a.O. S. 485). Indes griffe es für die Annahme einer tatsächlichen
Vermutung zu kurz, die Straf- und Strafzumessungspraxis der Feldkriegsgerich-
te in den besetzten Gebieten auf diese Aspekte zu reduzieren. Den Erkenntnis-
sen der historischen Forschung ist auch zu entnehmen, dass neben Unrechts-
urteilen auch rechtsstaatlich vertretbare Entscheidungen gefällt wurden und ein
Teil der richterlichen Militärjustizbeamten - wenn auch eine Minderheit - be-
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strebt war, Unrecht zu vermeiden und Gerechtigkeit sowie Ausgewogenheit
walten zu lassen. Allerdings fehlen hinreichend fundierte Erkenntnisse über die
Größenordnung dieser Ausnahmen. Weder lässt sich mit der gebotenen Ge-
wissheit feststellen, dass die Gruppe der die Grundsätze der Menschlichkeit
oder Rechtsstaatlichkeit wahrenden richterlichen Militärjustizbeamten nur aus
wenigen und im vorliegenden Zusammenhang zu vernachlässigenden Perso-
nen bestand, so dass von der Annahme einer tatsächlichen Vermutung eines
Verstoßes gegen die betreffenden Grundsätze auszugehen wäre, noch ist mit
gleicher Gewissheit auszuschließen, dass die Anzahl der betreffenden Perso-
nen eine Größenordnung erreichte, die der Annahme einer Regelhaftigkeit ent-
gegenstünde. Der Zweck der Unwürdigkeitsklausel des § 1 Abs. 4 AusglLeistG,
diejenigen, die die Hauptverantwortung für die Unrechtsmaßnahmen tragen
bzw. deren Rechtsnachfolger, von der Leistungsgewährung auszuschließen,
wie auch der Umstand, dass das Gesetz der zuständigen Behörde die Feststel-
lungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen des Ausschlussmerkmals zu-
weist, schließen es aus, auf dieser Grundlage von einer tatsächlichen Vermu-
tung zu Lasten des Rechtsvorgängers der Klägerinnen auszugehen. Nichts an-
deres ergäbe sich im vorliegenden Fall, wenn statt der Maßstäbe der „tatsächli-
chen Vermutung“ diejenigen des Anscheinsbeweises angelegt würden.
2. Ohne Verstoß gegen § 1 Abs. 4 Alt. 3 AusglLeistG ist das Verwaltungsgericht
des Weiteren davon ausgegangen, dass der Gewährung einer Ausgleichsleis-
tung auch ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialisti-
schen Systems (a) nicht entgegensteht. Die tatsächlichen Feststellungen des
Verwaltungsgerichts vermögen die Annahme, der Rechtsvorgänger der Kläge-
rinnen habe durch sein Handeln dem nationalsozialistischen System erhebli-
chen Vorschub geleistet, nicht zu stützen (b). Ebenso wenig ist ein erhebliches
Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialistischen Systems tatsächlich zu
vermuten (c).
a) Die Annahme eines erheblichen Vorschubleistens erfordert in objektiver Hin-
sicht, dass nicht nur gelegentlich oder beiläufig, sondern mit einer gewissen
Stetigkeit Handlungen vorgenommen wurden, die dazu geeignet waren, die Be-
dingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des natio-
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nalsozialistischen Systems zu verbessern oder Widerstand gegen dieses Sys-
tem zu unterdrücken, und dies auch zum Ergebnis hatten. Die unterstützende
Tätigkeit muss sich auf spezifische Ziele und Bestrebungen des nationalsozia-
listischen Systems bezogen haben. In subjektiver Hinsicht muss die betreffende
Person in dem Bewusstsein agiert haben, ihr Verhalten könne nicht ganz unbe-
deutend dafür sein, die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder
die Ausbreitung des nationalsozialistischen Systems zu verbessern oder Wider-
stand gegen dieses System zu unterdrücken (stRspr, zuletzt Urteil vom 30. Juni
2010 - BVerwG 5 C 9.09 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 20 Rn. 9 f.). Von
diesen Grundsätzen ist das Verwaltungsgericht ausgegangen.
b) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, es sei nicht festzustellen, dass der
Rechtsvorgänger der Klägerinnen in seiner Person einen Ausschlussgrund im
Sinne des § 1 Abs. 4 Alt. 3 AusglLeistG verwirklicht habe, ist revisionsgericht-
lich nicht zu beanstanden.
Das Verwaltungsgericht hat insoweit allgemeine Grundsätze der Sachverhalts-
und Beweiswürdigung nicht verletzt.
Es hat seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewon-
nen. Der in der dienstlichen Beurteilung enthaltene Hinweis auf die Bereitschaft
des Rechtsvorgängers der Klägerinnen, sich jederzeit rückhaltlos für den natio-
nalsozialistischen Staat einzusetzen, zwingt nicht zu der Annahme eines erheb-
lichen Vorschubleistens. Dies hat das Verwaltungsgericht mit seiner Würdigung,
diese als üblich zu wertende Formulierung beinhalte nichts Greifbares, in knap-
per Form zum Ausdruck gebracht.
Es ist davon auszugehen, dass das Verwaltungsgericht bei seiner Überzeu-
gungsbildung auch die einfache Mitgliedschaft des Rechtsvorgängers der Klä-
gerinnen in der NSDAP und dessen Rang als Truppführer in der Motorstaffel
der SA berücksichtigt hat. Im Tatbestand des angefochtenen Urteils hat es aus-
geführt, jener sei seit 1933 Mitglied der SA/Motorstaffel gewesen und habe seit
1935 den Rang eines Truppführers bekleidet. Zudem sei er seit 1937 Mitglied
der NSDAP gewesen. Dass die Tätigkeit in der Motorstaffel der SA in den Ent-
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scheidungsgründen nicht gesondert gewürdigt wurde, zwingt nicht zu einer ab-
weichenden Wertung. Gleiches gilt, soweit das Verwaltungsgericht auch der
einfachen Mitgliedschaft des Rechtsvorgängers der Klägerinnen in der NSDAP
keine maßgebliche Bedeutung für die individuelle Verwirklichung des Aus-
schlussgrundes des § 1 Abs. 4 Alt. 3 AusglLeistG beigemessen hat.
Revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist es schließlich, dass das Verwal-
tungsgericht gleichsam im Rahmen einer Gesamtwürdigung auch insoweit aus
dem Umstand, dass über die Bearbeitung einzelner Verfahren durch den
Rechtsvorgänger der Klägerinnen nichts bekannt sei, auf das Nichtvorliegen
des Ausschlussgrundes geschlossen hat.
Der Senat ist an die hier in Rede stehenden tatsächlichen Feststellungen ge-
mäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, weil der Beklagte insoweit aus den unter
1. b) bb) (2) dargelegten Gründen keine zulässigen und begründeten Revisions-
rügen erhoben hat.
c) Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht zudem angenommen, ein
erhebliches Vorschubleisten des Rechtsvorgängers der Klägerinnen zugunsten
des nationalsozialistischen Systems lasse sich nicht auf eine tatsächliche Ver-
mutung stützen. Dass eine tatsächliche Vermutung grundsätzlich die Annahme
eines Verstoßes gegen den Ausschlussgrund des § 1 Abs. 4 Alt. 1 AusglLeistG
rechtfertigen kann, ist - wovon auch das Verwaltungsgericht erkennbar ausge-
gangen ist - in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.
Nach dem gegenwärtigen Stand der militärgeschichtlichen Forschung ist eine
solche tatsächliche Vermutung jedoch in Bezug auf richterliche Militärjustizbe-
amte, die bei einem Feldkriegsgericht in den besetzten Gebieten Dienst leiste-
ten, nicht anzunehmen.
Eine solche Anerkennung ist weder unter dem Gesichtspunkt, dass die richterli-
chen Militärjustizbeamten durch ihr Wirken die Eroberung des Gebiets fremder
Staaten durch die Wehrmacht unterstützt hätten (aa) noch mit Blick darauf ge-
rechtfertigt, dass ihre rigide Straf- und Strafzumessungspraxis maßgeblich dazu
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beigetragen hat, Widerstand gegen das nationalsozialistische System zu unter-
drücken (bb).
(aa) Der Zweite Weltkrieg war ein von dem nationalsozialistischen Deutschland
ausgelöster Eroberungs- mit dem sowohl machtpoliti-
sche als auch rassenideologische Ziele verfolgt wurden. Die Wehrmacht sah
sich vor die Aufgabe gestellt, die ihr politisch vorgegebenen spezifisch national-
sozialistischen Ziele, darunter die Ausdehnung des „natürlichen Siedlungs-
raums des deutschen Volkes“, militärisch zu realisieren. Wenngleich die an den
Feldkriegsgerichten in den besetzten Gebieten Dienst leistenden richterlichen
Militärjustizbeamten Teil der Wehrmacht waren, war die Ausübung ihres Amts
nicht gerade auf die Unterstützung dieser spezifischen Ziele und Bestrebungen
des nationalsozialistischen Systems gerichtet (vgl. zum Maßstab Urteil vom
17. März 2005 --<146> = Buchholz
428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 5 S. 11 unter Hinweis auf Urteil vom 9. Mai 1962
--<144>). Hiervon ist auf der Grundlage
des für jedermann ohne besondere Fachkunde aus allgemein zugänglichen
Quellen zuverlässig zu entnehmenden zeitgeschichtlichen Erfahrungswissens
auszugehen.
Aufgabe der Feldkriegsgerichte in den besetzten Gebieten war es, die so ge-
nannte „Manneszucht“, d.h. die Disziplin der Soldaten, und damit den inneren
Zusammenhalt der Truppe, die Schlagkraft und Sicherheit der Wehrmacht wie
auch den Wehrwillen und die Wehrkraft der Bevölkerung zu erhalten und zu
stärken (vgl. Nr. I. der Erläuterungen vom 17. August 1938 zur Verordnung über
das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz, abge-
druckt bei Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg, 1958, S. 179; vgl.
ferner Garbe, in: Pirker/Wenninger , a.a.O. S. 43 f.). Die rigide Straf-
und Strafzumessungspraxis diente insoweit als mächtiges Disziplinierungsins-
trument (Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels , a.a.O. S. 187; Steinbach,
BT, 14. WP, RA, 126. Sitzung vom 24. April 2002, Protokoll Nr. 126 S. 63). Sie
trug wesentlich zum Gehorsam der Soldaten bei. Erfüllten die Angehörigen der
Wehrmachtjustiz auf diese Art die ihnen von dem nationalsozialistischen Re-
gime gestellte Aufgabe (Dietz, a.a.O. S. 491 f.) und wirkten sie hierdurch daran
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mit, das nationalsozialistische System zu stabilisieren (Messerschmidt/Wüllner,
a.a.O. S. 305; Rass/Quadflieg, in: Wette/Perels , a.a.O. S. 190), so war
die Erfüllung ihrer dienstlichen Obliegenheiten nicht gleichsam gerade, mithin
spezifisch dazu bestimmt, die mit dem Eroberungs- und Vernichtungskrieg ver-
bundenen nationalsozialistische Ziele zu verwirklichen. Dies mag die Alliierten
dazu bewogen haben, die Feldkriegsgerichte anders als die übrigen Kriegsge-
richte nicht bereits durch Art. I des Gesetzes Nr. 153 der Militärregierung
Deutschland vom 4. Mai 1945 (ABl der Militärregierung S. 32) abzuschaffen,
sondern erst durch Art. I des Gesetzes Nr. 34 des Kontrollrates vom 20. August
1946 (ABl des Kontrollrats in Deutschland S. 172) als Teil der Streitkräfte zu
Lande, zur See und in der Luft aufzulösen. Dass die richterlichen Militärjustiz-
beamten zudem nicht als Hauptschuldige im Sinne des Art. II der Direktive
Nr. 38 des Kontrollrates vom 12. Oktober 1946 (ABl des Kontrollrats in Deutsch-
land S. 184) eingestuft wurden, während die Richter, Staatsanwälte und Beam-
ten der Partei-, SS- und SA-Gerichte einer sorgfältigen Prüfung auf ihre Haupt-
belastung unterlagen (Anhang „A“ Abschnitt I N. 4 der Direktive Nr. 38 des Kon-
trollrates vom 12. Oktober 1946), steht dieser Sicht zumindest nicht entgegen.
(bb) Zweifelsohne hat die rigide Straf- und Strafzumessungspraxis der Feld-
kriegsgerichte in den besetzten Gebieten maßgeblich dazu beigetragen, als
Widerstand gegen das System gewertete Verhaltensweisen innerhalb der
Wehrmacht wie auch innerhalb der zivilen Strukturen in den besetzten Gebieten
zu bekämpfen und zu unterbinden. Ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten
des nationalsozialistischen Systems ist gleichwohl auch insoweit nicht tatsäch-
lich zu vermuten.
Zwar kann als gesicherte Erkenntnis der militärgeschichtlichen Forschung an-
gesehen werden, dass sich das Gros der an den Feldkriegsgerichten des Hee-
res in den besetzten Gebieten eingesetzten richterlichen Militärjustizbeamten
größtenteils durch das nationalsozialistische System hat instrumentalisieren
lassen (Dietz, a.a.O. S. 492; Thomas, a.a.O. S. 194 f.; Rass/Quadflieg, in:
Wette/Perels , a.a.O. S. 190). Jedoch wird - wie unter 1. c) bb) (4) dar-
gelegt - in der militärgeschichtlichen Forschung in gleicher Weise angenom-
men, dass eine Minderheit bemüht war, ihr Amt nach rechtsstaatlichen Maßstä-
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