Urteil des BVerwG vom 29.09.2010

Staatssekretär, Politische Verfolgung, Landwirtschaft, Regierung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 16.09
VG 2 A 2004/06
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. September 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Häußler
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Greifswald vom 21. April 2009, berichtigt
durch Beschluss vom 15. Juli 2009, aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Verwaltungsgericht Greifswald zurück-
verwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
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G r ü n d e :
I
Die Kläger begehren als Rechtsnachfolger des am 10. November 1971 verstor-
benen Hansjoachim von R. die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die auf
besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgte entschädigungslose Enteignung
eines ca. 1 200 ha großen Gutes sowie eines Brennereibetriebes.
Hansjoachim von R. wurde am 1. Oktober 1888 bei D./Vorpommern geboren.
Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg studierte er Rechtswissenschaft und
Volkswirtschaftslehre und war von 1919 bis 1921 im Preußischen Innenministe-
rium tätig; danach übernahm er die Bewirtschaftung des seiner Familie gehö-
renden Grundbesitzes. Er wurde Vorsitzender des Pommerschen Landbundes
und gehörte dem Vorstand des Reichslandbundes an. Als Mitglied der
Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war er von 1924 bis 1932 Mitglied des
Preußischen Landtages.
Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde
Hansjoachim von R. am 3. Februar 1933 zum Staatssekretär in dem Alfred Hu-
genberg übertragenen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft er-
nannt. Unter dem Minister Richard Walther Darré, der Hugenberg Ende Juni
1933 abgelöst hatte, wurde von R. am 23. September 1933 zunächst in den
einstweiligen und im Januar 1934 in den dauernden Ruhestand versetzt.
Am 30. Juni 1934, dem Tag des sog. „Röhm-Putsches“, wurde von R. durch ein
SS-Kommando gesucht, konnte jedoch fliehen. Im Jahr 1938 fertigte der partei-
interne Nachrichtendienst „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ wegen des
Zusammenschlusses „Reaktionärer Großgrundbesitzer“ einen ausführlichen
Bericht über ihn an. Im Juni 1939 wurde er in einem Verzeichnis des Reichssi-
cherheitshauptamtes im Unterverzeichnis „Rechtsopposition und Reaktion“
aufgeführt. Im Dezember 1943 verurteilte ihn das Landgericht G. wegen verbo-
tenen Umgangs mit Kriegsgefangenen zu einer Gefängnisstrafe von acht Mo-
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naten, weil er an einem christlichen Begräbnis für zwei gefangene sowjetische
Soldaten, die in seinem Betrieb eingesetzt waren, teilgenommen hatte. Das
Reichsgericht hob die Entscheidung im Mai 1944 auf und verwies das Verfah-
ren zur erneuten Verhandlung an ein anderes Landgericht zurück. Zu einer wei-
teren Verhandlung kam es nicht mehr, weil von R. am 21. Juli 1944 verhaftet
wurde und sich bis April 1945 in Gestapo-Haft befand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von R. als Großgrundbesitzer von der
sowjetischen Besatzungsmacht enteignet und zog in die Bundesrepublik
Deutschland. Ein 1953 gestellter Antrag von R. auf Wiedergutmachung natio-
nalsozialistischen Unrechts wegen rechtswidriger Entlassung aus dem öffentli-
chen Dienst hatte keinen Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit
Urteil vom 28. Februar 1963 (BVerwGE 15, 326 ff.) die Abweisung der hierge-
gen gerichteten Klage von R., weil dieser im Sinne des Ausschlusstatbestandes
des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung
des nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes
(BWGöD) den Nationalsozialismus gefördert habe.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands beantragten die Kläger als Erben
von R. eine Entschädigung für den Verlust des durch die Sowjets enteigneten
Familienbesitzes. Mit Bescheid vom 5. Oktober 2006 lehnte der Beklagte den
Antrag der Kläger auf Gewährung einer Entschädigung nach dem Ausgleichs-
leistungsgesetz (AusglLeistG) mit der Begründung ab, von R. habe dem natio-
nalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet und damit den Aus-
schlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG erfüllt. Als Staatssekretär sei er
für das nationalsozialistische System auf höchster Regierungsebene tätig und
damit außerordentlich nützlich gewesen. Von R. habe als bekannter Politiker,
Landwirtschaftsführer und freier Grundbesitzer durch seinen Entschluss,
Staatssekretär im ersten Kabinett Hitler zu werden, den Nationalsozialismus
gefördert. Dass er nach seiner Versetzung in den dauernden Ruhestand politi-
sche Verfolgung durch das NS-Regime erlitten habe, sei unbeachtlich, weil ein
einmal begangenes erhebliches Vorschubleisten durch spätere Abkehr oder
Wiedergutmachungsbemühungen nicht rückgängig gemacht werden könne.
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Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Ein erhebliches
Vorschubleisten ergebe sich in objektiver Hinsicht bereits aus seiner Stellung
und Mitwirkung als Staatssekretär in der ersten Regierung Hitler. In der
Öffentlichkeit sei dadurch der Eindruck erweckt worden, Hitler und die NSDAP
seien vertrauenswürdig. Diese Gründe hätten das Bundesverwaltungsgericht
bereits in seiner Entscheidung vom Februar 1963 veranlasst, ein Fördern des
Nationalsozialismus durch von R. zu bejahen. In der Zeit seiner Regierungsbe-
teiligung seien das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 (RGBl I S. 141)
und andere für die Errichtung des nationalsozialistischen Systems wesentliche
Rechtsakte erlassen worden. Als Mitglied der Regierung Hitler habe er diese
mit zu vertreten. Auch in subjektiver Hinsicht liege ein erhebliches Vorschub-
leisten vor. Zwar könne davon ausgegangen werden, dass er in einem Gegen-
satz zur NSDAP gestanden habe und ebenso wie Hugenberg deren Alleinherr-
schaft habe verhindern wollen. Als erfahrener Politiker habe er die Absichten
der Nationalsozialisten und die Erheblichkeit seines Förderbeitrages jedoch
erkennen können.
Mit ihrer Revision machen die Kläger Rechts- und Verfahrensfehler geltend. Sie
rügen unter anderem eine Verletzung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG im Hinblick
darauf, dass das Verwaltungsgericht aus der Zugehörigkeit von R. zum Kreis
der Staatssekretäre eine hinreichende Indizwirkung für ein erhebliches Vor-
schubleisten abgeleitet habe. Dies widerspreche den Grundsätzen in der Ent-
scheidung des Senats vom 18. September 2009 - BVerwG 5 C 1.09 -
(BVerwGE 135, 1 ff.). Von R. sei der einzige Staatssekretär mit kürzerer Amts-
zeit gewesen, der in seinem Ressort dem Machtanspruch der Nationalsozialis-
ten nachhaltig entgegengetreten, als Gegner des NS-Systems entlassen und
bis 1945 politisch verfolgt worden sei. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht
eine Mitwirkung von R. an den sog. Ermächtigungsgesetzen unterstellt. Er sei
als Staatssekretär nicht Mitglied der Reichsregierung gewesen und habe an der
Beschlussfassung über diese Gesetze im Reichskabinett nicht mitgewirkt. Zu-
mindest werde bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung seines Verhaltens
eine etwaige funktionsbedingte Indizwirkung durch seine konkrete Amtsführung
und die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten entkräf-
tet.
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Der Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
II
Die Revision der Kläger, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten
ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1
i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Das angefochtene Urteil steht mit Bun-
desrecht nicht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es beruht auf einer un-
richtigen Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG. Weil die für
eine abschließende Entscheidung erforderlichen Tatsachen nicht hinreichend
festgestellt sind, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Damit bedarf es
keiner Entscheidung über die von der Revision vorgebrachten Verfahrensrügen.
1. Ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen ist nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG aus-
geschlossen, wenn der Betreffende dem nationalsozialistischen System erheb-
lichen Vorschub geleistet hat. Wie das Bundesverwaltungsgericht im Fall des
DNVP-Vorsitzenden und Reichsministers Alfred Hugenberg entschieden hat,
setzt ein erhebliches Vorschubleisten nicht voraus, dass der Betreffende
NSDAP-Mitglied gewesen ist. Ein erhebliches Vorschubleisten ist auch bereits
in der Phase der Errichtung des nationalsozialistischen Systems möglich gewe-
sen und nicht erst nach dessen Etablierung (Urteil vom 17. März 2005
- BVerwG 3 C 20.04 - BVerwGE 123, 142 <144>). In objektiver Hinsicht greift
der Anspruchsausschluss des erheblichen Vorschubleistens ein, wenn nicht nur
gelegentlich oder beiläufig, sondern mit einer gewissen Stetigkeit Handlungen
vorgenommen wurden, die dazu geeignet waren, die Bedingungen für die Er-
richtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des nationalsozialistischen Sys-
tems zu verbessern oder Widerstand gegen dieses System zu unterdrücken,
und dies auch zum Ergebnis hatten. Der Nutzen, den das Regime aus dem
Handeln des Betroffenen gezogen hat, darf nicht nur ganz unbedeutend gewe-
sen sein (stRspr, zuletzt Urteile vom 18. September 2009 - BVerwG 5 C 1.09 -
BVerwGE 135, 1 <3> und vom 30. Juni 2010 - BVerwG 5 C 9.09 - juris Rn. 9).
In subjektiver Hinsicht ist ein wissentliches und willentliches Handeln zugunsten
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des nationalsozialistischen Systems erforderlich, aber auch ausreichend. Un-
schädlich ist es, wenn der Betreffende mit seinem das nationalsozialistische
System erheblich begünstigenden Handeln zugleich eigene andere Ziele ver-
folgte. Denn wer eigene politische Ziele verfolgt, kann damit zugleich auch wis-
sentlich und willentlich die politischen Ziele eines anderen fördern (stRspr, zu-
letzt Urteil vom 30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 10). Schließlich ist bei der Prüfung der
Erheblichkeit des Vorschubleistens auch ein Verhalten zu berücksichtigen, das
darauf gerichtet war, die Ziele des nationalsozialistischen Unrechtssytems
nachhaltig zu untergraben oder einen sonstigen gewichtigen Schaden für das
System herbeizuführen. Insofern ist eine Gesamtbetrachtung und Gesamtwür-
digung des Verhaltens in der NS-Zeit erforderlich (ausführlich: Urteil vom
30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 11).
2. Das angegriffene Urteil entspricht diesen teilweise erst nach seinem Erlass
entwickelten Maßstäben nicht in vollem Umfang. Zum einen reichen die verwal-
tungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen jedenfalls derzeit nicht für die An-
nahme aus, dass von R. als Staatssekretär das nationalsozialistische System in
oben beschriebener Weise wesentlich und nachhaltig unterstützt hat (2.1). Zum
anderen fehlt die für eine Gesamtbetrachtung erforderliche Befassung mit der
von der Klägerseite vorgetragenen politischen Distanzierung und persönlichen
Verfolgung von R. durch das NS-Regime (2.2).
2.1 Eine Verletzung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG liegt darin, dass die vom Ver-
waltungsgericht festgestellten Tatsachen für eine Bewertung des Verhaltens
von R. als „erhebliches Vorschubleisten“ nicht ausreichen. Für eine solche Be-
wertung genügen weder die festgestellten Tatsachen zu dessen konkreten
Handeln und Wirken noch ist ein Rückgriff auf eine objektive Indizwirkung mög-
lich.
a) Das Verwaltungsgericht hat die näheren Umstände, die zur Berufung von R.
zum Staatssekretär im ersten Kabinett Hitler geführt haben, nicht aufgeklärt. Es
hat sich insbesondere nicht mit der Frage beschäftigt, ob sich von R. öffentlich
oder innerhalb der DNVP für die Koalition mit der NSDAP eingesetzt hat. Es ist
lediglich davon ausgegangen, dass von R. bereits durch den Eintritt in das Ka-
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binett Hitler objektiv betrachtet an der Regierungsbildung Hitlers beteiligt gewe-
sen ist und mit seinem Renommee zur Akzeptanz der neuen Regierung in der
Bevölkerung beigetragen hat. Dass in diesem Verhalten von R. bei korrekter
tatrichterlicher Würdigung aller Umstände eine Förderung des NS-Regimes
gesehen werden kann, hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im Urteil vom
28. Februar 1963 - BVerwG 8 C 81.61 - (BVerwGE 15, 326 <328 f.>) ausge-
führt. Das Verwaltungsgericht hat sich allerdings nicht mit den historischen
Einwänden der Klägerseite gegen die der damaligen Gerichtsentscheidung zu
Grunde liegenden Tatsachenfeststellungen befasst, obwohl die Kläger ihren
Vortrag durch Vorlage eines historischen Parteigutachtens untermauert haben.
Das Verwaltungsgericht hat auch nicht selbstständig tragend ausgeführt, dass
und weshalb in der Übernahme der Stellung eines beamteten Staatssekretärs
im Jahr 1933 ein über ein einfaches Fördern hinausgehendes, gewichtiges und
nachhaltiges Vorschubleisten im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG liegt. Über
die Tätigkeit eines beamteten Staatssekretärs in späteren Kabinetten oder in
anderen Ressorts ist hier nicht zu befinden.
Die Annahme des erheblichen Vorschubleistens ist auf der vorhandenen Tat-
sachengrundlage auch nicht schon wegen seiner dienstlichen Tätigkeit als
Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft möglich.
Eine historische Überprüfung seiner konkreten amtlichen Tätigkeit ist
- entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - nicht deswegen entbehrlich,
weil von R. als Staatssekretär zwangsläufig an den während seiner Amtszeit
vom ersten Kabinett Hitler verabschiedeten Machtergreifungsakten - wie dem
Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, den Gleichschaltungsgesetzen vom
31. März und vom 7. April 1933 sowie dem Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 - mitgewirkt habe. Denn von R. war an-
ders als Hugenberg nicht als Reichsminister nach Art. 52 WRV Mitglied der
Reichsregierung. Als Staatssekretär war von R. oberster Beamter des Reichs-
ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Er durfte nach § 30 der Ge-
schäftsordnung der Reichsregierung (vom 3. Mai 1924 i.d.F. der
Änderung vom 12. April 1926 ) nur im Vertretungsfall - bei Ver-
hinderung des Reichsministers - stimmberechtigt an den Sitzungen der
Reichsregierung teilnehmen. Diese Regelung schloss die beratende Hinzuzie-
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hung der Staatssekretäre zu den übrigen Kabinettssitzungen nicht aus, be-
gründete aber keine Vermutung für deren regelmäßige Teilnahme an allen Sit-
zungen der Reichsregierung; dass die Regierung Hitler im Jahr 1933 eine ab-
weichende Praxis hierzu entwickelt hätte, ist nicht vorgetragen oder festgestellt.
Daher können die Gründe, die im Fall Hugenberg für ein erhebliches Vorschub-
leisten angeführt worden sind, nicht unbesehen auf den Fall von R. übertragen
werden. Dass jeder Staatssekretär - und damit auch der Staatssekretär im Mi-
nisterium für Ernährung und Landwirtschaft - maßgeblich an der Vorbereitung
der Ermächtigungsgesetze beteiligt gewesen ist, ergibt sich ferner nicht aus den
vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen. Vielmehr bedarf es einer
konkreten historischen Untersuchung (etwa anhand der Kabinettsprotokolle, der
einschlägigen Presseberichte und der ansonsten zur Verfügung stehenden
Materialien), ob von R. bei der Beschlussfassung über die genannten Gesetze
teilgenommen, beratend oder stellvertretend mitgewirkt oder durch Rechtferti-
gung der genannten Gesetze nach außen die sog. Machtergreifung erheblich
unterstützt hat.
b) Eine nähere Überprüfung des dienstlichen Verhaltens von R. ist auch nicht
deswegen entbehrlich, weil sich bereits aus seiner Stellung als Staatssekretär
im ersten Kabinett Hitler eine tatsächliche Vermutung (objektive Indizwirkung)
für ein erhebliches Vorschubleisten ergäbe. Das Bundesverwaltungsgericht hat
bislang eine objektive Indizwirkung bei einer hauptamtlichen Tätigkeit in der
Gestapo (Urteil vom 26. Februar 2009 - BVerwG 5 C 4.08 - Buchholz 428.4 § 1
AusglLeistG Nr. 16 Rn. 16), der SS (Urteil vom 14. Mai 2009 - BVerwG 5 C
15.08 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 18 Rn. 18 ff.) und bei der Wahr-
nehmung einer herausgehobenen Funktion in der NSDAP angenommen, wenn
die Funktion über einen längeren Zeitraum hinweg und im Sinne der Partei be-
anstandungsfrei ausgeübt worden ist (Urteil vom 19. Oktober 2006 - BVerwG
3 C 39.05 - BVerwGE 127, 56 <61>). Denn dies lässt den Schluss zu, der
Betreffende habe im Rahmen seiner amts- und funktionsgerechten Tätigkeit in
einer für das NS-System tragenden Organisation auch Handlungen begangen,
die nach Art und Umfang dem nationalsozialistischem System erheblichen Vor-
schub geleistet haben.
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Ob sich hingegen aus einer länger andauernden Tätigkeit als Staatssekretär
während des nationalsozialistischen Regimes angesichts des besonderen Nä-
heverhältnisses zu den politischen Entscheidungsträgern eine objektive Indiz-
wirkung herleiten lässt, bedarf im vorliegenden Fall keiner Vertiefung. Denn von
R. wurde unbestritten bereits nach sieben Monaten wegen politischer Differen-
zen vom Dienst suspendiert. Er war auch nicht Mitglied der NSDAP, sondern
wurde auf Wunsch des DNVP-Vorsitzenden Hugenberg zum Staatssekretär
berufen. Sein Fall ist daher so atypisch gelagert, dass ein Rückgriff auf die bei
längerer Tätigkeit als Staatssekretär in der NS-Zeit jedenfalls naheliegende
Vermutung einer erheblichen Verstrickung in das NS-System kaum möglich
sein dürfte.
2.2 Auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, ein etwaiges (späteres) sys-
temschädigendes Verhalten des Betreffenden sei grundsätzlich nicht zu be-
rücksichtigen, verletzt Bundesrecht. Dies widerspricht dem Grundanliegen des
§ 1 Abs. 4 AusglLeistG, der nur den Ausschluss der Hauptverantwortlichen des
NS-Unrechtssystems bezweckt und daher eine Gesamtbetrachtung und Ge-
samtwürdigung des Verhaltens in der NS-Zeit erforderlich macht (vgl. Urteile
vom 18. September 2009 a.a.O. <4 ff.> und vom 30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 11).
Auf diesem Fehler beruht das Urteil auch, weil es den Vortrag der Kläger zu
einem systemschädlichen Verhalten von R. in der NS-Zeit nicht geprüft und
keine Gesamtbewertung vorgenommen hat.
3. Der Senat kann auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht
selbst entscheiden, ob sich das Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis als
richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die bislang vom Verwaltungsgericht fest-
gestellten Tatsachen erlauben keine abschließende - zudem in erster Linie dem
Tatrichter vorbehaltene - Beurteilung, ob von R. bei einer Gesamtwürdigung
seines Verhaltens in seiner Person den Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4
AusglLeistG insgesamt erfüllt hat oder nicht.
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Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Verwaltungsge-
richt im Rahmen einer umfassenden Prüfung zunächst das konkrete Verhalten
von R. im Vorfeld des 30. Januar 1933 dahingehend würdigen muss, ob es eine
gewichtige Förderung des nationalsozialistischen Systems darstellt. Es muss
die politischen Begleitumstände der Ernennung von R. zum Staatssekretär am
3. Februar 1933 ermitteln, die von seinem Eintritt in das Kabinett Hitler aus-
gehenden Wirkungen auf die Öffentlichkeit und ihren etwaigen Beitrag zur
Etablierung und Stützung des nationalsozialistischen Systems berücksichtigen
und auch der Frage nachgehen, ob und wie von R. sich im anschließenden
Reichstagswahlkampf für die Fortführung der Reichsregierung unter Hitler stark
gemacht hat. Dabei wird es sich auch mit dem Vorbringen der Kläger ausei-
nanderzusetzen haben, dass die im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
28. Februar 1963 (BVerwG 8 C 81.61) revisionsgerichtlich nicht beanstandeten
tatrichterlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nord-
rhein-Westfalen (Urteil vom 12. Januar 1961 - I A 1767/56) auf Grund neuerer
zeitgeschichtlicher Erkenntnisse nicht mehr haltbar seien. Da in diesem Urteil
zahlreiche Bezugnahmen auf vorgelegte Urkunden und abgegebene Erklärun-
gen von Zeitzeugen enthalten sind, wird auch die Möglichkeit der Beiziehung
dieser Akte zu prüfen sein.
Ferner hat das Verwaltungsgericht die konkrete Amtsausübung von R. während
seiner Tätigkeit als Staatssekretär zu ermitteln und zu würdigen. Dies gilt ins-
besondere für die bisher nur unterstellte Mitwirkung beim Erlass der sog. Er-
mächtigungsgesetze. Dabei ist auch der Frage nachzugehen, ob er gegenüber
der Öffentlichkeit die sog. Machtergreifung gerechtfertigt hat und welches Bild
von R. durch die (nationalsozialistischen) Medien gezeichnet worden ist. Im
Rahmen der Tatsachenermittlung wird das Verwaltungsgericht nicht nur das
von der Klägerseite vorgelegte historische Parteigutachten auswerten, sondern
angesichts der Quellenlage auch prüfen müssen, ob es ggf. selbst ein Sach-
verständigengutachten einholt.
In rechtlicher Hinsicht ist zudem zu beachten, dass die o.g. Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 1963 den Ausschlusstatbestand des
§ 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BWGöD („Fördern des Nationalsozialismus“) zum Ge-
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genstand hat, der sich von dem hier maßgeblichen Ausschlusstatbestand des
§ 1 Abs. 4 AusglLeistG insoweit unterscheidet, als er eine niedrigere Intensität
und Wirkung der Unterstützung des nationalsozialistischen Systems verlangt
als ein erhebliches Vorschubleisten im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG (vgl.
Urteil vom 17. März 2005 a.a.O. <145 f.>).
Sollte sich das Verwaltungsgericht davon überzeugen können, dass systemför-
dernde Handlungen von R. vorliegen, die - für sich gesehen oder in ihrer Ge-
samtheit betrachtet - geeignet sind, ein erhebliches Vorschubleisten im Sinne
des § 1 Abs. 4 AusglLeistG zu bejahen, so müsste es weiterhin ermitteln, ob er
sich in einer Weise systemschädigend verhalten hat, dass bei einer Gesamt-
würdigung der Ausschlussgrund des § 1 Abs. 4 AusglLeistG nicht eingreift. Wie
der Senat in der Entscheidung vom 18. September 2009 ausgeführt hat, wird
sich jemand, der an bedeutsamer Stelle zur Etablierung und Stützung des nati-
onalsozialistischen Systems beigetragen hat, hiervon allerdings - wenn über-
haupt - nur durch nachweislich besonders gewichtige systemschädigende
Handlungen entlasten können. Eine bloße innere Reserviertheit oder Abneigung
gegenüber dem System, die sich nicht in nennenswerten Handlungen nach
außen manifestiert hat, kann insoweit ebenso wenig ins Gewicht fallen wie eine
im Zeitverlauf lediglich nachlassende Unterstützung oder eine Abwendung von
den Systemzielen in späteren Phasen des NS-Regimes. Demgegenüber ist es
für die Gewichtung der systemschädlichen Handlungen aber etwa auch von
Bedeutung, ob und ggf. in welcher Weise sich die betreffende Person durch ihr
auf die Schädigung des Systems gerichtetes Verhalten konkreten Gefahren
nicht nur für ihre berufliche Stellung ausgesetzt hat. Dabei sind Handlungen, die
darauf gerichtet waren, die Ziele des nationalsozialistischen Unrechtssystems
nachhaltig zu untergraben oder einen sonstigen gewichtigen Schaden für das
System herbeizuführen, auch dann bedeutsam, wenn der beabsichtigte Scha-
denserfolg nicht oder nicht kausal durch das Verhalten der betreffenden Person
eingetreten ist (Urteile vom 18. September 2009 a.a.O. <7> und vom 30. Juni
2010 a.a.O. Rn. 19).
Um eine abschließende Gesamtbetrachtung und -würdigung vornehmen zu
können, wird das Verwaltungsgericht danach ggf. auch zu untersuchen haben,
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ob und in welchem Maße von R. tatsächlich während seiner Amtszeit dem
nationalsozialistischen System entgegengetreten ist, etwa durch eine Weige-
rung, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf die Beam-
ten des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft anzuwenden
oder durch eine Blockierung des Reichserbhofgesetzes und anderer spezifisch
nationalsozialistischer Ziele. Auch das Verhalten von R. nach seiner Entlassung
aus dem Amt des Staatssekretärs ist daraufhin zu überprüfen, ob und ggf. in
welchem Umfang er damit zur Schädigung des NS-Systems beigetragen hat.
Hund Prof. Dr. Berlit Stengelhofen
Dr. Störmer Dr. Häußler
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren wird auf 50 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG).
Hund Prof. Dr. Berlit Dr. Häußler