Urteil des BVerwG vom 25.03.2010

Nichtigerklärung, Entschädigung, Trennung Von Verfahren, Grundsatz der Spezialität

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 15.09
VG 4 A 390.07
Verkündet
am 25. März 2010
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Brunn, Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Berlin vom 17. Oktober 2008 wird zurück-
gewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin begehrt als Erbin ihrer im Jahre 2000 verstorbenen Mutter Ent-
schädigung für einen in der früheren Deutschen Demokratischen Republik
durch Eigentumsverzicht aufgegebenen Miteigentumsanteil an einem Miet-
hausgrundstück in Berlin-Mitte.
Im September 1986 verzichtete die Mutter der Klägerin aufgrund nicht kosten-
deckender Mieten und infolgedessen eingetretener Überschuldung auf ihr hälf-
tiges Miteigentum an dem 2 240 m² großen Grundstück, welches daraufhin mit
Wirkung zum 1. Januar 1987 in Volkseigentum überführt wurde.
Der Antrag der Mutter der Klägerin auf Rückübertragung des Grundstücks wur-
de im Jahre 1994 bestandskräftig abgelehnt. Zwar sei die Mutter der Klägerin
gemäß § 1 Abs. 2 VermG dem Grunde nach anspruchsberechtigt. Eine Rück-
übertragung scheitere aber an § 3 Abs. 2 VermG, da es einen (vorrangig) Be-
rechtigten im Sinne von § 1 Abs. 6 VermG gebe.
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Unter dem 12. Februar 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Ent-
schädigung. Mit Bescheid vom 31. Juli 2006 lehnte das Landesamt zur Rege-
lung offener Vermögensfragen den Entschädigungsantrag ab, weil dieser nicht
innerhalb der Ausschlussfrist des § 7a Abs. 3c VermG, § 12 EntschG gestellt
worden sei.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss des
Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen mit Bescheid vom
6. September 2007 zurück. Der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht
§ 1 Abs. 3 EntschG erst im Jahre 2001 für nichtig erklärt und damit die Voraus-
setzungen für die Gewährung einer Entschädigung geschaffen habe, entbinde
die Klägerin nicht von der Einhaltung der gesetzlichen Ausschlussfrist. Eine
Nachsichtgewährung wegen der versäumten Frist scheide aus. Ein derartiges
Begehren sei dem Antrag vom Februar 2006 nicht zu entnehmen.
Mit Urteil vom 17. Oktober 2008 hat das Verwaltungsgericht die hiergegen ge-
richtete Klage abgewiesen. Die Klägerin habe die Entschädigung entgegen der
sich aus § 7a Abs. 3c, § 7a Abs. 3b Satz 5 VermG, § 12 Abs. 1 Satz 4 EntschG
ergebenden Verpflichtung nicht bis zum 31. Dezember 1995 bzw. innerhalb von
sechs Monaten nach bestandskräftiger ablehnender Restitutionsentscheidung
beantragt. Die von der Klägerin begehrte Nachsicht wegen Versäumung der
Antragsfrist könne nicht gewährt werden, da bereits kein staatliches Fehlverhal-
ten feststellbar sei. Die zitierte gesetzliche Fristenregelung sei auch nicht ver-
fassungswidrig. Die Beantragung einer Entschädigung bis zum Ablauf des Jah-
res 1995 habe als sinnlos erscheinen müssen, weil § 1 Abs. 3 EntschG die Ent-
schädigung für Fälle des Eigentumsverzichts kraft Gesetzes ausgeschlossen
habe. Doch abgesehen davon, dass die Klägerseite nicht gehindert gewesen
sei, ungeachtet des § 1 Abs. 3 EntschG einen Entschädigungsantrag zu stellen,
sei der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet gewesen, eine
neue Antragsfrist zu eröffnen. Eine verfassungskonforme Auslegung der zitier-
ten gesetzlichen Fristenregelung dahingehend, dass die Frist jedenfalls für die
Klägerin nicht gelte, sei unvertretbar. Bei Außerachtlassung der sonstigen Be-
denken könnte eine im Wege der Auslegung zu ermittelnde, für die Klägerin
geltende Fristenregelung nur dahin lauten, dass der Entschädigungsantrag
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spätestens innerhalb von sechs Monaten nach der am 13. Dezember 2001 er-
folgten Veröffentlichung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
10. Oktober 2001 im Bundesgesetzblatt zu stellen gewesen sei. Auch diese
Frist habe die Klägerin aber nicht gewahrt.
Die Revision macht Rechts- und Verfahrensfehler geltend. In erster Linie vertritt
sie den Standpunkt, dass diejenigen Zweitgeschädigten, die erst durch die
Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG Entschädigungsbegehren geltend
machen konnten, im Hinblick auf laufende bzw. abgelaufene gesetzliche Aus-
schlussfristen anders behandelt werden müssten als andere Zweitgeschädigte,
denen eine rechtzeitige Antragstellung möglich gewesen wäre. Zumindest
müssten die Regeln über eine Nachsichtgewährung zu ihren Gunsten herange-
zogen werden.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht
entschieden, dass der Klägerin mangels fristgerechter Geltendmachung kein
durchsetzbarer Entschädigungsanspruch zusteht (1) und ihr wegen Versäu-
mung der Antragsfrist keine Nachsicht zu gewähren ist (2). Die von der Klägerin
vorgebrachten Verfahrensrügen haben keinen Erfolg (3).
1. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 des zum 1. Dezember 1994
in Kraft getretenen Entschädigungsgesetzes (vgl. Art. 1 des Entschädigungs-
und Ausgleichsleistungsgesetzes vom 27. September 1994 )
hat ein Berechtigter im Sinne des Gesetzes zur Regelung offener Vermögens-
fragen, dessen Anspruch auf Restitution gemäß § 3 Abs. 2 VermG wegen eines
(vorrangigen) Anspruchs nach § 1 Abs. 6 VermG ausgeschlossen ist, einen
Anspruch auf Entschädigung, wenn er den Vermögenswert in redlicher Weise
erworben hat. Nach der zeitgleich in Kraft getretenen, vom Bundesverfas-
sungsgericht zwischenzeitlich mit Beschluss vom 10. Oktober 2001 - 1 BvL
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17/00 - (BVerfGE 104, 74) für nichtig erklärten Vorschrift des § 1 Abs. 3
EntschG sollte für Grundstücke im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG, die durch Ei-
gentumsverzicht in Volkseigentum überführt wurden, keine Entschädigung ge-
währt werden. Der Entschädigungsanspruch ist nicht rechtzeitig geltend ge-
macht worden. Dabei kann offenbleiben, ob die Rechtsvorgängerin der Klägerin
als Berechtigte im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG, deren Eigentum an einem be-
bauten Grundstück und Gebäude aufgrund nicht kostendeckender Mieten und
infolgedessen eingetretener Überschuldung durch Eigentumsverzicht in Volks-
eigentum übernommen wurde, trotz der Regelung des § 1 Abs. 3 EntschG be-
reits mit dem Inkrafttreten des Entschädigungsgesetzes dem Grunde nach ei-
nen Entschädigungsanspruch nach § 1 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1
EntschG erworben hat, den sie infolge des § 1 Abs. 3 EntschG zunächst nicht
(erfolgversprechend) durchsetzen konnte (1.1) oder ob ihr Entschädigungsan-
spruch erstmals durch die Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG zur Entste-
hung gelangt ist (1.2).
1.1 Die mit Inkrafttreten des Entschädigungsgesetzes am 1. Dezember 1994
entstandenen Entschädigungsansprüche unterlagen unmittelbar der zeitgleich
in Kraft getretenen Bestimmung des § 12 Abs. 1 Satz 3 und 4 EntschG (wort-
gleich mit § 12 Abs. 1 Satz 4 und 5 EntschG in der seit dem 1. Januar 2006
geltenden Fassung). Diese enthielt eine klare und bestimmte Fristenregelung,
die mangels einer Differenzierung nach Schädigungstatbeständen für die Gel-
tendmachung aller Entschädigungsansprüche galt. Ein Antrag auf Entschädi-
gung konnte danach nur bis zum Ablauf des sechsten Monats nach Eintritt der
Bestandskraft oder Rechtskraft der Entscheidung nach dem Vermögensgesetz
gestellt werden (Ausschlussfrist). Die Antragsfrist endete frühestens mit Ablauf
des sechsten Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes, d.h. mit dem Ablauf des
31. Mai 1995.
Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob die Frist des § 12
Abs. 1 Satz 3 und 4 EntschG nach dem Grundsatz der Spezialität von der durch
das Gesetz zur Anpassung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften vom
4. Juli 1995 (BGBl I S. 895) mit Wirkung zum 9. Juli 1995 eingefügten Aus-
schlussfrist des § 7a Abs. 3c Satz 2 i.V.m. § 7a Abs. 3b Satz 4 und 5 VermG
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(vgl. hierzu Beschluss vom 1. Februar 2006 - BVerwG 3 B 90.05 - Buchholz 428
§ 7a VermG Nr. 8) verdrängt worden ist, weil Letztere ausdrücklich den
Personenkreis erfasst, der nach § 3 Abs. 2 VermG wegen eines Anspruchs
nach § 1 Abs. 6 VermG von der Rückübertragung ausgeschlossen ist. Denn
beide Vorschriften normieren im entscheidungserheblichen Kern überein-
stimmende Antragsfristen. Auch nach § 7a Abs. 3c Satz 2 i.V.m. § 7a Abs. 3b
Satz 4 VermG ist der Antrag auf Entschädigung vorbehaltlich des § 7a Abs. 3b
Satz 5 VermG nur bis zum Ablauf des sechsten Monats nach Eintritt der Be-
standskraft der Entscheidung, mit der die Rückübertragung nach § 3 Abs. 2
VermG abgelehnt wird, zulässig. Nach § 7a Abs. 3b Satz 5 VermG endete die
Antragsfrist - mit Rücksicht auf das im Vergleich zum Entschädigungs- und
Ausgleichsleistungsgesetz vom 27. September 1994 spätere Inkrafttreten des
Gesetzes zur Anpassung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften vom
4. Juli 1995 - frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 1995.
Die Fristbestimmungen des § 12 Abs. 1 Satz 3 EntschG bzw. des § 7a Abs. 3c
Satz 2 i.V.m. § 7a Abs. 3b Satz 4 VermG sind indessen bezüglich der Berech-
tigten im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG, die bis zur Nichtigerklärung des § 1
Abs. 3 EntschG keinen Antrag auf Entschädigung gestellt haben, wegen des
gesetzlich angeordneten Ausschlusses einer Entschädigung während der ge-
samten Zeit des Fristenlaufs mit Rücksicht auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungs-
konform einzuschränken. Im Hinblick auf die erst später festgestellte Verfas-
sungswidrigkeit des Anspruchsausschlusses ist deswegen für den Beginn der
Ausschlussfrist die Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG durch das Bun-
desverfassungsgericht maßgebend. Der Bürger muss sich grundsätzlich auf die
Geltung der erlassenen Gesetze verlassen dürfen und sein Verhalten nicht an
deren (später festgestellten) Verfassungswidrigkeit ausrichten (vgl. BVerfG, Be-
schluss vom 16. Januar 1980 - 1 BvR 127, 679/78 - BVerfGE 53, 115 <130>).
Angesichts des Ausgleichszwecks der Entschädigungsleistung ist es nicht
gerechtfertigt, die Folgen der festgestellten Verfassungswidrigkeit des
Ausschlusstatbestandes nur jenen Betroffenen zu Gute kommen zu lassen, die
bereits fristgerecht einen Antrag gestellt haben. Gleiches muss vielmehr auch
für die hier zu beurteilende Fallkonstellation gelten. Es darf sich nicht zu Lasten
der Adressaten des § 1 Abs. 3 EntschG auswirken, wenn diese bis zur Nichtig-
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erklärung des § 1 Abs. 3 EntschG durch das Bundesverfassungsgericht von der
Beantragung einer Entschädigung abgesehen haben, die wegen des gesetzlich
angeordneten Anspruchsausschlusses als aussichtslos erscheinen musste. Sie
sind vielmehr durch das Hinausschieben des für den Fristbeginn maßgeblichen
Zeitpunkts den Personen gleichzustellen, die ihren Anspruch auf Entschädigung
infolge eines zum Zeitpunkt der Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG noch
nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossenen vermögensrechtlichen
Verfahrens noch verfolgen konnten bzw. können. Die Herstellung der Gleichheit
wird dadurch gewährleistet, dass die Antragsfrist für die betreffenden Personen
frühestens mit Ablauf des sechsten Monats nach der Nichtigerklärung des § 1
Abs. 3 EntschG endet. Dabei bedarf es im vorliegenden Verfahren keiner ab-
schließenden Klärung, ob insoweit auf den Zeitpunkt des Erlasses des
Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (10. Oktober 2001) oder den Zeit-
punkt seiner Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt (13. Dezember 2001
) abzustellen ist. Denn der Entschädigungsantrag der Klägerin
ist erst über vier Jahre später am 12. Februar 2006 und damit in keinem Fall
fristgerecht gestellt worden.
1.2 Im Ergebnis gilt nichts Anderes, wenn der Entschädigungsanspruch nach
§ 1 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 EntschG erst mit der Nichtigerklärung
des § 1 Abs. 3 EntschG entstanden ist. Zwar sind Ausschlussfristen - wie § 12
Abs. 1 Satz 3 EntschG bzw. des § 7a Abs. 3c Satz 2 i.V.m. § 7a Abs. 3b Satz 4
VermG -, deren Nichteinhaltung zum Verlust einer materiellrechtlichen Rechts-
position führt, regelmäßig einer analogen Anwendung nicht zugänglich. Viel-
mehr muss eine solche Frist grundsätzlich vom Gesetzgeber bestimmt werden
(vgl. z.B. Urteil vom 22. Oktober 1993 - BVerwG 6 C 10.92 - Buchholz 421 Kul-
tur- und Schulwesen Nr. 111). Dies gilt jedoch nach den vom Bundesverfas-
sungsgericht in seinem Beschluss vom 16. Januar 1980 - 1 BvR 127 und
679/78 - (a.a.O.) aufgestellten Maßstäben nicht für die hier zu beurteilende Fall-
konstellation.
Der hier vorliegende Fall ist in Bezug auf die Schutzwürdigkeit des Vertrauens
in eine unbefristete Antragstellung mit der vom Bundesverfassungsgericht in
seinem Beschluss vom 16. Januar 1980 (a.a.O.) entschiedenen Sachlage ver-
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gleichbar. Die Beschwerdeführer jenes Verfahrens hatten die Ausschlussfrist
des § 190a Abs. 1 Satz 1 Bundesentschädigungsgesetz - BEG - zur Substan-
tiierung (vgl. § 190a Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 189 Abs. 3 BEG) von Entschädi-
gungsansprüchen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung nicht gewahrt,
weil ihnen ihr Anspruch auf Entschädigung nach dessen Anmeldung durch die
Neufassung des § 150 BEG rückwirkend entzogen wurde und sie im Vertrauen
auf die Gültigkeit dieser Vorschrift eine Substantiierung innerhalb der gesetzlich
vorgeschriebenen Frist unterließen. Als § 150 BEG für nichtig erklärt wurde, war
die Substantiierungsfrist des § 190a Abs. 1 Satz 1 BEG bereits abgelaufen. Das
Bundesverfassungsgericht legte die Vorschrift des § 190a BEG dahingehend
aus, dass sie die vorstehende Fallgestaltung nicht erfasse, sondern insoweit
von einer durch die Fachgerichte zu schließenden Gesetzeslücke auszugehen
sei. Es führte aus, es würde den Zielen des Wiedergutmachungsrechts
widerstreiten, durch die Fristenregelung eine beschleunigte Abwicklung der gel-
tend gemachten Ansprüche und einen endgültigen Abschluss der Wiedergut-
machung innerhalb eines vertretbaren Zeitraums zu ermöglichen, wenn für die
Substantiierung der in Rede stehenden Ansprüche mangels unmittelbarer An-
wendbarkeit des § 190a Abs. 1 Satz 1 BEG keinerlei Frist gelte. Es sei daher
verfassungsrechtlich unbedenklich, eine Substantiierung binnen angemessener
Frist nach der Nichtigerklärung des § 150 BEG zu verlangen. Die Frage, welche
Frist angemessen sei, sei von den Fachgerichten zu beantworten, wobei es
naheliege, sich an die Fristenregelungen des Bundesentschädigungsgesetzes
anzulehnen.
Diese Überlegungen sind hier übertragbar. Die Möglichkeit einer unbefristeten
Antragstellung in Fällen der vorliegenden Art widerspräche den Zielen des Ent-
schädigungsrechts. Die Ausschlussfristen für die Anmeldung von Rückübertra-
gungs- und Entschädigungsansprüchen dienen in vergleichbarer Weise wie die
Fristen des Bundesentschädigungsgesetzes dem Interesse, die vermögens-
und entschädigungsrechtlichen Verfahren innerhalb eines vertretbaren Zeit-
raums abzuschließen. Hinsichtlich der Entschädigungsansprüche soll damit
auch dem fiskalischen Interesse Rechnung getragen werden, angesichts der
angespannten Haushaltslage zum Zweck der Finanzplanung einen möglichst
genauen Überblick über bestehende Entschädigungsansprüche zu erhalten und
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den Umfang der zu leistenden Entschädigungen für den Bund absehbar zu
machen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Januar 2000 - 1 BvR 1398/99 - NJW
2000, 1480 = ZOV 2000, 87). Dieser (unveränderte) Gesetzeszweck darf nicht
dadurch in sein Gegenteil verkehrt werden, dass diejenigen, die bis zur Nichtig-
erklärung des § 1 Abs. 3 EntschG durch das Bundesverfassungsgericht von der
Beantragung einer Entschädigung abgesehen haben, ihr Entschädigungsbe-
gehren im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Entscheidung ohne jegli-
che Fristbindung geltend machen können. Der mit der Fristgebundenheit be-
zweckten Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gebührt vielmehr mit Blick auf die
Besonderheiten des Vermögens- und Entschädigungsrechts der Vorrang vor
dem Prinzip der materiellen (Einzelfall-) Gerechtigkeit in Form der Teilhabe an
den staatlichen Entschädigungsleistungen für sogenannte „kalte“ Enteignungen
eines Miethausgrundstücks nach § 1 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1
EntschG.
Zur Bestimmung einer angemessenen Frist in der hier zu beurteilenden Fall-
gestaltung liegt es nahe, in Anlehnung an § 12 Abs. 1 Satz 3 EntschG bzw.
§ 7a Abs. 3c Satz 2 i.V.m. § 7a Abs. 3b Satz 4 VermG zu verlangen, dass der
Entschädigungsanspruch innerhalb von sechs Monaten nach der Nichtigerklä-
rung des § 1 Abs. 3 EntschG geltend zu machen ist. Letztlich bedarf diese Fra-
ge aber keiner abschließenden Entscheidung, da jedenfalls ein Zeitraum - wie
hier - von über vier Jahren nach der Nichtigerklärung des gesetzlichen An-
spruchsausschlusses durch das Bundesverfassungsgericht (unabhängig davon,
ob man auf den Erlasszeitpunkt des Beschlusses oder auf den Zeitpunkt seiner
Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt abstellt) nicht mehr als angemessene
Frist angesehen werden kann.
Ob hier außerdem die Voraussetzungen für eine Verwirkung des geltend ge-
machten Entschädigungsanspruchs vorliegen, bedarf bei dieser Sachlage kei-
ner weiteren Erörterung und Entscheidung.
2. Das Verwaltungsgericht hat auch das Vorliegen der Voraussetzungen einer
sogenannten Nachsichtgewährung wegen Versäumung der materiellen Aus-
schlussfrist im Ergebnis zu Recht verneint. Eine solche Nachsichtgewährung
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setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unter anderem
ein für die Versäumung der Frist kausales staatliches Fehlverhalten voraus (vgl.
Urteile vom 29. Juli 2009 - BVerwG 8 C 8.08 - LKV 2009, 564; vom 28. März
1996 - BVerwG 7 C 28.95 - BVerwGE 101, 39 sowie Beschluss vom 17. März
2000 - BVerwG 8 B 287.99 - BVerwGE 111, 61 jeweils m.w.N.). Daran fehlt es
hier.
Es bedarf keiner abschließenden Klärung, ob die zur Nachsichtgewährung ent-
wickelten Grundsätze bei Fristversäumung aufgrund staatlichen Fehlverhaltens
auch für den Gesetzgeber gelten und in dem Erlass der mit Art. 3 Abs. 1 GG
unvereinbaren Vorschrift des § 1 Abs. 3 EntschG ein die Nachsichtgewährung
rechtfertigendes staatliches Fehlverhalten zu sehen ist. Denn es fehlt insoweit
in jedem Fall an der erforderlichen Kausalität. Das objektiv verfassungswidrige
Verhalten des Gesetzgebers wird bereits durch die vorstehend dargelegte Ver-
schiebung des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der Nichtigerklärung des § 1
Abs. 3 EntschG korrigiert. Mit der Nichtigerklärung wurde gerade das nach An-
sicht der Klägerin für eine fristgerechte Antragstellung bestehende Hindernis
der Verfassungswidrigkeit des § 1 Abs. 3 EntschG beseitigt. Für eine zusätzli-
che Nachsichtgewährung neben der Verschiebung des Fristbeginns bestünde
weder Anlass noch Raum.
Ein etwaiges behördliches Fehlverhalten ist weder dargetan noch ersichtlich.
Die Vermögens- bzw. die Entschädigungsbehörde waren nicht verpflichtet, die
Klägerin nach der Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG darauf hinzuweisen,
dass sie für die erlittene vermögensrechtliche Schädigung nunmehr eine Ent-
schädigung beantragen konnte und der entsprechende Antrag von ihr innerhalb
einer bestimmten Frist zu stellen war. In Anbetracht der großen Beachtung, die
die Regelungen des Vermögensgesetzes und des Entschädigungsgesetzes in
den Medien und in der öffentlichen Diskussion gefunden haben, müssen sich
die Antragsberechtigten entgegenhalten lassen, dass ihnen nicht nur die An-
tragsabhängigkeit des Restitutions- bzw. Entschädigungsanspruchs, sondern
auch die Fristgebundenheit dieser Anträge bekannt sein konnte (vgl. zum Ver-
mögensrecht Beschluss vom 5. Mai 2000 - BVerwG 7 B 220.99 - Buchholz 428
§ 30a VermG Nr. 18 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 10. Januar
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2000 a.a.O.). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der hier in Rede
stehende Entschädigungsanspruch erstmals deshalb mit Aussicht auf Erfolg
geltend gemacht werden konnte, weil und nachdem das Bundesverfassungsge-
richt den gesetzlichen Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 3 EntschG für nichtig
erklärt hat. Denn spätestens durch die Veröffentlichung dieser Entscheidung im
Bundesgesetzblatt (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG) erhielten die von
§ 1 Abs. 3 EntschG Betroffenen die Möglichkeit, vom geltenden Recht verläss-
lich und zumutbar Kenntnis zu nehmen. Insoweit gilt nichts anderes als bei der
jedem Bürger zuzurechnenden Möglichkeit der Kenntnisnahme des Inkrafttre-
tens von Rechtsvorschriften, die ebenfalls nur im jeweiligen Gesetz- und Ver-
ordnungsblatt verkündet werden. Die Veröffentlichung der durch das Bundes-
verfassungsgericht ausgesprochenen Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG
in Verbindung mit dem früher zugegangenen unangreifbaren Bescheid über die
Ablehnung der Rückübertragung wegen einer vorrangigen Erstschädigung bot
der Klägerin rechtsstaatlich hinreichenden Anlass und Gelegenheit, sich um die
Verfolgung des Entschädigungsanspruchs zu kümmern und das hierfür Erfor-
derliche zu unternehmen.
3. Die erhobenen Verfahrensrügen bleiben ohne Erfolg.
Die Rüge des Verstoßes gegen § 88 VwGO steht mit ihren dazu gemachten
Ausführungen in offenkundigem Widerspruch zum Sitzungsprotokoll (vgl. § 105
VwGO in Verbindung mit §§ 159 bis 165, §§ 415, 418 ZPO). Danach hat der
Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht vom 17. Oktober 2008 ausdrücklich erklärt, die Klage zu
erweitern und sie auch gegen die Bundesrepublik Deutschland zu richten. Er
hat in Bezug auf den Beklagten einen isolierten Anfechtungsantrag auf Aufhe-
bung der Bescheide vom 31. Juli 2006 und vom 6. September 2007 sowie
- ausschließlich - in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland einen Verpflich-
tungsantrag gestellt. Ein zulässiger Gegenbeweis gegen die inhaltliche Richtig-
keit dieser protokollierten Erklärungen ist nicht geführt worden. Nach Abtren-
nung der die Bundesrepublik Deutschland betreffenden Verpflichtungsklage hat
das Verwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren gegen das beklagte Land
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Berlin somit zu Recht und im Einklang mit § 88 VwGO nur über den von der
Klägerin gestellten (isolierten) Anfechtungsantrag entschieden.
Die Rüge, die Voraussetzungen des § 93 VwGO für eine Abtrennung der gegen
die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Verpflichtungsklage hätten nicht
vorgelegen, muss bereits daran scheitern, dass die Entscheidung über die
Trennung von Verfahren nach § 146 Abs. 2 VwGO mit der Folge unanfechtbar
ist, dass sie nicht der Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt (§ 173
VwGO i.V.m. § 557 Abs. 2 ZPO).
Das Vorbringen der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe im Rahmen der
Nachsichtgewährung einen wichtigen Aspekt völlig übersehen, weil es nicht
geprüft habe, ob ein staatliches Fehlverhalten auch in dem Erlass einer verfas-
sungswidrigen Vorschrift wie hier des § 1 Abs. 3 EntschG liegen könne, genügt
schon nicht den Darlegungsanforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO an
die insoweit geltend gemachte Rüge der Verletzung des Überzeugungsgrund-
satzes (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) sowie der Aktenwidrigkeit. Der Sache nach
zielen die Ausführungen der Klägerin in der äußeren Form einer Verfahrensrü-
ge vielmehr auf eine inhaltliche Kritik der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung
durch das Verwaltungsgericht und setzen dieser eine eigene Würdigung
entgegen, ohne jedoch Anhaltspunkte für eine willkürliche oder gegen Denkge-
setze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßende Tatsachenwürdigung zu
benennen.
Eine den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO entsprechende Darle-
gung fehlt auch hinsichtlich der im Zusammenhang mit den Ausführungen zur
(fehlenden) sachlichen Zuständigkeit der Beklagten erhobenen Rüge der Ver-
letzung der richterlichen Hinweispflicht und eines daraus resultierenden Ver-
stoßes gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör. Abgesehen
davon kann das angefochtene Urteil auf den gerügten Verfahrensfehlern nicht
beruhen, da die Frage der sachlichen Zuständigkeit für das Verwaltungsgericht
gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 EntschG i.V.m. § 37 Abs. 1, § 36 Abs. 1 Satz 1
VermG nicht entscheidungserheblich war.
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4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Hund
Dr. Brunn
Prof. Dr. Berlit
Stengelhofen
Dr. Störmer
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren mit Rücksicht
auf das isolierte Anfechtungsbegehren und das abgetrennte Verfahren gegen
die Bundesrepublik Deutschland auf 32 500 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1
und § 52 Abs. 1 GKG).
Hund
Dr. Brunn
Stengelhofen
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Entschädigungsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
EntschG
§ 1 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 2 Satz 1, § 1 Abs. 3, § 12 Abs. 1
Satz 4 und 5
VermG
§ 1 Abs. 2, § 1 Abs. 6, § 3 Abs. 2, § 7a Abs. 3b Satz 4
und 5, § 7a Abs. 3c Satz 2
GG
Art. 3 Abs. 1
Stichworte:
Antrag; Antragserfordernis; Antragstellung; fristgerechte Antragstellung; An-
tragsfrist; Ausschlussfrist; Fristenregelung; Fristbestimmung; Beginn des Frist-
laufs; Fristbeginn; Fristablauf; Fristversäumung; Versäumung der Frist; Nach-
sichtgewährung; staatliches Fehlverhalten; Anspruchsausschluss; Nichtigerklä-
rung; Folgen der Nichtigerklärung; Miethausgrundstück; Eigentum an Miet-
hausgrundstück; „kalte“ Enteignung; „kalte“ Enteignung eines Miethausgrund-
stücks.
Leitsätze:
1. Ein Antrag auf Entschädigung eines im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG Berech-
tigten, der erst mehr als vier Jahre nach der Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3
EntschG durch das Bundesverfassungsgericht gestellt worden ist, ist verfristet.
2. Die Entschädigungsbehörden mussten die im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG
Berechtigten nach der Nichtigerklärung des § 1 Abs. 3 EntschG nicht gesondert
auf die Möglichkeit der Beantragung einer Entschädigung und die Fristgebun-
denheit eines entsprechenden Antrages hinweisen.
Urteil des 5. Senats vom 25. März 2010 - BVerwG 5 C 15.09
I. VG Berlin vom 17.10.2008 - Az.: VG 4 A 390/07 -