Urteil des BVerwG vom 02.03.2006

Jugendhilfe, Sozialhilfe, Sicherstellung, Geistig Behinderter

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 15.05
OVG 12 A 11117/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. März 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt,
Dr. Rothkegel, Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
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Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberver-
waltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Juli 2004 wird
zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin verlangt als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe vom Beklagten
als dem Träger der Sozialhilfe Kostenerstattung wegen Leistungen, die sie im
Rahmen von Jugendhilfe (Hilfe für junge Volljährige) vom 1. Juli 2001 bis zum
31. März 2003 für den am 23. Mai 1982 geborenen, geistig behinderten M.G.
erbracht hat. Der Hilfeempfänger war in dieser Zeit in einer Pflegefamilie unter-
gebracht und hatte den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte
Menschen besucht. Die Hilfe war als Vollzeitpflege auf Grund Widerspruchsbe-
scheides vom 6. März 2002 nach einer vorübergehenden Leistungseinstellung
zum 30. Juni 2001 rückwirkend ab 1. Juli 2001 (weiter-)bewilligt worden. Ihre
Kosten beliefen sich im streitigen Zeitraum auf insgesamt 14 864,32 €.
Das Verwaltungsgericht hat den Erstattungsanspruch bis auf einen Betrag in
Höhe von 535,42 € (der auf die Kosten zweier Ferienfahrten und auf Weih-
nachtsgeld entfällt) nach § 104 Abs. 1 SGB X für begründet gehalten. Das
Oberverwaltungsgericht hat auf die Berufung des Beklagten die Klage dagegen
auch insoweit abgewiesen, als die Klägerin mehr als 3 954,42 € begehrt; diesen
Betrag hat das Berufungsgericht der Klägerin auf der Grundlage von § 104
SGB X als auf - nach Grund und Höhe bestrittene - pauschale „Kosten der Er-
ziehung“ entfallend zugesprochen, da sie „durch die Pflegeeltern geleistete Hilfe
zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebens-
führung im Sinne von § 41 SGB VIII“ beträfen. Die Klage ist damit in Höhe von
(14 864,32 - 3 954,42 =) 10 909,90 €, d.h. soweit sie den Lebensunterhalt des
Hilfeempfängers (Ernährung, Bekleidung, Reinigung, Körper- und Gesund-
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heitspflege) und ein Taschengeld betrifft, erfolglos geblieben. Dies hat das Be-
rufungsgericht wie folgt begründet:
Dem Hilfeempfänger habe im maßgeblichen Zeitraum zum einen ein Anspruch
gegen die Klägerin auf Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII durch
Übernahme der Kosten der Fortsetzung der Vollzeitpflege zugestanden; dar-
über hinaus habe er als geistig behinderter Mensch einen Anspruch gegen den
Beklagten auf Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Vollzeitpflege
nach § 39 Abs. 3, § 40 Abs. 1 Satz 1 BSHG gehabt. Leistungen der Eingliede-
rungshilfe gingen nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII Leistungen im Sinne von
§ 41 SGB VIII nur insoweit vor, als diese Leistungen gleich, gleichartig, einan-
der entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich
seien. Die Leistungen zum Unterhalt des jungen Volljährigen außerhalb des
Elternhauses, die die Klägerin gemäß § 41 Abs. 2 i.V.m. § 39 SGB VIII als An-
nexleistung zur eigentlichen Jugendhilfeleistung zu erbringen habe, fänden im
Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz aber keine
Entsprechung. Gemäß § 27 Abs. 3 BSHG umfasse die Eingliederungshilfe den
Lebensunterhalt des betreffenden Hilfeempfängers nur dann, wenn die Hilfe in
einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder einer Ein-
richtung zur teilstationären Betreuung gewährt werde. Dies sei bei einer Unter-
bringung in einer Pflegefamilie zur Vollzeitpflege nicht der Fall.
Gegen die teilweise Abweisung ihrer Klage richtet sich die Revision der Kläge-
rin, mit der sie eine Verletzung von § 10 Abs. 2 Satz 2 und § 39 SGB VIII rügt.
Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
II
Der Senat kann im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 141 Satz 1 i.V.m.
§ 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO über die Revision ohne mündliche
Verhandlung entscheiden. Die Revision ist unbegründet. Der Rechtsstandpunkt
des Oberverwaltungsgerichts, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die
Aufwendungen für den Lebensunterhalt eines in einer Pflegefamilie unterge-
brachten Kindes, Jugendlichen bzw. (hier) jungen Volljährigen nicht von dem für
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die Gewährung von Eingliederungshilfe zuständigen Träger der Sozialhilfe er-
stattet verlangen könne, steht mit dem Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO)
im Einklang.
1. Die Klägerin kann ihr Erstattungsbegehren nicht auf § 104 SGB X stützen.
Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Bestimmung ist, wenn ein nachrangig verpflichte-
ter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat (ohne dass die Voraussetzun-
gen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen), der Leistungsträger erstattungspflich-
tig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte (soweit
der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung
des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat); nach Satz 2 ist ein Leis-
tungsträger nachrangig verpflichtet, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der
Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung
verpflichtet gewesen wäre. Diese Bestimmungen setzen das Bestehen mitein-
ander konkurrierender, auf dieselbe Leistung gerichteter Leistungsverpflichtun-
gen unterschiedlicher Sozialleistungsträger voraus. Der Beklagte war aber nicht
vor der Klägerin verpflichtet, den Lebensunterhalt des im Rahmen der Jugend-
hilfe in einer Pflegefamilie untergebrachten Hilfeempfängers sicherzustellen.
Das Rangverhältnis zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe
regelt § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII in der im Erstattungszeitraum geltenden
Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1998 (BGBl I S. 3546). Da-
nach gehen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfe-
gesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer
solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach diesem Buch vor. Der
Leistungsvorrang des Beklagten als des Trägers der Eingliederungshilfe nach
dem Bundessozialhilfegesetz gegenüber der Klägerin als der Trägerin der Ju-
gendhilfe ist daher auf die Eingliederungshilfe (für körperlich und geistig behin-
derte junge Menschen) beschränkt. Ein Rangverhältnis zwischen Jugendhilfe
und Sozialhilfe nach § 10 Abs. 2 SGB VIII besteht aber - was auch die Revision
einräumt - nur, soweit sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein An-
spruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander
entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind
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(Urteil des Senats vom 23. September 1999 - BVerwG 5 C 26.98 - BVerwGE
109, 325 <329 f.>). Die Sicherstellung des Lebensunterhalts eines Kindes,
Jugendlichen bzw. jungen Volljährigen kann - wie hier im Rahmen der
Vollzeitpflege - zwar eine Leistung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch
sein; denn nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist, wenn Hilfe nach den §§ 32
bis 35 oder nach § 35a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 SGB VIII (hier: nach § 41
i.V.m. § 33 SGB VIII) gewährt wird, auch der notwendige Unterhalt des Kindes
oder Jugendlichen (hier: des jungen Volljährigen) außerhalb des Elternhauses
sicherzustellen. Dies gehört jedoch bei der Unterbringung eines Kindes, Ju-
gendlichen oder jungen Volljährigen in einer Pflegefamilie nicht zugleich auch
zu den Aufgaben der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz.
Zwar kann die Vollzeitpflege als solche, orientiert an dem Hilfebedarf des jun-
gen Menschen, sowohl eine Maßnahme der Jugendhilfe nach § 33 SGB VIII
(hier in Verbindung mit § 41 SGB VIII) sein als auch Eingliederungshilfe im
Rahmen der Sozialhilfe auf der Grundlage von § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSHG
i.V.m. § 26 Abs. 3 SGB IX - so die Auffassung des Verwaltungsgerichts - bzw.
- so die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts - auf der Grundlage von § 40
Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 BSHG. Als Maßnahme der Eingliederungshilfe umfasst sie
jedoch nicht zugleich die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Hilfeempfän-
gers. Nach § 27 Abs. 3 Satz 1 BSHG umfasst die Hilfe in besonderen Lebens-
lagen - eine solche ist die hier in Rede stehende Hilfemaßnahme zweifelsfrei -,
wenn sie in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder
in einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung gewährt wird, auch den in der
Einrichtung gewährten Lebensunterhalt (einschließlich der einmaligen Leistun-
gen). Die Unterbringung in einer Familie als Vollzeitpflege ist aber nicht „Hilfe …
in der Einrichtung“ im Sinne des Gesetzes; denn es fehlt an den nach der
Rechtsprechung des Senats (siehe z.B. Urteil vom 24. Februar 1994 - BVerwG
5 C 42.91 - FEVS 45, 52 = DVBl 1994, 1298 = Info also 1994, 229 = ZfS 1994,
308) eine „Einrichtung“ kennzeichnenden Merkmalen eines in einer besonderen
Organisationsform unter verantwortlicher Leitung zusammengefassten Bestan-
des an personellen und sächlichen Mitteln, der auf eine gewisse Dauer angelegt
und für einen größeren, wechselnden Personenkreis bestimmt ist. Darum wird
der Lebensunterhalt des in einer Pflegefamilie lebenden Hilfeempfängers nicht
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auf der Grundlage von § 27 Abs. 3 Satz 1 BSHG „gleichsam als Bestandteil der
… Hilfe in besonderen Lebenslagen“ (Urteil des Senats vom 29. April 1999
- BVerwG 5 C 12.98 - Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 19 = DVBl 1999, 1130
= FEVS 51, 6 = ZFSH/SGB 1999, 548 = ZfS 2000, 84) sichergestellt, sondern
- wenn und soweit vorrangige Leistungen zur Deckung des Bedarfs an
Lebensunterhalt ausbleiben - durch Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 11 ff.
BSHG. Gehört aber die Sicherstellung des Lebensunterhalts hier nicht zur Ein-
gliederungshilfe nach § 39 ff. BSHG, fällt sie - wie das Oberverwaltungsgericht
zutreffend erkannt hat - mangels Deckungsgleichheit von Jugendhilfe und So-
zialhilfe nicht unter den Vorrang nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.
Dass die Sicherstellung des Lebensunterhalts nach § 39 SGB VIII als Annex-
leistung „gesetzliche Folge der Gewährung einer außerfamiliären Hilfe“ ist,
rechtfertigt nicht die daraus von der Revision gezogene Schlussfolgerung, dass
die Sicherstellung des Lebensunterhalts mit der Jugendhilfemaßnahme „un-
trennbar verbunden“ sei, so dass der Vorrang der Eingliederungshilfe gegen-
über der Vollzeitpflege auch die Annexleistung umfasse.
Für die Anwendung der Vorrang-/Nachrangregelung des § 10 Abs. 2 SGB VIII
reicht die jugendhilferechtliche Verknüpfung der Hilfemaßnahme mit einer An-
nexleistung nicht aus, um auch sozialhilferechtlich eine einheitliche Maßnahme
zu bewirken. Dass sich die Sicherstellung des Lebensunterhalts im Rahmen
von Hilfen in besonderen Lebenslagen von diesen Hilfemaßnahmen auch recht-
lich trennen lässt, belegt gerade auch § 27 Abs. 3 Satz 1 BSHG, indem dort nur
beschränkt, nämlich für die stationäre und die teilstationäre Einrichtungshilfe,
die Einbeziehung des (in der Einrichtung gewährten) Lebensunterhalts in diese
Hilfeform angeordnet ist. Ebenso wie diese Regelung in Bezug auf die
(sachliche und funktionale) Zuständigkeit des für die Hilfe in einer Einrichtung
zuständigen Trägers ist auch § 39 SGB VIII in Bezug auf die Sicherstellung des
Lebensunterhalts als Annexleistung zur eigentlichen Jugendhilfeleistung mit
dem Ziel des Gesetzgebers zu erklären, dass Sozialleistungen möglichst aus
einer Hand gewährt werden (vgl. zu § 27 Abs. 3 BSHG z.B. Armborst in:
LPK-BSHG, 6. Auflage 2003, § 27 Rn. 24: „ganzheitliche Hilfe aus einer Hand“;
zu § 39 SGB VIII Wiesner in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/ Struck,
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SGB VIII, 2. Auflage 2000, § 39 Rn. 2, sowie zu § 6 Abs. 2 JWG bereits Urteil
des Senats vom 31. März 1977 - BVerwG 5 C 22.76 - BVerwGE 52, 214
<216>). Die zu diesem Zweck vom Gesetzgeber vorgenommene Zusammen-
führung verschiedener Hilfearten in einer einheitlichen Leistung in einheitlicher
Leistungszuständigkeit ist in Bezug auf die Sicherstellung des Lebensunterhalts
nur auf Seiten der Jugendhilfe (in § 39 SGB VIII) angeordnet und findet auf Sei-
ten der Sozialhilfe keine Entsprechung.
2. Der geltend gemachte Erstattungsanspruch folgt auch nicht aus § 102
SGB X.
Nach dieser Vorschrift ist, wenn ein Leistungsträger auf Grund gesetzlicher
Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat, der zur Leistung verpflich-
tete Leistungsträger erstattungspflichtig. Auch die Voraussetzungen dieser Be-
stimmungen sind hier nicht erfüllt.
§ 102 SGB X knüpft an eine Leistung auf Grund einer gesetzlichen Vorleis-
tungspflicht an. Als Grundlage einer solchen Verpflichtung kommt hier nur § 43
SGB I in Betracht. Nach dessen Satz 1 kann, wenn ein Anspruch auf Sozialleis-
tungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur
Leistung verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger
vorläufig Leistungen erbringen (deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermes-
sen bestimmt). Nach Satz 2 Halbsatz 1 hat der zuerst angegangene Leistungs-
träger Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt.
Die Voraussetzungen dieser Bestimmungen sind hier nicht erfüllt.
Hier kann offen bleiben, ob die Klägerin wegen einer Weiterbewilligung von
Leistungen für den Lebensunterhalt des Hilfeempfängers über den Eintritt von
dessen Volljährigkeit hinaus durch das am 8. Februar 2001 bei ihr eingegange-
ne Schreiben vom 7. Februar 2001 „zuerst angegangen“ worden und ob - was
für die Anwendung des § 102 SGB X des Weiteren zu verlangen ist - bei der
Weiterbewilligung von Jugendhilfe ab dem 1. Juli 2001 auf der Grundlage des
Widerspruchsbescheides vom 6. März 2002 nach außen erkennbar geworden
ist, dass die Klägerin für einen anderen Leistungsträger oder im Hinblick auf
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eine ungeklärte Zuständigkeit hat leisten wollen (vgl. Roos in: von Wulffen,
SGB X, 5. Auflage 2005, § 102 Rn. 6 m.w.N.).
Denn ein Erstattungsanspruch aus § 102 SGB X scheitert hier jedenfalls daran,
dass ein negativer Kompetenzkonflikt, wie ihn § 43 SGB I voraussetzt, nicht
bestanden hat; denn beide Leistungsträger - die Klägerin wie der Beklagte -
waren, solange die benötigte Hilfe ausstand, dem Hilfebedürftigen - wie der Se-
nat durch das genannte Urteil vom 23. September 1999 (a.a.O.) entschieden
hat - gleichermaßen nicht nur vorläufig zu Leistungen verpflichtet.
3. Das Erstattungsbegehren lässt sich auch nicht unter einem sonstigen rechtli-
chen Gesichtspunkt rechtfertigen; die Klage ist insbesondere nicht aus § 105
Abs. 1 Satz 1 SGB X begründet.
Nach dieser Vorschrift ist, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleis-
tungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 SGB X
vorliegen, der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstat-
tungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der
Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Diese Vorausset-
zungen sind hier nicht erfüllt.
§ 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X knüpft an eine materielle Leistungsunzuständigkeit
an. Die Klägerin war aber, auch wenn ihren Leistungen nach § 10 Abs. 2 Satz 2
SGB VIII Eingliederungshilfeleistungen des Beklagten, wären sie erbracht wor-
den, vorgegangen wären, für die Leistung von Vollzeitpflege für M.G. (im Rah-
men der Jugendhilfe) nicht (sachlich) unzuständig.
Dass die Sicherstellung des Lebensunterhalts nicht Aufgabe der Jugendhilfe ist,
sofern sie unabhängig von „eigentlichen“ Jugendhilfemaßnahmen benötigt wird
(vgl. z.B. Urteil des Senats vom 31. März 1977 - BVerwG 5 C 22.76 - BVerwGE
52, 214 <215 f.>; Urteil vom 9. Juni 1983 - BVerwG 5 C 12.82 - BVerwGE 67,
256 <257 f.>), ändert nichts daran, dass die Klägerin hier in eigener
Zuständigkeit auf der Grundlage von § 41 SGB VIII Hilfe erbracht hat; damit war
die Voraussetzung eines Anspruchs auf Sicherstellung des Lebensunterhalts
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nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfüllt, dass „Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder
nach § 35a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 gewährt“ wurde. Erstattungsrechtlich ist
dies nur insoweit von Bedeutung, als der Vorrang der Eingliederungshilfe im
Wege der Erstattung der Kosten der Vollzeitpflege nachträglich herzustellen ist;
es führt hingegen nicht dazu, den Jugendhilfeträger auch im Übrigen
erstattungsrechtlich so zu stellen, wie er im Falle seines Zurücktretens
gegenüber dem Träger der Eingliederungshilfe stünde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf
10 374,48 € festgesetzt.
Dr. Säcker Dr. Rothkegel Prof. Dr. Berlit
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Jugendhilfe, Sozialhilfe
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
SGB VIII F. 1993
§ 10 Abs. 2 Satz 2, §§ 39, 41
BSHG
§ 27 Abs. 3 Satz 1, §§ 39, 40
SGB X
§§ 102, 104, 105
Stichworte:
A: Annexleistungen, Erstattungsanspruch des Jugendhilfeträgers gegen den
Träger der Sozialhilfe für -;
E: Eingliederungshilfe, Erstattungsanspruch des Trägers der Jugendhilfe gegen
den Träger der -;
Erstattungsanspruch des Jugendhilfeträgers gegen Sozialhilfeträger;
J: Jugendhilfe, Verhältnis zur Sozialhilfe;
Erstattung von Annexleistungen der Jugendhilfe durch Träger
der Sozialhilfe;
L: Lebensunterhalt, Erstattungsanspruch des Trägers der Jugendhilfe gegen
den Träger der Sozialhilfe wegen Leistungen für den -;
S: Sozialhilfe, Verhältnis zur Jugendhilfe;
V: Vollzeitpflege, Erstattungsanspruch des Jugendhilfeträgers gegen den Sozi-
alhilfeträger bei -.
Leitsatz:
Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe kann wegen seiner Aufwendungen für
den Lebensunterhalt eines in einer Pflegefamilie untergebrachten, körperlich
oder geistig behinderten Kindes, Jugendlichen bzw. jungen Volljährigen keine
Erstattung von dem für Maßnahmen der Eingliederungshilfe zuständigen Träger
der Sozialhilfe verlangen.
Urteil des 5. Senats vom 2. März 2006 - BVerwG 5 C 15.05
I. VG Koblenz vom 03.11.2003 - Az.: VG 5 K 822.03.KO -
II. OVG Koblenz vom 16.07.2004 - Az.: OVG 12 A 11117/04 -