Urteil des BVerwG vom 06.02.2003

Sozialhilfe, Umzug, Bereinigung, Verwaltungsprozess

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 15.02
Verkündet
VG 4 K 2260/01.NW
am 6. Februar 2003
Schmidt
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S ä c k e r und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an
der Weinstraße vom 15. Februar 2002 wird aufge-
hoben. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Klä-
ger die Kosten der für Frau S. und deren Toch-
ter B. in der Zeit vom 1. Januar 2000 bis
25. März 2001 geleisteten Sozialhilfe in Höhe
von 7 442,35 € (entspricht 14 555,97 DM) nebst
4 % Zinsen seit dem 22. Oktober 2001 zu erstat-
ten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Erstattung der Kosten von
Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 7 442,36 € (entspricht
14 555,97 DM) in Anspruch, die er Frau S. und ihrer minderjäh-
rigen Tochter in der Zeit vom 1. Januar 2000 bis zum 25. März
2001 geleistet hat.
Frau S. war mit ihrer Tochter am 25. März 1999 aus dem Zustän-
digkeitsbereich des Beklagten in den Zuständigkeitsbereich des
Klägers nach L. verzogen. Dort erhielten sie vom Kläger ab dem
26. März 1999 Hilfe zum Lebensunterhalt, deren Kosten der Be-
klagte bis zum 31. Dezember 1999 erstattete. Über diesen Zeit-
punkt hinaus lehnte der Beklagte eine Kostenerstattung jedoch
ab, weil Frau S. und ihre Tochter am 1. Januar 2000 von L.
nach K. umgezogen waren; auch K. liegt im Zuständigkeitsbe-
reich des Klägers.
Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 15. Februar 2002
die Klage unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Oberverwal-
tungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Februar 2000 (FEVS 52,
232) und unter Zulassung der Revision abgewiesen und dies da-
mit begründet, die Kostenerstattungspflicht des Beklagten aus
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§ 107 BSHG habe mit dem Umzug der Hilfeempfänger von L. nach
K. geendet; die Vorschrift setze keinen sozialhilferechtlichen
Zuständigkeitswechsel voraus, es genüge, dass eine Person vom
"Ort" ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verziehe.
Hiergegen richtet sich die Sprungrevision des Klägers, der
seinen Anspruch auf Kostenerstattung (zuzüglich 4 % Prozess-
zinsen) weiterverfolgt.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
II.
Die nach § 134 Abs. 1 VwGO zulässige Revision ist begründet.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137
Abs. 1 Nr. 1 VwGO), so dass es aufzuheben und der Klage in dem
in die Revision gelangten Umfang stattzugeben ist (§ 144
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, eine infolge Umzugs des
Hilfeempfängers entstandene Kostenerstattungspflicht nach
§ 107 BSHG ende, wenn der Hilfeempfänger innerhalb des Be-
reichs des für den Zuzugsort zuständigen örtlichen Trägers der
Sozialhilfe erneut umziehe, ist mit Bundesrecht unvereinbar.
Nach § 107 Abs. 1 BSHG ist, wenn eine Person vom Ort ihres
bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verzieht, der Träger der
Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem
nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort
erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im
Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Per-
son innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der
Hilfe bedarf. Diese Voraussetzungen sind hier - entgegen der
Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts - nicht nur bis zum
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Zeitpunkt des Umzugs von Frau S. und ihrer Tochter von L. nach
K., sondern auch nach deren erneutem Umzug innerhalb des ört-
lichen Zuständigkeitsbereichs des Klägers erfüllt gewesen.
Dieser Umzug hat den Kostenerstattungsanspruch des Klägers ge-
gen den Beklagten aus § 107 Abs. 1 BSHG nicht berührt; denn
der Kläger ist auch weiterhin der "nunmehr zuständige örtliche
Träger der Sozialhilfe" im Sinne jener Bestimmung und damit
erstattungsberechtigt geblieben.
Ein erneuter Kostenerstattungsfall nach § 107 Abs. 1 BSHG ent-
steht nicht, wenn der erneute Umzug nicht mit einem Träger-
wechsel verbunden ist. Schon aus dem Wortlaut des Gesetzes,
das von "dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozial-
hilfe" als dem erstattungsberechtigten Träger spricht, geht
hervor, dass ein den Erstattungsanspruch beendender Ortswech-
sel nur vorliegt, wenn dadurch die Zuständigkeit eines neuen
- nunmehr dritten - örtlichen Trägers der Sozialhilfe begrün-
det wird. Zwar ist das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
(Beschluss vom 8. Februar 2000 - 12 A 11825/99 -
232>), auf dessen entgegengesetzten Standpunkt sich die Vorin-
stanz beruft, der Ansicht, dem Gesetzeswortlaut sei das Erfor-
dernis eines Trägerwechsels nicht zu entnehmen, weil die Ge-
genüberstellung des für den bisherigen Aufenthaltsort zustän-
digen und des für den neuen Aufenthaltsort "nunmehr" zuständi-
gen Trägers "nicht auf der die Erstattungsvoraussetzungen be-
nennenden Tatbestandsseite, sondern der die Kostenpflicht be-
gründende Rechtsfolgenseite" stattfinde (a.a.O., S. 233). Die-
se Auslegung überzeugt indessen nicht. Sie lässt unberücksich-
tigt, dass das Gesetz mit seiner die Rechtsfolgenseite betref-
fenden Wortwahl darauf hindeutet, dass auf der Tatbestandssei-
te ein Trägerwechsel stillschweigend vorausgesetzt ist. Nur so
macht § 107 Abs. 1 BSHG als Bestandteil der Regelungen über
einen Lastenausgleich der Sozialhilfeträger untereinander
(vgl. die Überschrift des Abschnitts 9 "Kostenerstattung zwi-
schen den Trägern der Sozialhilfe") Sinn.
- 5 -
Der Standpunkt des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz,
auf den die Vorinstanz sich stützt, ist auch nicht rechtlich
geboten, weil § 107 Abs. 1 BSHG nach seinem Wortlaut ein Ver-
ziehen vom "Ort", nicht dagegen aus dem "Gebiet" des bisheri-
gen gewöhnlichen Aufenthalts voraussetzt. Unabhängig davon,
wie eng oder weit der Begriff des "Ortes" in § 107 BSHG zu
verstehen und ob auch hier wie z.B. gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2
SGB I begrifflich zwischen "Ort" und "Gebiet" zu unterscheiden
ist, setzt die Erfüllung des Tatbestandes der Vorschrift - wie
dargelegt - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraus,
dass der Hilfeempfänger in den Zuständigkeitsbereich eines an-
deren örtlichen Sozialhilfeträgers verzieht. Darum führt nicht
schon jeder Ortswechsel, sondern erst ein Wechsel des örtli-
chen Zuständigkeitsbereichs des jeweiligen Sozialhilfeträgers
zu einem Kostenerstattungsfall nach § 107 Abs. 1 BSHG bzw. be-
endet diesen gegebenenfalls unter Auslösung eines neuen Er-
stattungsfalles.
Das Verwaltungsgericht hätte den Beklagten nach alledem für
die innerhalb des Zeitraumes des § 107 Abs. 2 BSHG liegende
Zeit, in der Frau S. und ihre Tochter vom Kläger Hilfe zum Le-
bensunterhalt bezogen haben, zur Erstattung der Kosten dieser
Hilfeleistung nach § 107 Abs. 1 BSHG verurteilen und entspre-
chend §§ 288, 291 BGB dem Kläger auch Prozesszinsen (vgl. dazu
BVerwGE 111, 213 <219>) zusprechen müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Auf Grund
von § 194 Abs. 5 in Verbindung mit § 188 Satz 2 zweiter Halb-
satz VwGO in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung des
Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom
20. Dezember 2001 (BGBl S. 3987) ist die Gerichtskostenfrei-
heit für Erstattungsstreitigkeiten zwischen Sozialleistungs-
trägern für das nach dem 1. Januar 2002 anhängig gewordene Re-
visionsverfahren entfallen.
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Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfah-
ren auf 7 442,35 € (entspricht 14 555,97 DM) festgesetzt.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Sozialhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
BSHG § 107
Stichworte:
Sozialhilfe, Kostenerstattungsanspruch des nunmehr
zuständigen örtlichen Trägers der - nach Umzud
des Hilfeempfängers;
Umzug des Hilfeempfängers, Kostenerstattungspflicht des
bisher zuständigen örtlichen Trägers der Sozial-
hilfe;
Zuständigkeitswechsel als Grundlage des Kostenerstattungsan-
spruchs des nunmehr zuständigen örtlichen Trägers der Sozial-
hilfe nach Umzug des Hilfeempfängers;
Kostenerstattungsanspruch des nunmehr zuständigen örtlichen
Trägers der Sozialhilfe nach Umzug des Hilfeempfän-
gers.
Leitsatz:
Die infolge Umzugs des Hilfeempfängers in den Zuständigkeits-
bereich eines anderen örtlichen Trägers der Sozialhilfe ent-
standene Kostenerstattungspflicht des bisher zuständigen
Sozialhilfeträgers wird durch einen erneuten Umzug des Hilfe-
empfängers innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des nunmehr
zuständigen örtlichen Trägers nicht beendet.
Urteil des 5. Senats vom 6. Februar 2003 - BVerwG 5 C 15.02
I. VG Neustadt vom 15.02.2002 - Az.: VG 4 K 2260/01.NW -