Urteil des BVerwG vom 19.08.2010

Jugendhilfe, Änderung der Rechtsprechung, Volljährigkeit, Rechtsgrundlage

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 14.09
VGH 12 S 2508/06
Verkündet
am
19. August 2010
Wahl
Geschäftsstellenverwalterin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
- 2 -
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 19. August 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Häußler
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Ver-
waltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 1. Juli
2008 und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom
20. März 2006 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 21 749,75 € nebst
Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz
ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen
Rechtszügen.
G r ü n d e :
I
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Erstattung von Kosten, die er in der Zeit
vom 23. November 1999 bis zum Ablauf des 21. Juni 2000 als Hilfe für junge
Volljährige aufgewandt hat.
Die am 23. November 1981 in Äthiopien geborene Hilfeempfängerin reiste An-
fang Februar 1997 als Minderjährige ohne Begleitung ihrer Eltern oder eines
gesetzlichen Vertreters auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland
ein. Wenige Tage nach ihrer Einreise sprach sie beim Jugendamt der Stadt F.
vor, das sie in unmittelbarem Anschluss daran in Obhut nahm. Nach einem kur-
zen Aufenthalt in einer Erstversorgungseinrichtung der Arbeiterwohlfahrt wurde
die Hilfeempfängerin ab Mitte April 1997 in der im Nachbarkreis des Klägers
gelegenen Jugendhilfeeinrichtung Haus O. untergebracht, in der sie bis zum
21. Juni 2000 blieb.
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Bereits am 21. Februar 1997 wurde der Beklagte durch das Bundesverwal-
tungsamt zum erstattungspflichtigen überörtlichen Träger nach § 89d Abs. 3
SGB VIII bestimmt.
Mit Bescheid des Regierungspräsidiums vom 31. Oktober 1997 wurde die Hil-
feempfängerin im Rahmen ihres Asylverfahrens dem Gebiet des Klägers zuge-
wiesen, der seit diesem Zeitpunkt als örtlich zuständiger Jugendhilfeträger für
die Kosten ihrer Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung Haus O. aufkam.
Er zahlte die Unterbringungskosten zunächst im Rahmen der Inobhutnahme
nach § 42 SGB VIII. Ab dem 20. Januar 1998 bis zum Eintritt der Volljährigkeit
am 23. November 1999 gewährte er insoweit Hilfe zur Erziehung nach §§ 27,
34 SGB VIII, an die sich bis zum Ablauf des 21. Juni 2000 die Gewährung von
Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII anschloss.
Der Kläger wandte sich mit mehreren Schreiben an den Beklagten und bean-
tragte Erstattung der von ihm aufgewandten Kosten. Er ist der Auffassung, der
Anspruch auf Erstattung der im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige gewähr-
ten Leistungen hätte nicht ausdrücklich bzw. gesondert innerhalb von zwölf Mo-
naten nach Ablauf des 21. Juni 2000 geltend gemacht werden müssen. Im Hin-
blick auf diesen Erstattungsanspruch werde die Ausschlussfrist des § 111
Satz 1 SGB X bereits durch den nach der Inobhutnahme der Hilfeempfängerin
erstmals unter dem 22. Oktober 1997 gestellten Antrag auf Erstattung der
Kosten gewahrt. Der spätere Wechsel der Leistungsart sowie der Rechtsgrund-
lage änderten daran nichts.
Der Beklagte lehnte die Erstattung ab, weil der Kläger seinen Anspruch auf Er-
stattung der im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige aufgewandten Kosten
nicht innerhalb von zwölf Monaten nach Leistungsende geltend gemacht habe.
Er sei erst Ende Juni 2002 über ein im November 1999 geführtes Gespräch in
Kenntnis gesetzt worden, nachdem die Selbstständigkeit der Hilfeempfängerin
im Zeitpunkt der Volljährigkeit noch wenig ausgeprägt gewesen sei. Allein die-
ses Detail hätte die Schlussfolgerung zulassen können, dass (wahrscheinlich)
über den Zeitpunkt der Volljährigkeit hinaus Leistungen nach dem Sozialge-
setzbuch Achtes Buch erforderlich gewesen seien.
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Mit Urteil vom 20. März 2006 hat das Verwaltungsgericht die am 29. April 2004
erhobene Klage auf Erstattung der im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige
aufgewandten Kosten in Höhe von 21 749,75 € abgewiesen.
Mit Urteil vom 1. Juli 2008 hat der Verwaltungsgerichtshof die hiergegen gerich-
tete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Der Kläger hätte den auf die Hilfe
für junge Volljährige bezogenen Kostenerstattungsanspruch gesondert inner-
halb der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X geltend machen müssen. Mit
dem Begriff der Leistung im Sinne des § 111 Satz 1 SGB X sei nicht die Sozial-
leistungsart „Jugendhilfe“ im abstrakten Sinne, sondern die erbrachte (oder vor-
gesehene) Jugendhilfe in ihrer konkreten Ausgestaltung gemeint, d.h. die Inob-
hutnahme gemäß § 42 SGB VIII, die Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34
SGB VIII oder die Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII. Der Jugend-
hilfe liege kein „ganzheitlicher“ Leistungsbegriff zugrunde, vielmehr umfasse die
Jugendhilfe gemäß § 2 Abs. 1 SGB VIII die einzelnen in § 2 Abs. 2 SGB VIII
aufgeführten Leistungen und die in § 2 Abs. 3 SGB VIII aufgezählten anderen
Aufgaben. Für ein gesondertes Geltendmachen des die Hilfe für junge Volljähri-
ge betreffenden Kostenerstattungsanspruchs spreche zudem, dass sich an-
dernfalls die Anmeldung des Kostenerstattungsanspruchs bezüglich der Inob-
hutnahme und der anschließend gewährten Hilfe zur Erziehung auf eine Zeit-
spanne von bis zu (weiteren) neun Jahren (18. bis 27. Lebensjahr) erstrecke.
Das sei mit der durch die Ausschlussfrist bezweckten baldigen Abwicklung der
Erstattungen schwerlich zu vereinbaren. Nach diesen rechtlichen Vorgaben sei
ein fristgerechtes Geltendmachen nicht gegeben. Die Erstattung der im Rah-
men der Hilfe für junge Volljährige aufgewandten Kosten sei erstmals mit
Schreiben vom 6. November 2002 beantragt worden. Die vorangegangenen
Schreiben des Klägers vom 22. Oktober 1997 sowie vom 26. März und 27. Juli
1998 bezögen sich nur auf die Inobhutnahme und die Hilfe zur Erziehung.
Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er rügt eine Verlet-
zung des § 89d SGB VIII sowie des § 111 Satz 1 SGB X.
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Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Auffassung des Verwaltungsge-
richtshofs, dass der Anspruch auf Erstattung nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII
für die im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige aufgewandten Kosten ausge-
schlossen ist, weil der Kläger ihn nicht innerhalb der Ausschlussfrist des § 111
Satz 1 SGB X geltend gemacht hat, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO).
Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass die Tatbestands-
voraussetzungen des § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfüllt sind und dem Kläger
damit gegen den Beklagten ein Anspruch auf Erstattung der als Hilfe für junge
Volljährige aufgewandten Unterbringungskosten dem Grunde nach zustehen
kann. Auch die Höhe der danach zu erstattenden Kosten ist zwischen den Be-
teiligten nicht streitig. Zu entscheiden ist allein, ob der Anspruch gemäß § 111
Satz 1 SGB X ausgeschlossen ist. Dies ist nicht der Fall. Der Kostenerstat-
tungsanspruch des § 89d SGB VIII unterfällt zwar der Ausschlussfrist des § 111
Satz 1 SGB X (1.), die hier gemäß § 111 Satz 2 SGB X in der bis zum 31. De-
zember 2000 geltenden Fassung frühestens mit der Entstehung des Erstat-
tungsanspruchs begann; im Übrigen gilt § 111 Satz 1 SGB X in der ab dem
1. Januar 2001 geltenden Fassung (2.). Der Anspruch auf Erstattung der als
Hilfe für junge Volljährige gewährten Leistungen wurde aber vom Kläger mit den
Schreiben vom 26. März und 23. Juli 1998 fristwahrend geltend gemacht (3.)
1. Der Anwendung des § 111 SGB X auf den Erstattungsanspruch nach § 89d
SGB VIII steht die Rechtsprechung des Senats nicht entgegen. Demnach ist die
Ausschlussfrist des § 111 SGB X auf die spezielle jugendhilferechtliche Situati-
on einander gegenüberstehender Erstattungsansprüche örtlicher Jugendhilfe-
träger nicht anwendbar, was in besonderer Weise für eine Kollision mit einem
Erstattungsanspruch nach § 89a SGB VIII gilt, dessen Ziel es ist, die Pflegestel-
lenorte von den mit einem Zuständigkeitswechsel nach § 86 Abs. 6 SGB VIII
verbundenen Kosten zu befreien (Urteil vom 30. September 2009 - BVerwG 5 C
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18.08 - BVerwGE 135, 58 = Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 9 je-
weils Rn. 33). Diese Rechtsprechung ist mangels Vergleichbarkeit der Sach-
verhalte auf den hier zu entscheidenden Fall nicht übertragbar. Im vorliegenden
Verfahren kollidieren weder zwei Erstattungsansprüche noch stehen sich zwei
örtliche Träger der Jugendhilfe gegenüber, von denen einer nach § 89a
SGB VIII Erstattung der von ihm aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6
SGB VIII aufgewandten Kosten begehrt. Streitgegenstand ist vielmehr allein der
dem örtlichen Träger der Jugendhilfe gegen den vom Bundesverwaltungsamt
als erstattungspflichtig bestimmten überörtlichen Träger der Jugendhilfe nach
§ 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zustehende Anspruch auf Kostenerstattung.
Die Anwendung des § 111 SGB X auf diesen Anspruch bestimmt sich nach
§ 37 Satz 1 SGB I. Danach gelten das Erste und Zehnte Buch für alle Sozial-
leistungsbereiche des Sozialgesetzbuches, soweit sich aus den übrigen Bü-
chern nichts Abweichendes ergibt. Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch enthält
keine Vorschrift, welche die Ausschlussfrist des § 111 SGB X hinsichtlich des
Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d SGB VIII ausdrücklich für nicht an-
wendbar erklärt oder anordnet, dass das Geltendmachen dieses Anspruchs
keiner zeitlichen Begrenzung unterliegt. Dem Kinder- und Jugendhilferecht ist
auch kein Strukturprinzip (vgl. insoweit Urteil vom 29. September 1994
- BVerwG 5 C 41.92 - Buchholz 436.7 § 27a BVG Nr. 16 S. 3 = Buchholz
435.11 § 58 SGB I Nr. 3) zu entnehmen, das es rechtfertigt, den Erstattungsan-
spruch nach § 89d SGB VIII aus dem Anwendungsbereich des § 111 SGB X
herauszunehmen.
2. Gemäß § 120 Abs. 2 SGB X findet auf ein - wie hier - am 1. Juni 2000 noch
nicht abschließend entschiedenes Kostenerstattungsverfahren zwar grundsätz-
lich die Vorschrift des § 111 SGB X in der vom 1. Januar 2001 an geltenden
Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl I S. 130) insgesamt
Anwendung. Insbesondere war der Anspruch auf Erstattung bei Inkrafttreten
der Neuregelung der Ausschlussfrist nicht bereits nach der bis zum 31. Dezem-
ber 2000 geltenden Regelung des § 111 SGB X in der Fassung des Gesetzes
vom 4. November 1982 (BGBl I S. 1450) ausgeschlossen (vgl. insoweit Urteil
vom 10. April 2003 - BVerwG 5 C 18.02 - Buchholz 435.12 § 111 SGB X Nr. 3
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S. 2). Der Kläger hätte nämlich unter der Geltung dieser alten Gesetzesfassung
seinen Erstattungsanspruch noch bis zum Ablauf des 21. Juni 2001 anzeigen
können.
Eine Ausnahme von der nach § 120 Abs. 2 SGB X angeordneten Anwendung
des § 111 Satz 2 SGB X in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung ist
hier jedoch deshalb zu machen, weil eine sachliche Entscheidung des erstat-
tungspflichtigen Beklagten gegenüber der Hilfeempfängerin nicht in Betracht
kam und demzufolge die Regelung des § 111 Satz 2 SGB X ins Leere gehen
würde (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2005 - B 1 KR 20/04 R - SozR 4-1300
§ 111 Nr. 3 Rn. 21 ff.). Denn zwischen dem Beklagten und der Hilfeempfängerin
bestand keine unmittelbare Rechtsbeziehung. Die Hilfeempfängerin konnte den
Beklagten nicht auf die Erbringung einer Sozialleistung in Anspruch nehmen.
Ausschließlich der Kläger war als örtlich zuständiger Träger der Jugendhilfe
gegenüber der Hilfeempfängerin zur Gewährung von Hilfe zur Erziehung ge-
mäß §§ 27, 34 SGB VIII und Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII
verpflichtet. Für die vorliegende Fallkonstellation ist daher § 111 Satz 2 SGB X
in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung entsprechend anzuwen-
den. Danach beginnt die Ausschlussfrist im konkreten Fall frühestens in dem
Zeitpunkt, in dem - bezogen auf die Leistung, deren Erstattung begehrt wird -
die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfüllt
sind.
3. Für den Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII ist die Leistung im
Sinne von § 111 Satz 1 SGB X nach dem zuständigkeitsrechtlichen Leistungs-
begriff des Kinder- und Jugendhilferechts zu bestimmen (3.1). In Anwendung
dieses Begriffes sind die vom Kläger gewährte Hilfe zur Erziehung und die von
ihm im unmittelbaren Anschluss daran geleistete Hilfe für junge Volljährige als
einheitliche jugendhilferechtliche Leistung zu werten (3.2). Für das fristgerechte
Geltendmachen dieser (Gesamt-)Leistung genügt es, dass der Kläger den An-
trag auf Erstattung der Kosten nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII während der
laufenden Hilfe zur Erziehung (und damit lange vor der Zwölfmonatsfrist nach
Ende der Leistung) gestellt hat (3.3). Dem Zweck der Ausschlussfrist wird damit
hinreichend Rechnung getragen (3.4).
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3.1 Das Sozialgesetzbuch Erstes Buch und Zehntes Buch als die für alle Sozial-
leistungsbereiche geltenden Bücher enthalten keine eigenständige Definition
des Begriffs der Leistung, auf den im Rahmen der Ausschlussfrist zurückgegrif-
fen werden könnte. § 111 Satz 1 SGB X nimmt vielmehr Bezug auf die Leistung
und den Leistungsbegriff des jeweiligen Sozialleistungsbereichs, in dem der
geltend zu machende Anspruch auf Kostenerstattung im Einzelfall seine
Rechtsgrundlage findet. Der Wortlaut des § 111 SGB X steht einer bereichs-
spezifischen Auslegung ebenso wenig entgegen wie der Zweck der Aus-
schlussfrist. Denn eine mit Rücksicht auf die spezifische Zielsetzung des
Rechts der jeweiligen Sozialleistung erfolgende Bestimmung der Leistung führt
nicht dazu, dass der erstattungspflichtige Leistungsträger nicht möglichst zeit-
nah zur Leistungserbringung die zu erwartende finanzielle Belastung erkennen
und gegebenenfalls entsprechende Rückstellungen bilden kann.
Für das fristgerechte Geltendmachen des Anspruchs auf Erstattung der Kosten
nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist demzufolge der Begriff der Leistung im
Sinne der Zuständigkeitsregelungen der §§ 86 ff. SGB VIII maßgeblich. Der
Rückgriff auf den zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff im Rahmen des
Erstattungsverhältnisses findet seine sachliche Rechtfertigung in der jugendhil-
ferechtlichen Verknüpfung der örtlichen Zuständigkeit mit der Kostentragungs-
pflicht und der sie ergänzenden Kostenerstattung. In der Regel hat der für die
Gewährung von Leistungen und die Erfüllung anderer Aufgaben der Jugendhilfe
nach §§ 86 ff. SGB VIII örtlich zuständige Träger der Jugendhilfe auch deren
Kosten zu tragen. Insbesondere bei einer - wie hier in Rede stehenden - Leis-
tungsgewährung in Einrichtungen kann dies aber zu einer unangemessenen
finanziellen Belastung einzelner kommunaler Gebietskörperschaften führen.
Entsprechendes gilt vor allem auch für die Fälle fortdauernder Vollzeitpflege
sowie des vorläufigen Eintretens für den an sich (endgültig) örtlich zuständigen
Träger der Jugendhilfe. Nach der Systematik des Gesetzes ist es Aufgabe der
Kostenerstattung, durch die Zuständigkeitsregelungen nicht gerechtfertigte
Kostenbelastungen nach Möglichkeit auszugleichen und auf diesem Weg für
eine gleichmäßige Kostenverteilung zwischen den einzelnen Trägern der öffent-
lichen Jugendhilfe zu sorgen. Dementsprechend folgt im Siebten Kapitel des
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Sozialgesetzbuches Achtes Buch unmittelbar auf die im Zweiten Abschnitt ge-
regelte (vorrangige) örtliche Zuständigkeit der Dritte Abschnitt mit seinen Rege-
lungen über die Kostenerstattung. Überdies knüpft auch der Wortlaut der ein-
zelnen Erstattungsansprüche nach §§ 89 ff. SGB VIII zum Teil ausdrücklich an
die örtliche Zuständigkeit nach §§ 86 ff. SGB VIII an (z.B. §§ 89, 89a Abs. 1
Satz 1, § 89a Abs. 2, § 89a Abs. 3, § 89b Abs. 1, § 89b Abs. 3, § 89c Abs. 1
Satz 1, § 89c Abs. 3, § 89e Abs. 1 Satz 1 und § 89e Abs. 2 SGB VIII).
3.2 Nach Maßgabe des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs ist die
(jugendhilferechtliche) Leistung anhand einer bedarfsorientierten Gesamtbe-
trachtung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen zu bestimmen. Demzufol-
ge bilden alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe
gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und
Hilfen eine einheitliche Leistung, zumal wenn sie im Einzelfall nahtlos aneinan-
der anschließen, also ohne beachtliche (vgl. § 86a Abs. 4 Satz 2 und 3
SGB VIII) zeitliche Unterbrechung gewährt werden. Dies gilt auch dann, wenn
bei dem vielfach auf einen längeren Zeitraum angelegten Hilfeprozess sich die
Schwerpunkte innerhalb des Hilfebedarfes verschieben und für die Ausgestal-
tung der Hilfe Modifikationen, Änderungen oder Ergänzungen bis hin zu einem
Wechsel der Hilfeart erforderlich werden, die Hilfegewährung im Verlauf des
ununterbrochenen Hilfeprozesses also einer anderen Nummer des §
2 Abs. 2
SGB VIII zuzuordnen oder innerhalb des Sozialgesetzbuches Achtes Buch
nach einer anderen Rechtsgrundlage zu gewähren ist (stRspr, grundlegend Ur-
teil vom 29. Januar 2004 - BVerwG 5 C 9.03 - BVerwGE 120, 116 <119>
= Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 2 ; vgl. zuletzt Urteil vom
25. März 2010 - BVerwG 5 C 12.09 - juris Rn. 22; s.a. Urteil vom 14. November
2002 - BVerwG 5 C 56.01 - BVerwGE 117, 194 S. 197 ff. = Buchholz 436.511
§ 89a KJHG/SGB VIII Nr. 1 = Buchholz 436.511 § 86a KJHG/SGB VIII
Nr. 2).
Auf der Grundlage der nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für
den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatrichterlichen Feststellun-
gen stellen die vom Kläger ab dem 20. Januar 1998 gewährte Hilfe zur Erzie-
hung und die ab dem 23. November 1999 bis zum Ablauf des 21. Juni 2000
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gewährte Hilfe für junge Volljährige eine (einheitliche) Leistung im vorgenannten
Sinne dar. In beiden Fällen wurde die Jugendhilfe durch die Unterbringung der
Hilfeempfängerin in ein und derselben Jugendhilfeeinrichtung erbracht. Der Klä-
ger ging bei seiner Entscheidung, diese konkrete Maßnahme über den Eintritt
der Volljährigkeit bis zum Ende des Schuljahres 1999/2000 hinaus in Form der
Hilfe für junge Volljährige weiterhin auf seine Kosten durchzuführen, erkennbar
von einem qualitativ unveränderten jugendhilferechtlichen Bedarf aus und
brachte dies in seinem Bewilligungsbescheid vom 15. November 1999 auch
unmissverständlich zum Ausdruck. Denn er hielt es danach aufgrund der Per-
sönlichkeit, insbesondere des verzögerten Entwicklungsstandes, und der indivi-
duellen Situation der Hilfeempfängerin für erforderlich, die der Hilfeempfängerin
„gewährte Erziehungshilfe über das vollendete achtzehnte Lebensjahr hinaus
gemäß § 41 SGB VIII fortzusetzen“. Der Beklagte ist dem nicht entgegengetre-
ten.
3.3 An das Geltendmachen im Sinne des § 111 Satz 1 SGB X dürfen keine
überzogenen formalen oder inhaltlichen Anforderungen gestellt werden, zumal
es sich bei den am Erstattungsverfahren Beteiligten um Körperschaften des
öffentlichen Rechts oder Behörden handelt, deren Vertreter Kenntnis von den
jeweils in Betracht kommenden Leistungen besitzen. Bei dem Geltendmachen
handelt es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang
beim Empfänger wirksam wird. Ein konkludentes Geltendmachen ist zulässig
und ausreichend. Die inhaltlichen Anforderungen bestimmen sich nach dem
Zweck des § 111 SGB X, möglichst rasch klare Verhältnisse darüber zu schaf-
fen, ob eine Erstattungspflicht besteht. Aus diesem Grund erfordert das Gel-
tendmachen ein unbedingtes Einfordern der Leistung. Ein bloß vorsorgliches
Anmelden genügt nicht. Der Wille des Erstattungsberechtigten, zumindest
rechtssichernd tätig zu werden, muss unter Berücksichtigung aller Umstände
des Einzelfalles der Erklärung deutlich erkennbar zugrunde liegen. Der in An-
spruch genommene Leistungsträger muss bereits beim Zugang der Anmeldung
des Erstattungsanspruchs ohne weitere Nachforschungen beurteilen können,
ob die gegen ihn erhobene Forderung ausgeschlossen ist oder er mit einer Er-
stattungspflicht zu rechnen hat. Hierfür ist in der Regel ein Darlegen in allen
Einzelheiten nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, dass die Umstände, die im
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Einzelfall für die Entstehung des Erstattungsanspruchs maßgeblich sind und
insbesondere der Zeitraum, für den die Leistung erbracht wurde, hinreichend
konkret mitgeteilt werden. Geringere inhaltliche Anforderungen gelten, wenn der
Erstattungsanspruch, was grundsätzlich zulässig ist, vor seiner Entstehung gel-
tend gemacht wird. In einem derartigen Fall ist es erforderlich, aber auch aus-
reichend, wenn die Angaben über Art und Umfang der künftigen Leistungen
allgemein unter Verwendung der Kenntnisse gemacht werden, die im Zeitpunkt
des Geltendmachens vorhanden sind (vgl. zu Vorstehendem insgesamt BSG,
Urteil vom 22. August 2000 - B 2 U 24/99 R - SozR 3-1300 § 111 Nr. 9
Rn. 17 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen sowie Urteil vom 4. März 1993
- BVerwG 5 C 6.91 - BVerwGE 92, 167 168 = Buchholz 435.12 § 111 SGB X
Nr. 2 ). Für das fristgerechte Geltendmachen eines Kostenerstattungsan-
spruchs für eine unter Bedarfsgesichtspunkten als eine Einheit zu wertende
Jugendhilfemaßnahme ist eine bedarfsorientierte Gesamtbetrachtung zugrunde
zu legen. Danach kommt es nicht darauf an, ob die Kosten für die Maßnahme
von einem Dritten gegebenenfalls zeitabschnittsweise in Rechnung gestellt und
beglichen werden. Vielmehr genügt zur Wahrung der Ausschlussfrist des § 111
Satz 1 SGB X für einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Maßnahmen
und Hilfen, die jugendhilferechtlich als eine Leistung zu werten sind, jede inner-
halb dieser Frist erfolgende Geltendmachung des Anspruchs nach Beginn der
(Gesamt-)Leistung. Soweit der Senat in seinem Urteil vom 10. April 2003
- BVerwG 5 C 18.02 - (a.a.O. S. 3) eine andere Auffassung vertreten und für die
Bestimmung der fristgerechten Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs
auf die im Einzelfall erfolgte monatsweise Abrechnung abgestellt hat, hält er
daran nicht mehr fest.
Den dargelegten Anforderungen an das Geltendmachen hat der Kläger in Be-
zug auf die - sich aus der Hilfe zur Erziehung und der Hilfe für junge Volljährige
zusammensetzende - (Gesamt-)Leistung innerhalb der mit Ablauf des 21. Juni
2001 endenden Ausschlussfrist erfüllt. Nach den bindenden tatrichterlichen
Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs (§ 37 Abs. 2 VwGO), der sich in-
soweit die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu Eigen gemacht hat, hat
der Kläger den Anspruch auf Erstattung der Kosten nach § 89d SGB VIII bezüg-
lich der ab dem 20. Januar 1998 gewährten Hilfe zur Erziehung mit Schreiben
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vom 26. März und 23. Juli 1998 geltend gemacht. Diese Anmeldung wirkt infol-
ge der Annahme einer einheitlichen (Gesamt-)Leistung auch für die vom Kläger
in Form der Hilfe für junge Volljährige aufgewandten Kosten fristwahrend.
3.4 Der Zweck der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X wird dadurch weder
beeinträchtigt noch in Frage gestellt. Bereits das Geltendmachen des Erstat-
tungsanspruchs in Bezug auf die Hilfe zur Erziehung erfüllt im konkreten Fall
die mit der zeitnahen Anmeldung verfolgte Informations- und Warnfunktion. Vor
und nach Eintritt der Volljährigkeit wurde aufgrund eines qualitativ unveränder-
ten Hilfebedarfs der Sache nach immer dieselbe Leistung erbracht, die lediglich
infolge des Eintritts der Volljährigkeit im Verhältnis der Hilfeempfängerin zum
erstattungsberechtigten Kläger einer anderen Rechtsgrundlage zuzuordnen
war, ohne dass dies jedoch zu einem Austausch des erstattungsverpflichteten
Leistungsträgers oder Wechsel der Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs
führte. Mit Rücksicht auf diesen konkreten Verfahrensablauf war für den Be-
klagten außerdem stets hinreichend erkennbar, welche finanzielle Belastung
auf ihn zukommen konnte, zumal auch für ihn an seiner Erstattungspflicht infol-
ge der Bestimmung des Bundesverwaltungsamts vom 21. Februar 1997 von
Anfang an kein Zweifel bestand.
4. Der Zinsanspruch rechtfertigt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB ent-
sprechend (stRspr für den Bereich der Jugendhilfe z.B. Urteil vom 22. Novem-
ber 2001 - BVerwG 5 C 42.01 - BVerwGE 115, 251 256 = Buchholz 436.511
§ 89e KJHG/SGB VIII Nr. 1 S. 5 m.w.N. = Buchholz 436.511 § 86a
KJHG/SGB VIII Nr. 1).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskostenfrei-
heit besteht nach § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht.
Hund
Prof. Dr. Berlit
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Häußler
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren wird auf
21 749,75 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG).
Hund
Stengelhofen
Dr. Störmer
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Jugendhilferecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
SGB I
§ 37 Satz 1
SGB VIII
§ 2 Abs. 1 und Abs. 2, §§ 27, 34, 41, 42, 89d Abs. 1 Satz 1,
§ 89d Abs. 1
SGB X
§ 111 Satz 1 und Satz 2
Stichworte:
Ausschlussfrist; Wahrung der ~; Versäumung der ~; Erstattung; ~sanspruch;
Kosten; ~tragungspflicht; Kostenerstattung; Anspruch auf ~; ~ bei Gewährung
von Jugendhilfe nach der Einreise; Leistung; Begriff der ~; ~sbegriff; zuständig-
keitsrechtlicher ~sbegriff; Geltendmachen; ~ des Anspruchs auf Erstattung;
~ des Erstattungsanspruchs; Zuständigkeit; örtliche ~; Finanzierungs~.
Leitsätze:
1. Für jugendhilferechtliche Kostenerstattungsansprüche (hier: nach § 89d
SGB VIII) ist die Leistung im Sinne von § 111 Satz 1 SGB X nach dem zustän-
digkeitsrechtlichen Leistungsbegriff des Kinder- und Jugendhilferechts zu
bestimmen.
2. Zur Wahrung der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X für einen Anspruch
auf Erstattung der Kosten für Maßnahmen und Hilfen, die jugendhilferechtlich
als eine Leistung zu werten sind, genügt jede - innerhalb dieser Frist erfolgen-
de - Geltendmachung des Anspruchs nach Beginn der (Gesamt-)Leistung (in-
soweit Änderung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 10. April 2003
- BVerwG 5 C 18.02 - Buchholz 435.12 § 111 SGB X Nr. 3).
Urteil des 5. Senats vom 19. August 2010 - BVerwG 5 C 14.09
I. VG Karlsruhe vom 20.03.2006 - Az.: VG 5 K 1248/04 -
II. VGH Baden-Württemberg vom 01.07.2008 - Az.: VGH 12 S 2508/06 -