Urteil des BVerwG vom 23.02.2010

Verfassungskonforme Auslegung, Rückforderung, Eltern, Unterhalt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 13.09
VGH 12 BV 07.1939
Verkündet
am 23. Februar 2010
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Brunn und Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. September 2008
wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung vorläufig gewährter Ausbil-
dungsförderung und begehrt in diesem Rahmen die Berücksichtigung von Vor-
ausleistungen nach Ende des Bewilligungszeitraums.
Die Klägerin besuchte ab August 1998 die Fachoberschule H. Hierfür beantrag-
te sie am 31. August 1998 für den Zeitraum von August 1998 bis Juni 1999 und
am 29. Juli 1999 für den Zeitraum von Juli 1999 bis Juni 2000 Ausbildungsför-
derung. Für beide Bewilligungszeiträume stellte sie jeweils Aktualisierungsan-
träge nach § 24 Abs. 3 Satz 1 BAföG bezüglich des Einkommens ihrer Mutter.
Hierbei erklärte sie unter anderem, ihr sei bekannt, dass Ausbildungsförderung
auf der Grundlage der aktuellen Einkommensverhältnisse unter dem Vorbehalt
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der Rückforderung geleistet werde und dass sie nach Stellung dieses Antrages
auf Aktualisierung die Anrechnung des Einkommens aus dem vorletzten Kalen-
derjahr nicht mehr verlangen könne.
Mit Bescheid vom 26. August 1999 bewilligte der Beklagte der Klägerin Ausbil-
dungsförderung für August 1998 sowie für den Zeitraum von September 1998
bis Juni 1999 in Höhe von monatlich 165,66 €. Mit weiterem Bescheid vom
24. Februar 2000 erkannte er der Klägerin für die Zeit von Juli 1999 bis Juni
2000 Ausbildungsförderung in Höhe von monatlich 204,01 € zu. In beiden Be-
willigungszeiträumen rechnete der Beklagte jeweils Einkommen der Klägerin
und der Mutter an. Beide Bescheide ergingen unter Hinweis auf § 24 Abs. 3
BAföG unter dem Vorbehalt der Rückforderung, weil sich das Einkommen der
Mutter der Klägerin im Bewilligungszeitraum nicht abschließend feststellen las-
se. Die Klägerin wurde gebeten, Nachweise vorzulegen, sobald das Einkom-
men der Mutter in den Kalenderjahren 1998/99 bzw. 1999/2000 feststehe.
Hierauf war die Klägerin bereits im Formblattantrag hingewiesen worden.
Nachdem der Beklagte die vorgenannten Unterlagen erhalten hatte, hob er mit
drei Bescheiden vom 15. August 2003 die unter Vorbehalt ergangenen Bewilli-
gungsbescheide auf und lehnte nunmehr für August 1998 sowie für den Zeit-
raum von September 1998 bis Juni 1999 Ausbildungsförderung vollständig ab,
während er für den Zeitraum von Juli 1999 bis Juni 2000 die Höhe der monatli-
chen Ausbildungsförderung auf 32,13 € herabsetzte. Gleichzeitig forderte er
von der Klägerin überzahlte Ausbildungsförderung in Höhe von 3 884,82 € zu-
rück.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und stellte gleichzeitig einen Antrag
auf Gewährung von Vorausleistungen für die genannten Bewilligungszeiträume.
Zur Begründung trug sie vor, sie habe keine Kenntnis von den Steuerbeschei-
den ihrer Mutter gehabt, welche diese bei dem Studentenwerk vorgelegt habe.
Sie habe erst durch den Rückforderungsbescheid vom 15. August 2003 erfah-
ren, dass das Einkommen ihrer Mutter höher ausgefallen sei, als ursprünglich
von dieser angegeben. Sie müsse deshalb gegen den Rückforderungsbescheid
noch die sogenannte Vorausleistungseinrede erheben können. Da es das Bun-
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desverwaltungsgericht hinsichtlich § 24 Abs. 3 BAföG auch entgegen dem
Wortlaut des Gesetzes für zulässig gehalten habe, dass nach dem Ende des
Bewilligungszeitraumes ein Aktualisierungsantrag gestellt werden könne, sei
auch eine entsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 36 Abs. 1
BAföG geboten, weil sonst die Lücke zwischen dem bürgerlich-rechtlichen Un-
terhaltsrecht und dem Ausbildungsförderungsrecht nicht geschlossen werden
könne. Nach § 1613 BGB könne sie von ihrer Mutter nämlich nicht mehr rück-
wirkend Unterhalt verlangen, während bei einer Vorausleistung mit gesetzli-
chem Anspruchsübergang das Förderungsamt durchaus auch für die Vergan-
genheit Zugriffsmöglichkeiten gegen die Eltern habe. Die Glaubhaftmachung
durch den Auszubildenden, dass die Eltern den angerechneten Unterhaltsbe-
trag nicht leisteten, könne auch rückwirkend erfolgen. Sie, die Klägerin, sei im
Übrigen nie darüber informiert worden, dass sie im Falle eines Aktualisierungs-
antrages dann, wenn sich bei der endgültigen Berechnung ein höheres Ein-
kommen ihrer Mutter und damit eine Rückforderung ergebe, noch einen Vor-
ausleistungsantrag stellen könne bzw. diesen vorsorglich bis zum Ende des
Bewilligungszeitraumes sogar stellen müsse. Der Beklagte sei aufgrund seiner
Beratungspflicht gehalten gewesen, sie auf die naheliegende Gestaltungsmög-
lichkeit eines vorsorglichen Vorausleistungsantrages hinzuweisen, was aber
nicht geschehen sei. Dementsprechend sei sie im Zweifel im Wege des sozial-
rechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob sie rechtzeitig vor Ende
des Bewilligungszeitraumes den Vorausleistungsantrag gestellt hätte. Die ver-
fassungskonforme Auslegung des geänderten § 36 Abs. 1 BAföG müsse eben-
falls zu dem Ergebnis führen, dass die Vorausleistungseinrede zu berücksichti-
gen sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2004 wurde der Widerspruch der Kläge-
rin mit der Begründung zurückgewiesen, der Rückforderung stehe die Einrede
der Vorausleistung nicht entgegen. Gemäß § 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG dürften
nach Ende des Bewilligungszeitraumes gestellte Vorausleistungsanträge nicht
mehr berücksichtigt werden.
Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom
19. April 2007 abgewiesen. Die Zurückweisung des nachträglichen Vorausleis-
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tungsantrages bzw. der diesbezüglichen Einrede sei nicht zu beanstanden. Dies
ergebe sich aus der Regelung des § 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG, die auch
verfassungsgemäß sei.
Mit Urteil vom 24. September 2008 hat der Verwaltungsgerichtshof die Beru-
fung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt: Der erst
nach Ablauf der beiden Bewilligungszeiträume gestellte Vorausleistungsantrag
sei ebenso wie die hierauf gestützte Vorausleistungseinrede gem. § 36 Abs. 1
Halbs. 2 BAföG nicht zu berücksichtigen. Die von der Klägerin geltend gemach-
ten verfassungsrechtlichen Bedenken und ihre auf die Kommentarliteratur ge-
stützten rechtspolitischen Erwägungen griffen nicht durch. Ihre Hinweise auf die
frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 36 BAföG seien
im Kern durch die Neufassung der Bestimmung überholt. Der Wille des Ge-
setzgebers komme in der amtlichen Begründung zu § 36 BAföG hinreichend
zum Ausdruck. Für eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht bestehe
keine Veranlassung, auch wenn der Auszubildende den Unterhalt, den seine
Eltern etwa wegen § 24 Abs. 2 oder Abs. 3 BAföG nicht geleistet hätten, nach
§ 1613 BGB nachträglich nicht mehr erstreiten könne. Es gebe keinen Anhalts-
punkt dafür, dass der Gesetzgeber diese Fälle bei der Ergänzung des § 36
Abs. 1 BAföG um einen Halbsatz 2 nicht im Blick gehabt und deshalb eine aus-
zufüllende Gesetzeslücke belassen habe. Der Auszubildende müsse gegebe-
nenfalls vorsorglich innerhalb der Antragsfrist den Vorausleistungsantrag stel-
len, um gegen die Erstattung die Vorausleistungseinrede erheben zu können.
Auf die Risiken der möglichen Erstattungspflicht im Falle eines Aktualisierungs-
antrages sei die Klägerin ausweislich der Akten ausreichend hingewiesen wor-
den. Entgegen ihrer Auffassung bestünden auch aus Art. 3 GG keine durch-
greifenden Bedenken gegen die Neufassung des § 36 Abs. 1 BAföG. Etwaige
Defizite der unterhaltsrechtlichen Regelung des § 1613 BGB seien nicht im
Bundesausbildungsförderungsrecht auszugleichen. Die Klägerin sei auch nicht
unzumutbar gehindert worden, ihre Ausbildung aufzunehmen, zu absolvieren
und abzuschließen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Ver-
säumung der Frist des § 36 Abs. 1 BAföG komme schon wegen § 27 Abs. 5
SGB X nicht in Betracht. Ebensowenig könne sich die Klägerin auf den sozial-
rechtlichen Herstellungsanspruch stützen, denn dem Beklagten sei jedenfalls
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eine Verletzung seiner Beratungspflicht nicht vorzuhalten. Die Behörde müsse
nicht allgemein den Eltern oder hier der Mutter der Klägerin in diesem Verfah-
rensstadium unterstellen, dass sie ihrer Unterhaltsverpflichtung nicht nachkä-
men. Soweit die Klägerin auf das „schlechte Verhältnis“ zu ihrer Mutter habe
hinweisen lassen, hätte gerade darin Anlass für sie liegen müssen, den Voraus-
leistungsantrag zusammen mit dem Aktualisierungsantrag zu stellen.
Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Anfechtungsbegehren weiter. Sie rügt
insbesondere eine Verletzung des § 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG sowie des Art. 3
Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG und den Grundsätzen über den sozi-
alrechtlichen Herstellungsanspruch.
Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwal-
tungsgericht verteidigen das angegriffene Urteil.
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat
im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden, dass die
angefochtenen Bescheide, durch welche der Beklagte die Gewährung von
Ausbildungsförderung für die streitbefangenen Bewilligungszeiträume ganz ab-
gelehnt bzw. in der Höhe herabgesetzt und die vorbehaltlich bewilligte Ausbil-
dungsförderung in der streitigen Höhe zurückgefordert hat, rechtmäßig sind.
Der von der Beklagten geltend gemachte Rückforderungsanspruch findet seine
Rechtsgrundlage in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BAföG. Denn der Klägerin stand
die ihr nach § 24 Abs. 3 BAföG unter dem Vorbehalt der Rückforderung ge-
währte Ausbildungsförderung wegen des anzurechnenden Einkommens ihrer
Mutter (§ 24 Abs. 1 und 3 BAföG) sowohl im ersten (8/1998 bis 6/1999) als
auch im zweiten Bewilligungszeitraum (7/1999 bis 6/2000) nur in der in den Be-
scheiden vom 15. August 2003 festgesetzten Höhe zu. Die Klägerin kann sich
dagegen weder mit Erfolg darauf berufen, dass ihr Antrag auf Gewährung von
Vorausleistungen zumindest in verfassungskonformer Anwendung des § 36
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Abs. 1 Halbs. 2 BAföG als rechtzeitig zu betrachten sei und der Rückforderung
des Beklagten die sog. Vorausleistungseinrede entgegenstehe (1), noch kann
sie (hilfsweise) verlangen, so gestellt zu werden, als hätte sie Vorausleistungen
vor Ablauf des jeweiligen Bewilligungszeitraums beantragt (2).
1. Der Verwaltungsgerichtshof hat zu Recht angenommen, dass der von der
Klägerin mit der Erhebung des Widerspruchs gestellte Antrag auf Gewährung
von Vorausleistungen nach § 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG nicht mehr berücksich-
tigt werden durfte, weil der Bewilligungszeitraum zum Zeitpunkt der Antragstel-
lung bereits abgelaufen war. Der Senat hat in seinem Urteil vom heutigen Tage
in dem Verfahren BVerwG 5 C 2.09 (zur Veröffentlichung vorgesehen) ent-
schieden, dass ein nach dem Ende des Bewilligungszeitraums gestellter Antrag
auf Vorausleistungen nach der Neufassung des § 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG
durch das 17. BAföGÄndG vom 24. Juli 1995 (BGBl I S. 976) in Fällen einer
abschließenden Entscheidung nach § 24 Abs. 2 oder 3 BAföG keine Berück-
sichtigung mehr findet. Auch unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleich-
heitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) bestehen keine durchgreifenden Bedenken ge-
gen den Ausschluss von erst nach Ablauf des Bewilligungszeitraums gestellten
Vorausleistungsbegehren gegenüber der Rückforderung unter Vorbehalt ge-
währter Leistungen, so dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 36
Abs. 1 Halbs. 2 BAföG (n.F.) insoweit nicht geboten ist. Auf die diesbezüglichen
Ausführungen des Senats, die gleichermaßen im vorliegenden Verfahren gel-
ten, wird Bezug genommen.
2. Die Klägerin kann auch nicht im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand (2.1) oder unter Berufung auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch
(2.2) verlangen, so gestellt zu werden, als hätte sie innerhalb der Frist des § 36
Abs. 1 Halbs. 2 BAföG Vorausleistungen beantragt.
2.1 Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, dass hier eine Wiederein-
setzung in den vorigen Stand (§ 27 SGB X) nicht in Betracht kommt, weil die
Frist des § 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG eine materielle Ausschlussfrist darstellt,
die eine Wiedereinsetzung ausschließt (§ 27 Abs. 5 SGB X). Die Zulassung
einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand würde die vom Gesetzgeber als
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ausnahmslos statuierte materielle Begrenzung, einen Vorausleistungsantrag
nur im laufenden Bewilligungszeitraum stellen zu können, der Sache nach aus-
höhlen.
2.2 Die Klägerin kann sich auch nicht auf den sozialrechtlichen Herstellungsan-
spruch berufen. Dem steht jedenfalls entgegen, dass - wie das Berufungsge-
richt ebenfalls zutreffend entschieden hat - dem Beklagten ein hier allein in Be-
tracht zu ziehender Beratungs- oder Aufklärungsfehler nicht unterlaufen ist. Die
Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die zum sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch entwickelten Grundsätze im Recht der Ausbildungsförde-
rung anwendbar sind, bedarf daher keiner Entscheidung. Der sozialrechtliche
Herstellungsanspruch hat nämlich auch und gerade zur Voraussetzung, dass
der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund Gesetzes oder eines Sozialrechts-
verhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft
(§§ 14,15SGB I, verletzt hat (vgl. etwa BSG, Urteile vom 1. April 2004 - B 7
AL 52/03 R - BSGE 92, 267, 279 und vom 31. Oktober 2007 - B 14/11b AS
63/06 R - SozR 4-1200 § 14 Nr. 10; Beschluss vom 16. Dezember 2008 - B 4
AS 77/08 B - juris). An einer solchen Pflichtverletzung fehlt es hier.
a) Über das Rückforderungsrisiko im Falle der Stellung eines Aktualisierungs-
antrags (§ 24 Abs. 3 BAföG) hat der Beklagte die Klägerin hinreichend aufge-
klärt. Er hat sie im Rahmen der vorläufigen Gewährung von Ausbildungsförde-
rung darüber belehrt, dass eine endgültige Abrechnung erfolgen werde und es
hierbei zu Rückforderungen kommen könne. Nach den für das Revisionsgericht
gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts
hat die Klägerin bei der Antragstellung erklärt, ihr sei bekannt, dass Ausbil-
dungsförderung auf der Grundlage der aktuellen Einkommensverhältnisse unter
dem Vorbehalt der Rückforderung geleistet werde.
b) Eine weitergehende Belehrung der Klägerin darüber, dass sie einen „vor-
sorglichen Vorausleistungsantrag“ hätte stellen können, war nicht geboten.
Es ist bereits fraglich, ob ein Antrag auf Gewährung von Vorausleistungen, der
nicht auf den Unterhaltsbetrag im Rahmen der vorläufigen Gewährung von
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Ausbildungsförderung, sondern auf einen künftig sich etwa ergebenden Unter-
haltsbetrag bezogen ist, nach § 36 Abs. 1 BAföG in zulässiger Weise überhaupt
„vorsorglich“ gestellt werden kann. Denn ein solcher „Antrag auf Vorrat“ wäre im
Zeitpunkt der Antragstellung mangels einer Ausbildungsgefährdung im Sinne
von § 36 Abs. 1 BAföG unbegründet und nach dem Willen des Antragstellers
aktuell (noch) gar nicht zu bescheiden. Er wird nur für den hypothetischen Fall
einer späteren Rückforderung von Ausbildungsförderung (und insofern bedingt)
gestellt und dient allein dazu, die Chance auf nachträgliche Vorausleistungen zu
wahren. Gegen die Statthaftigkeit eines solchen Antrags spricht ferner, dass er
dem Zweck, den das Gesetz mit der Begrenzung der Antragstellung auf den
Bewilligungszeitraum (§ 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG) verfolgt (vgl. das Urteil vom
heutigen Tage zum Verfahren BVerwG 5 C 2.09), zuwiderlaufen würde.
Die Frage der Statthaftigkeit eines „vorsorglichen“ Antrags bedarf jedoch keiner
abschließenden Klärung. Denn jedenfalls bestand für den Beklagten hier keine
Verpflichtung dazu, die Klägerin rechtlich dahin zu beraten, einen (vorsorgli-
chen) Vorausleistungsantrag zu stellen. Er musste sie nicht allein deshalb, weil
sie einen Aktualisierungsantrag gestellt hatte, auf die rechtliche Gestaltungs-
möglichkeit der Inanspruchnahme von Vorausleistungen hinweisen. Zum einen
trifft es entgegen der Auffassung der Revision nicht zu, dass der Auszubildende
in den Fällen der Rückzahlung vorläufig gewährter Ausbildungsförderung (nach
§ 24 Abs. 3 BAföG) - sofern ihm die Gewährung (nachträglicher) Vorausleis-
tungen bzw. die Berufung auf die Vorausleistungseinrede versagt bliebe - diese
Kosten stets selbst zu tragen hätte, weil er nach zivilrechtlichen Regelungen
(§ 1613 BGB) keinen bzw. nicht rückwirkend Unterhalt von seinen Eltern be-
gehren könne (vgl. dazu das Urteil vom heutigen Tage zum Verfahren BVerwG
5 C 2.09). Zum anderen liegt der Zweck der Aktualisierung nach § 24 Abs. 3
BAföG darin, einer Gefährdung der Ausbildung entgegenzuwirken, die dadurch
entsteht, dass die - an sich zahlungswilligen - Eltern den Anrechnungsbetrag,
der sich nach ihrem Einkommen aus dem Regelberechnungszeitraum des § 24
Abs. 1 BAföG ergibt, wegen einer zwischenzeitlichen Verschlechterung der
Einkommensverhältnisse im aktuellen Bewilligungszeitraum nicht (mehr) als
Unterhalt leisten können. Demgegenüber dienen Vorausleistungen nach § 36
Abs. 1 BAföG dem Zweck, insbesondere im Falle fehlender Zahlungsbereit-
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schaft der unterhaltspflichtigen Eltern eine Gefährdung der Ausbildung zu ver-
hindern und befreien den Auszubildenden als „außerordentliche Zusatzleistun-
gen“ davon, während des Bewilligungszeitraums gegen seine Eltern vorgehen
und von ihnen bestrittene Unterhaltsansprüche durchsetzen zu müssen. Ein
Anlass für die Behörde, den Auszubildenden dahin zu beraten, einen Voraus-
leistungsantrag zu stellen, kann daher - auch im Falle eines Aktualisierungsan-
trags (§ 24 Abs. 3 BAföG) - nur bestehen, wenn schon bei der Beantragung von
Ausbildungsförderung oder jedenfalls während des laufenden Bewilligungszeit-
raums erkennbar ist, dass die Eltern nicht bereit sein werden, die in der endgül-
tigen Abrechnung (nach Auflösung des Vorbehalts) festgesetzten Anrech-
nungsbeträge als Unterhalt zu leisten und dadurch eine Ausbildungsgefährdung
verursacht werden kann. So lag es hier jedoch nicht.
Nach den für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Verwaltungs-
gerichtshofs hatte der Beklagte zu keinem Zeitpunkt vor der Einlegung des Wi-
derspruchs der Klägerin einen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, dass die Tat-
bestandsvoraussetzungen für eine Vorausleistung gegeben sein könnten (Ur-
teilsabdruck S. 12). Er musste in diesem Verfahrensstadium auch weder allge-
mein den Eltern von Auszubildenden unterstellen, dass sie der Unterhaltsver-
pflichtung nicht nachkommen, noch hatte er im vorliegenden Fall Grund zu der
Annahme, dass die unterhaltspflichtige Mutter der Klägerin nicht gewillt sein
könnte, während oder nach Ablauf des jeweiligen Bewilligungszeitraums im er-
forderlichen Maße Unterhalt zu leisten. Ausführungen der Klägerin, die hierauf
hätten schließen lassen können, hat diese allenfalls im gerichtlichen Verfahren
gemacht, indem sie - wie der Verwaltungsgerichtshof ausführt (Urteilsabdruck
S. 13) - auf das „schlechte Verhältnis“ zu ihrer Mutter hingewiesen habe. Für
den Beklagten bestand aber jedenfalls während des Laufs der streitigen Bewil-
ligungszeiträume kein Anlass, die Klägerin - ohne ein entsprechendes Vorbrin-
gen oder eine Nachfrage ihrerseits - über die vorsorglichen Reaktionsmöglich-
keiten auch im Hinblick auf den hypothetischen Fall einer etwaigen Zahlungs-
unwilligkeit oder -unfähigkeit eines Elternteils aufzuklären. Vielmehr hätte es der
Klägerin - wenn sie denn daran ernstliche Zweifel gehegt hätte - oblegen, sich
an den Beklagten zu wenden und diesen (rechtzeitig) darauf hinzuweisen, dass
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ihre Mutter ihren Unterhaltsverpflichtungen voraussichtlich nicht nachkommen
werde.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Hund
Dr. Brunn
Prof. Dr. Berlit
Stengelhofen
Dr. Störmer
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Ausbildungsförderungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
BAföG
§§ 1, 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, § 21 Abs. 1, § 24 Abs. 1 bis 3,
§ 36 Abs. 1 Halbs. 2
BGB
§ 1613
GG
Art. 3 Abs. 1
SGB X
§ 27
Stichworte:
Aktualisierungsantrag; Ausbildungsförderung; Bewilligungszeitraum; Einkom-
men der Eltern; Gefährdung der Ausbildung; Rückforderung von Ausbildungs-
förderung; Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch; Unterhaltsbetrag; Voraus-
leistungsantrag nachträglicher; Vorausleistungseinrede; Vorbehalt; Wiederein-
setzung in den vorigen Stand.
Leitsatz:
§ 36 Abs. 1 Halbs. 2 BAföG enthält eine materielle Ausschlussfrist. Ob sich der
Auszubildende bei deren Versäumung ausnahmsweise auf die Grundsätze des
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs berufen kann, bleibt offen.
Urteil des 5. Senats vom 23. Februar 2010 - BVerwG 5 C 13.09
I. VG Ansbach vom 19.04.2007 - Az.: VG AN 2 K 04.1246 -
II. VGH München vom 24.09.2008 - Az.: VGH 12 BV 07.1939 -