Urteil des BVerwG vom 25.06.2015

Erbschaft, Jugendhilfe, Kostenbeitrag, Angemessenheit

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Jugendhilfe- und Jugendschutzrecht
Rechtsquelle/n:
VwGO § 137 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2, § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2
Halbs. 1
SGB II § 41 Abs. 1 Satz 1 und 4
SGB VIII § 10 Abs. 2, §§ 34, 41, 91 Abs. 1 Nr. 5b und Nr. 8, § 92
Abs.1 Nr. 2 und Abs. 1a, § 92 Abs. 3 Satz 1 und 2, § 94
SGB XII § 44 Abs. 1 Satz 1, §§ 90, 91
BGB §§ 195, 2211 Abs. 1
Titelzeile:
Verwertbarkeit einer unter Testamentsvollstreckung stehenden
Erbschaft
Stichworte:
Heranziehung; Kostenbeitrag; Kosten der Jugendhilfe; Kosten der Hilfe für junge
Volljährige; Heimerziehung; Zeitpunkt der Heranziehung; vollstationäre Leistung;
teilstationäre Leistung; Leistungsbezug; Leistungsgewährung; Erbschaft;
Testamentsvollstreckung; Vermögen; zukünftiges Vermögen; Verwertung;
Verwertbarkeit; Hineinwachsen in die Verwertbarkeit; verwertbares Vermögen;
Wert des Vermögens; rechtliche Verwertbarkeit; tatsächliche Verwertbarkeit;
Verwertbarkeit in angemessener Zeit; Verfügenkönnen; Verfügendürfen;
Verfügungsmacht; Unverwertbarkeit; Verwertungshindernis; Eintritt der
Verwertbarkeit; Wegfall des Verwertungshindernisses; zeitliche Dimension;
angemessen; absehbar; zeitliche Angemessenheit; wirtschaftlicher Wert; Bedarf;
Notlage; Abhilfe; Bewilligungszeitraum; aufeinanderfolgende
Bewillligungszeiträume; Gesamtbezugszeitraum; Bezugszeitraum; Dauer des
Bewilligungszeitraums; Beginn des Bewilligungszeitraums; Grundsatz der
Konnexität; Refinanzierung; abschnittsweise Prüfung; Berechnungsmethode;
Berechnungsmodell; Verdoppelung; Parameter; zeitliche Gesichtspunkte;
materielle Gesichtspunkte; zeitlicher Abstand.
Leitsatz:
Die Heranziehung zu den Kosten vollstationärer Leistungen nach § 92 Abs. 1a
SGB VIII aus Vermögen, über das der Kostenbeitragspflichtige erst nach dem
Ende der Bewilligung dieser Leistungen verfügen darf und kann (Verwertbarkeit),
kommt nur ausnahmsweise in Betracht. Voraussetzung ist, dass der Zeitpunkt
der Verwertbarkeit des Vermögens feststeht und der Zeitraum zwischen dem
Beginn der Bewilligung der Leistungen und der Verwertbarkeit in einem
angemessenen zeitlichen Verhältnis zum Bewilligungszeitraum steht.
Urteil des 5. Senats vom 25. Juni 2015 - BVerwG 5 C 12.14
I. VG Trier vom 14. November 2013
Az: VG 2 K 392/13.TR
II. OVG Koblenz vom 24. Juni 2014
Az: OVG 7 A 11246/13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 12.14
OVG 7 A 11246/13
Verkündet
am 25. Juni 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juni 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Fleuß sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Harms
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 2014
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten über die Erhebung eines Beitrags zu den Kosten einer
Hilfe für junge Volljährige aus einer Erbschaft, die der Testamentsvollstreckung
unterliegt.
Die am 16. April 1992 geborene Klägerin lebt seit ihrem fünften Lebensjahr in
einer Pflegefamilie. Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres erhielt sie dafür
von der Beklagten Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege bzw. als Heimerziehung,
die vom 16. April 2010 bis zum 30. April 2012 als Hilfe für junge Volljährige ge-
mäß § 41 SGB VIII in Form von Heimerziehung nach § 34 SGB VIII fortgesetzt
wurde. Die Hilfe wurde in drei Abschnitten vom 16. April 2010 bis zum 31. Ok-
tober 2010 (Bescheid vom 21. Juni 2010), vom 1. November 2010 bis zum
30. Juni 2011 (Bescheid vom 30. November 2010) und zuletzt vom 1. Juli 2011
bis zum 30. April 2012 (Bescheid vom 18. Juli 2011) gewährt.
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Im September 2006 erbte die Klägerin als Alleinerbin mehrere Hausgrundstü-
cke. In dem Testament ist bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres Testa-
mentsvollstreckung in Form der Dauervollstreckung angeordnet worden, die im
Falle eines begründeten Bedürfnisses - etwa einer noch fortdauernden Ausbil-
dung - maximal bis zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres fortgesetzt werden
soll.
Mit Bescheid vom 5. November 2012 setzte die Beklagte für die der Klägerin
geleistete Hilfe für junge Volljährige einen Kostenbeitrag in Höhe von
97 947,65 € fest. Fällig sei die Forderung bei Beendigung der Testamentsvoll-
streckung am 16. April 2013 mit der Vollendung ihres 21. Lebensjahres, spätes-
tens aber am 16. April 2017 mit der Vollendung des 25. Lebensjahres.
Die dagegen nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Verwal-
tungsgericht abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat auf die Berufung der
Klägerin das Urteil des Verwaltungsgerichts abgeändert und die angefochtenen
Bescheide aufgehoben.
Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Be-
klagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter und trägt insbesondere vor, die
Testamentsvollstreckung stehe einer Veräußerung des letzten verbliebenen
Hausgrundstücks nicht zwingend entgegen. Das Eigentumsrecht bestehe, so
dass das Erbe grundsätzlich verwertbar sei. Lege man im Jugendhilferecht für
die Verwertbarkeit den Bedarfszeitraum zugrunde, würden kurzzeitige Leis-
tungsempfänger in gleichheitswidriger Weise bevorzugt. Es widerspreche au-
ßerdem dem Sinn und Zweck des § 92 Abs. 1a SGB VIII i.V.m. § 90 Abs. 1
SGB XII, wenn dem jungen Volljährigen zu Lasten der öffentlichen Jugendhilfe
Vermögenswerte gesichert würden, die diesem nach Beendigung der Testa-
mentsvollstreckung zur freien Verfügung stünden.
Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung.
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II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil steht
im Ergebnis mit Bundesrecht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das
Oberverwaltungsgericht geht zu Recht davon aus, dass der Kostenbeitragsbe-
scheid der Beklagten vom 5. November 2012 in der Gestalt, die er durch den
Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2013 gefunden hat, rechtswidrig ist.
Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Kostenbeitragsbescheides bilden
§ 92 Abs. 1a i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 91 Abs. 1 Nr. 5b und 8 des Achten Bu-
ches Sozialgesetzbuch (- Kinder- und Jugendhilfe - SGB VIII) in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geän-
dert durch Art. 2 Abs. 8 des Gesetzes vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10).
Danach sind junge Volljährige aus ihrem Vermögen nach Maßgabe der §§ 90
und 91 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (- Sozialhilfe - SGB XII) in der
Fassung des Art. 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022,
3023), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 21. Juli 2014 (BGBl. I
S. 1133), sowie des § 94 SGB VIII zu den Kosten der Hilfe für junge Volljährige
in Form der Heimerziehung nach §§ 41, 34 SGB VIII heranzuziehen. Die Betei-
ligten streiten zu Recht nicht darüber, dass die Klägerin im entscheidungser-
heblichen Zeitraum eine junge Volljährige war, ihre vollstationäre Unterbringung
in der Pflegefamilie vom 16. April 2010 bis zum 30. April 2012 die Vorausset-
zungen einer Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung nach §§ 41,
34 SGB VIII erfüllte und es sich bei dem ererbten Immobilienvermögen der Klä-
gerin um Vermögen im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII handelt. Streitig ist al-
lein, ob die Erbschaft gemäß § 90 Abs. 1 SGB XII verwertbar ist.
Das Oberverwaltungsgericht geht im Ergebnis zu Recht davon aus, dass die
Beklagte die Erbschaft der Klägerin nicht bei der Heranziehung zu den Kosten
der ihr nach §§ 41, 34 SGB VIII gewährten Heimerziehung berücksichtigen durf-
te. Bei der bis zum 16. April 2017 unter Testamentsvollstreckung stehenden
Erbschaft handelt es sich nicht um verwertbares Vermögen im Sinne des § 92
Abs. 1a SGB VIII i.V.m. § 90 SGB XII.
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1. Gemäß § 92 Abs. 1a SGB VIII i.V.m. § 90 Abs. 1 SGB XII ist auch bei der
Heranziehung zu den Kosten der Jugendhilfe nur das verwertbare Vermögen
einzusetzen. Der Begriff der Verwertbarkeit ist in Anlehnung an die in der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 90 Abs. 1 SGB XII entwickelten
Rechtsgrundsätze zu bestimmen. Dabei ist den Besonderheiten des Jugendhil-
ferechts Rechnung zu tragen.
2. Verwertbarkeit im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII ist danach ausschließlich in
wirtschaftlicher Hinsicht zu verstehen (so bezüglich der Sozialhilfe schon
BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1997 - 5 C 7.96 - BVerwGE 106, 105 <107>;
s.a. zum Begriff der Verwertbarkeit in § 12 Abs. 1 SGB II BSG, Urteil vom
12. Juli 2012 - B 14 AS 158/11 R - SozR 4-4200 § 12 Nr. 20 Rn. 15 m.w.N.) und
sowohl unter rechtlichen als auch tatsächlichen Gesichtspunkten zu beurteilen.
Der Vermögensinhaber muss über das Vermögen (rechtlich) verfügen dürfen,
und auch (tatsächlich) verfügen können (vgl. BSG, Urteil vom 25. August 2011
- B 8 SO 19/10 R - juris Rn. 14 m.w.N.; s.a. zum Begriff der Verwertbarkeit in
§ 12 Abs. 1 SGB II BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 S 158/11 R -
SozR 4-4200 § 12 Nr. 20 Rn. 15). Die Verwertung des Vermögens kann durch
Verbrauch, Verkauf oder Belastung der Vermögensgegenstände erfolgen (vgl.
BSG, Urteile vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 42/07 R - SozR 4-4200 § 12
Nr. 12 Rn. 20 und vom 25. August 2011 - B 8 SO 19/10 R - juris Rn. 17). Recht-
liche Unverwertbarkeit liegt vor, wenn der Inhaber des Vermögens in der Verfü-
gung beschränkt ist und die Aufhebung der Beschränkung nicht erreichen kann
(vgl. Mecke, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl., 2014 Rn. 40;
Geiger, in: LPK-SGB XII, 10. Aufl., 2015, § 90 Rn. 17; s.a. zu § 12 Abs. 2
SGB II BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 42/07 R - SozR 4-4200 § 12
Nr. 12 Rn. 20). Tatsächliche Unverwertbarkeit ist gegeben, wenn der Vermö-
gensinhaber aus tatsächlichen Gründen gehindert ist, den wirtschaftlichen Wert
des Vermögensgegenstandes zu realisieren.
3. Verwertbarkeit im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII verlangt - wovon auch das
Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgeht - darüber hinaus die Berücksichti-
gung einer zeitlichen Dimension in dem Sinn, dass das Vermögen zwar nicht
sofort, aber in angemessener, also absehbarer Zeit verwertet werden darf und
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kann. Nur in diesem Fall stehen dem Kostenbeitragspflichtigen bereite Mittel zur
Verfügung. Von einer generellen Unverwertbarkeit ist auszugehen, wenn völlig
ungewiss ist, wann eine für die Verwertbarkeit notwendige Bedingung eintritt
(vgl. BSG, Urteile vom 25. August 2011 - B 8 SO 19/10 R - juris Rn. 14 f. und
vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 42/07 R - SozR 4-4200 § 12 Nr. 12 Rn. 22; s.a.
Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 158/11 R - SozR 4-4200 § 12 Nr. 20 Rn. 15).
a) Verwertbarkeit in angemessener, das heißt absehbarer Zeit ist grundsätzlich
nur dann anzunehmen, wenn der Kostenbeitragspflichtige den wirtschaftlichen
Wert des Vermögens innerhalb des Zeitraums realisieren kann, innerhalb des-
sen der jugendhilferechtliche Bedarf besteht. Für einen Einsatz gemäß § 90
Abs. 1 SGB XII kommt nur dasjenige Vermögen in Betracht, durch dessen Ver-
wertung der Notlage oder dem Bedarf abgeholfen und das dafür rechtzeitig
verwertet werden kann (so schon zu § 88 Abs. 1 BSHG BVerwG, Urteil vom
19. Dezember 1997 - 5 C 7.96 - BVerwGE 106, 105 <107 f.>). Auch im Ju-
gendhilferecht kann daher grundsätzlich nur auf das Vermögen zurückgegriffen
werden, durch dessen Verwertung im Bewilligungszeitraum die Kosten der voll-
und teilstationären Leistung refinanziert werden können. Dies entspricht dem
Grundsatz der Konnexität zwischen der Gewährung einer voll- oder teilstationä-
ren Leistung und deren Refinanzierung durch Erhebung eines Kostenbeitrags.
Der Kostenbeitrag stellt nachträglich den Nachrang der Jugendhilfe insbeson-
dere gegenüber den Unterhaltspflichtigen (vgl. § 10 Abs. 2 SGB VIII), aber auch
gegenüber dem jungen Volljährigen im jeweiligen Bewilligungszeitraum wieder
her.
Von einer Verwertbarkeit ist danach unproblematisch auszugehen, wenn der
Zeitpunkt, zu dem der Kostenbeitragspflichtige rechtlich und tatsächlich über
das Vermögen verfügen darf und kann, konkret feststeht und innerhalb des Be-
willigungszeitraums liegt. Ist der Eintritt der Verwertbarkeit ungewiss, muss der
zuständige örtliche Träger der Jugendhilfe insoweit eine Prognose anstellen
(vgl. BSG, Urteile vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 42/07 R - SozR 4-4200 § 12
Nr. 12 Rn. 23 und vom 25. August 2011 - B 8 SO 19/10 R - juris Rn. 15). Ergibt
diese, dass die Verwertung des Vermögens innerhalb des Bewilligungszeit-
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raums rechtlich zulässig und tatsächlich möglich sein wird, ist die Verwertbar-
keit ebenfalls zu bejahen.
b) Vermögen, über das der Kostenbeitragspflichtige erst nach dem Ende des
Bewilligungszeitraums verfügen darf und kann, stellt nur ausnahmsweise ver-
wertbares Vermögen im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII dar. Voraussetzung
dafür ist, dass der Zeitpunkt des Eintritts der Verwertbarkeit konkret feststeht
und der Zeitraum bis zum Eintritt der Verwertbarkeit in angemessenem zeitli-
chen Verhältnis zum Bewilligungszeitraum steht (vgl. BSG, Urteil vom 25. Au-
gust 2011 - B 8 SO 19/10 R - juris Rn. 15). Steht zum Zeitpunkt der Leistungs-
gewährung fest, dass der Kostenbeitragspflichtige zu einem bestimmten Zeit-
punkt in der Zukunft über Vermögen verfügen wird, tritt das Interesse des Kos-
tenbeitragspflichtigen, nicht aus zukünftigem Vermögen zu den Kosten einer
voll- oder teilstationären Leistung herangezogen zu werden, gegenüber dem
Nachrang der Jugendhilfe zurück. Ob das rechtliche und/oder tatsächliche Ver-
wertungshindernis in angemessener, das heißt absehbarer Zeit nach dem Ende
des Bewilligungszeitraums wegfällt, ist ausschließlich nach zeitlichen Gesichts-
punkten zu beurteilen. Materielle Gesichtspunkte, wie etwa der Wert des Ver-
mögens, müssen - entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts - bei
dieser Einschätzung außer Betracht bleiben. Nach der Wertung, die der Ge-
setzgeber in den Regelungen des § 90 Abs. 2 SGB XII zum Schonvermögen
und den § 90 Abs. 3 SGB XII und § 92 Abs. 5 SGB VIII zu Härtefällen getroffen
hat, sind derartige Gesichtspunkte lediglich ausnahmsweise und dann nur zu-
gunsten des Kostenbeitragspflichtigen zu berücksichtigen.
4. Maßgeblich für die Beurteilung, ob die Verwertbarkeit in angemessener Zeit
möglich ist, ist der vom zuständigen örtlichen Träger der Jugendhilfe im jeweili-
gen Einzelfall tatsächlich bestimmte Bewilligungszeitraum. Denn im Jugendhil-
ferecht gibt es - im Unterschied zum Sozialhilferecht (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1
SGB XII) und zum Recht der Grundsicherung für Arbeitslose (vgl. § 41 Abs. 1
Satz 4 und 5 SGB II) - keinen gesetzlich geregelten Bewilligungszeitraum. Bei
fortlaufendem Leistungsbezug ist nach Ablauf des jeweiligen Bewilligungszeit-
raums für jeden weiteren Bewilligungszeitraum eine neue Entscheidung über
die zeitliche Angemessenheit erforderlich, die ohne Bindung an die vorange-
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gangene Einschätzung zu treffen ist (vgl. BSG, Urteile vom 27. Januar 2009
- B 14 AS 42/07 R - SozR 4-4200 § 12 Nr. 12 Rn. 23 und vom 25. August 2011
- B 8 SO 19/10 R - juris Rn. 15). Die Verwertbarkeit ist also abschnittsweise und
für jeden Bewilligungszeitraum selbstständig zu prüfen. Das hat zur Folge, dass
ein Vermögen mit fortlaufender Bewilligungszeit gegebenenfalls in die Verwert-
barkeit hineinwächst.
Der Gesamtbezugszeitraum, das heißt, der Zeitraum in dem die voll- oder teil-
stationäre Leistung gegebenenfalls abschnittsweise gewährt wurde, scheidet
als zeitlicher Bezugspunkt - entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsge-
richts - schon deshalb aus, weil nach der gesetzlichen Konzeption nicht vorge-
sehen ist, den Kostenbeitragspflichtigen erst nach Beendigung der Leistung zu
deren Kosten heranzuziehen. Der Kostenbeitrag kann und wird in der Regel
vielmehr schon während der Leistungsgewährung erhoben. Das ergibt sich aus
§ 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, wonach der Kostenbeitrag bei Eltern, Ehegatten
und Lebenspartnern ab dem Tag erhoben werden kann, ab welchem dem
Pflichtigen die Gewährung der Leistung mitgeteilt und er über die Folgen für
seine Unterhaltspflicht gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt wurde. Ist
die Mitteilung aus in den Verantwortungsbereich des Pflichtigen fallenden recht-
lichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich, kann der Kostenbeitrag nach
§ 92 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII auch ohne vorherige Mitteilung erhoben werden.
Entsprechendes gilt für die Heranziehung des jungen Volljährigen zu den Kos-
ten einer ihm gewährten voll- oder teilstationären Leistung. Da sich die Frage
der Heranziehung zu einem Kostenbeitrag bereits zu Beginn des Leistungszeit-
raums stellen kann, ist für die Beurteilung der Angemessenheit (auch) auf die-
sen Zeitpunkt abzustellen.
5. In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich auf der Grundlage der tatsächli-
chen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, die von den Beteiligten nicht
mit Verfahrensrügen angegriffen wurden und an die der Senat deshalb gebun-
den ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), dass die Erbschaft der Klägerin kein im Sinne des
§ 90 Abs. 1 SGB XII verwertbares Vermögen darstellt. Dies folgt schon daraus,
dass der Zeitraum bis zum Eintritt der rechtlichen Verfügungsmöglichkeit über
die Erbschaft nicht als angemessen angesehen werden kann.
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Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts erlangt die Klägerin die
rechtliche Verfügungsmacht über ihre Erbschaft erst nach Beendigung der ihr in
drei aufeinanderfolgenden Bewilligungszeiträumen gewährten Hilfe für junge
Volljährige in Form der Heimerziehung am 16. April 2017. Zu diesem Zeitpunkt
endet die testamentarisch angeordnete Testamentsvollstreckung. Die Klägerin
kann nach § 2211 Abs. 1 BGB, solange die Testamentsvollstreckung besteht,
über die der Verwaltung des Testamentsvollstreckers unterliegenden Nachlass-
gegenstände nicht verfügen. Die Voraussetzungen, unter denen in einer derar-
tigen Sachverhaltskonstellation ausnahmsweise von einem verwertbaren Ver-
mögen auszugehen ist, sind nicht erfüllt. Dabei ist hier nicht abschließend zu
klären, anhand welcher zeitlichen Parameter im Einzelnen zu beurteilen ist, ob
der Zeitraum bis zum Wegfall des - in diesem Falle rechtlichen - Verwertungs-
hindernisses als angemessen anzusehen ist. Denn nach allen in Betracht
kommenden Berechnungsmodellen oder Berechnungsmethoden kann hier für
keinen der drei Bewilligungszeiträume von einer rechtlichen Verwertbarkeit in
angemessener Zeit ausgegangen werden.
a) Soweit das Doppelte des jeweiligen Bewilligungszeitraums als Grenze der
Angemessenheit angenommen werden kann, scheidet hier eine Verwertbarkeit
aus. Bezogen auf den ersten Bewilligungszeitraum vom 16. April 2010 bis zum
31. Oktober 2010 (= 6 ½ Monate) liegt das Ende der Testamentsvollstreckung
um ein Vielfaches außerhalb des damit vorgegebenen Zeitrahmens von 13 Mo-
naten. Entsprechendes gilt für den zweiten Bewilligungszeitraum vom 1. No-
vember 2010 bis 30. Juni 2011 (= 8 Monate) sowie für den dritten Bewilligungs-
zeitraum vom 1. Juli 2011 bis zum 30. April 2012 (= 10 Monate). Auch insoweit
wird die äußerste Grenze für die Annahme einer Verwertbarkeit in angemesse-
ner Zeit von 16 und 20 Monaten deutlich überschritten.
b) Nichts anderes gilt im Ergebnis, wenn die Dauer des jeweiligen Bewilligungs-
zeitraums sowie der zeitliche Abstand zwischen deren Beginn und dem Wegfall
des Verwertungshindernisses als maßgebliche zeitliche Parameter angesehen
werden, die zueinander in Verhältnis zu setzen sind. Dieses Verhältnis beträgt
für den ersten Bewilligungszeitraum 1 zu 13, für den zweiten Bewilligungszeit-
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raum 1 zu 10 und für den dritten Bewilligungszeitraum 1 zu 7. Es bedarf keiner
Begründung im Einzelnen, dass Verhältnisse in dieser Größenordnung keinen
angemessenen Zeitraum zwischen dem Beginn des jeweiligen Bewilligungszeit-
raums und dem Eintritt der rechtlichen Verfügungsmöglichkeit widerspiegeln.
c) Die Richtigkeit der Annahme, dass die Erbschaft nicht in angemessener Zeit
rechtlich verwertbar ist, bestätigen zwei Kontrollüberlegungen. Zunächst steht
auch die gesamte Dauer des Leistungsbezugs (= 2 Jahre und 1/2 Monat) zu
der Zeitspanne zwischen dem Beginn des ersten Bewilligungszeitraums und
dem Eintritt der Verwertbarkeit (= 7 Jahre und 1/2 Monat) nicht in einem ange-
messenen Verhältnis. Die Klägerin müsste danach Vermögen einsetzen, über
das sie die rechtliche Verfügungsmacht nach Ablauf eines Zeitraums erlangt,
der mehr als dreimal so lang ist wie die gesamte Dauer des Leistungsbezugs.
Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Angemessenheit des Zeitraums bis
zur Verwertbarkeit kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Verjäh-
rungsfrist für den Kostenbeitragsanspruch nach der im Jugendhilferecht ent-
sprechend anwendbaren Vorschrift des § 195 BGB regelmäßig drei Jahre be-
trägt. Auch bezogen auf den letzten Bewilligungszeitraum wird diese Zeit über-
schritten.
Da der streitige Bescheid aus den vorstehenden Gründen rechtswidrig ist,
kommt es nicht darauf an, ob er auch deshalb aufzuheben wäre, weil ihm nicht
zu entnehmen ist, dass die Beklagte bei Erlass des Kostenbeitragsbescheids
geprüft hat, ob und zu welchem Zeitpunkt die Erbschaft nach dem Wegfall des
rechtlichen Verwertungshindernisses auch in tatsächlicher Hinsicht verwertbar
werden wird und ob dieser Zeitpunkt in einem angemessenen Verhältnis zur
Dauer der jeweiligen Bewilligungszeiträume der der Klägerin gewährten Hei-
merziehung steht. Dafür spricht allerdings Überwiegendes.
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6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichts-
kostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Vormeier
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Fleuß
Dr. Harms
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