Urteil des BVerwG vom 12.05.2011

Kostenbeitrag, Jugendhilfe, Eltern, Anrechenbares Einkommen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 10.10
VGH 12 S 1550/07
Verkündet
am 12. Mai 2011
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2011
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler
und Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Dezember
2009 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen einen Kostenbeitrag, den der beklagte Landkreis
für die seinem Sohn gewährten Jugendhilfeleistungen erhoben hat.
Der Kläger lebt als allein verdienender Elternteil mit seiner zweiten Ehefrau und
zwei gemeinsamen Kindern (geboren 1995 und 1998) zusammen. Für diese
Kinder bezog er 2006 Kindergeld in Höhe von 308 € monatlich. Sein 1989 ge-
borener Sohn aus erster Ehe, für den er kein Kindergeld erhält, wurde vom Ju-
gendamt des Beklagten in einer Pflegefamilie untergebracht. Hierfür leistet der
Beklagte seit 1996 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege.
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Mit Bescheid vom 7. März 2006 zog der Beklagte den Kläger zur Zahlung eines
Kostenbeitrags in Höhe von monatlich 137,50 € für die Zeit vom 1. April 2006
bis zum 30. September 2006 und von monatlich 275 € für die Zeit ab 1. Oktober
2006 heran. Bei der Berechnung legte der Beklagte ein monatliches Erwerbs-
nettoeinkommen des Klägers in Höhe von 1 810,41 € zugrunde. Das Kindergeld
für die Geschwisterkinder (308 €) zählte er hinzu und bezifferte das Gesamtein-
kommen des Klägers auf 2 118,41 €. Unter Absetzung der Belastungspauscha-
le von 25 % nach § 93 Abs. 3 SGB VIII (529,60 €) kam der Beklagte zu einem
für die Kostenbeitragsberechnung maßgeblichen Einkommen von 1 588,81 €,
welches er der Einkommensgruppe 8 der Kostenbeitragstabelle zuordnete. Un-
ter Berücksichtigung der Unterhaltspflichten des Klägers gegenüber seiner
zweiten Ehefrau und den gemeinsamen Kindern erfolgte eine Herabstufung in
die Einkommensgruppe 5. Der für diese Stufe vorgesehene Kostenbeitrag von
monatlich 275 € wurde in Anwendung der Übergangsregelung des § 8 der
Kostenbeitragsverordnung (KostenbeitragsV) für die ersten sechs Monate hal-
biert.
Auf die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hat das Ver-
waltungsgericht mit Urteil vom 8. November 2006 die angefochtenen Bescheide
aufgehoben. Es hat das Kindergeld, das der Kläger für die Geschwister des
untergebrachten Kindes erhalten hat (sog. Geschwisterkindergeld), nicht zu
seinem Nettoerwerbseinkommen hinzugerechnet. Nach Abzug der 25 %-
Pauschale ist es zu einem für die Kostenbeitragserhebung maßgeblichen Ein-
kommen des Klägers in Höhe von 1 357,81 € gelangt. Unter Berücksichtigung
der Unterhaltspflichten des Klägers hat es eine Abstufung in die Einkommens-
gruppe 1 vorgenommen, wonach sich der Kostenbeitrag auf 0 € belaufe.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Zwar stelle das Kindergeld - unabhängig davon, ob es für das untergebrachte
Kind oder seine Geschwister gezahlt werde - anzurechnendes Einkommen im
Sinne des § 93 Abs. 1 SGB VIII dar. Insbesondere unterfalle das Geschwister-
kindergeld nicht dem Ausschlussgrund des § 93 Abs. 1 Satz 3 (jetzt: Satz 4)
SGB VIII, wonach Leistungen nicht als Einkommen zu berücksichtigen seien,
die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genann-
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ten Zweck erbracht würden. Da hierfür bloße Zweckbestimmungen, die sich
anderen Vorschriften nur konkludent oder gleichsam „zwischen den Zeilen“ ent-
nehmen ließen, nicht ausreichten, fehle es für das Kindergeld an einer aus-
drücklichen Nennung des Zwecks. Obgleich deshalb das Geschwisterkinder-
geld dem Einkommen des Klägers zuzurechnen sei, sei die Kostenerhebung im
Ergebnis rechtswidrig. Der Beklagte habe nämlich zum einen die Abstufung für
weitere Unterhaltsberechtigte nicht korrekt vorgenommen. Denn nach § 4
Abs. 1 Nr. 1 KostenbeitragsV müsse der Kostenbeitragspflichtige, wenn sein
maßgebliches Einkommen zu einer der Einkommensgruppen 2 bis 7 der Kos-
tenbeitragstabelle gehöre, je Unterhaltspflicht einer um zwei Stufen niedrigeren
Einkommensgruppe zugeordnet werden. Dies gelte auch dann, wenn die
Grundeinstufung in einer Einkommensgruppe vorzunehmen sei, für die § 4
Abs. 1 Nr. 2 KostenbeitragsV nur Rückstufungen je Unterhaltspflicht um eine
Stufe vorsehe. Wenn einmal in der Abstufungsreihenfolge die Einkommens-
gruppe 7 erreicht sei, sehe die Verordnung eine Rückstufung um zwei Gruppen
vor. Im Falle des Klägers bedeute dies, dass er - da bei den Unterhaltspflichten
auch der in einer Pflegefamilie untergebrachte Sohn berücksichtigt werden
müsse - in die Einkommensgruppe 1 zurückzustufen sei. Zum anderen müsse
unabhängig davon aufgrund der Härtefallregelung des § 4 Abs. 2 Satz 2
KostenbeitragsV i.V.m. § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII von der Erhebung eines
Kostenbeitrags abgesehen werden, weil ansonsten die Unterhaltsansprüche
gleichrangig Berechtigter geschmälert würden.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 94 Abs. 2 SGB VIII
i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 KostenbeitragsV sowie von § 4 Abs. 2 Satz 2
KostenbeitragsV i.V.m. § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII.
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil im Ausspruch.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt
sich am Verfahren und vertritt mit dem Verwaltungsgericht und dem Kläger im
Ergebnis die Auffassung, das Geschwisterkindergeld sei nicht als Einkommen
des Klägers zu berücksichtigen.
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II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das angefochtene Urteil des Ver-
waltungsgerichtshofs verletzt zwar Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO),
soweit es das Geschwisterkindergeld als anrechenbares Einkommen im Sinne
von § 93 Abs. 1 SGB VIII behandelt (1.). Die Revision des Beklagten bleibt aber
ohne Erfolg, weil sich das Berufungsurteil im Ergebnis als richtig erweist (§ 144
Abs. 4 VwGO). Die Heranziehung des Klägers zu einem jugendhilferechtlichen
Kostenbeitrag war im streitbefangenen Zeitraum rechtswidrig (2.).
1. Das Kindergeld, das der Kläger für die Geschwister seines in einer Pflegefa-
milie untergebrachten Sohnes bezieht, zählt nicht zu seinem Einkommen im
Sinne von § 93 Abs. 1 SGB VIII (in der im streitigen Zeitraum
anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und
Jugendhilfe vom
8. September 2005 ).
1.1 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar zu Recht angenommen, dass Kinder-
geld, das an den Kostenbeitragspflichtigen ausbezahlt wird, zu dessen Einkünf-
ten im Sinne von § 93 Abs.1 Satz 1 SGB VIII zu rechnen ist. Ebenso hat der
Verwaltungsgerichtshof - was auch zwischen den Beteiligten nicht im Streit
steht - zutreffend entschieden, dass einer Berücksichtigung des Geschwister-
kindergeldes als Einkommen nicht die Ausnahmevorschrift des § 93 Abs. 1
Satz 2 SGB VIII (in der hier anzuwendenden Fassung des KICK vom 8. Sep-
tember 2005 a.a.O.) entgegensteht. Nach dieser Regelung zählen Geldleistun-
gen, die dem gleichen Zweck wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen,
nicht zum Einkommen und sind unabhängig vom Kostenbeitrag einzusetzen. An
der nach dieser Vorschrift vorausgesetzten Zweckidentität fehlt es hier, weil das
Kindergeld für die Geschwister des untergebrachten Kindes nicht dem gleichen
Zweck dient wie die Leistung der Jugendhilfe für das untergebrachte Kind (vgl.
bereits Urteil vom 22. Dezember 1998 - BVerwG 5 C 25.97 - BVerwGE 108,
221 <224> zur fehlenden Zweckidentität zwischen Jugendhilfeleistung und Kin-
dergeld).
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1.2 Das Geschwisterkindergeld ist aber gemäß § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII (in
der hier anzuwendenden Fassung des KICK vom 8. September 2005 a.a.O.)
nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Nach dieser Bestimmung, die sich
nunmehr wortgleich in § 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII findet (in der Fassung des
Gesetzes zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen
und in Kindertagespflege - Kinderförderungsgesetz - KiföG - vom 10. Dezember
2008 ), zählen Leistungen nicht zum Einkommen, die auf-
grund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten
Zweck erbracht werden. Das trifft auf das Kindergeld für die Geschwister des
untergebrachten Kindes, das dem Kläger als Kostenbeitragspflichtigen in Höhe
von 308 € monatlich zugeflossen ist, zu. Das (Geschwister-)Kindergeld wird
aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften (§§ 31 f., 62 ff. EStG, §§ 1 ff. BKGG)
gewährt. Es dient auch einem ausdrücklich genannten Zweck im Sinne von
§ 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII (1.2.1), der seinem Einsatz als Einkommen für die
Berechnung des jugendhilferechtlichen Kostenbeitrags entgegensteht (1.2.2).
1.2.1 Das Wort „ausdrücklich“ ist nicht im engen Sinne zu verstehen. Mit dieser
Formulierung knüpft § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII an die insoweit wortgleiche
ältere Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 1 BSHG (jetzt § 83 Abs. 1 SGB XII) an.
Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte ist der Gesetzgeber, als er die Be-
stimmung des § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII (durch das KICK vom 8. September
2005 a.a.O.) mit dem Erfordernis der ausdrücklichen Zwecksetzung in das Ju-
gendhilferecht aufgenommen hat, von dem zu diesem Zeitpunkt vorgefunde-
nen, von der Rechtsprechung geprägten Verständnis dieses Rechtsbegriffs
ausgegangen und hat es übernommen. Für die Auslegung, welche Anforderun-
gen an dieses Merkmal zu stellen sind, kann deshalb auf die hierzu ergangene
höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem gleichlautenden älteren Begriff des
Sozialhilferechts zurückgegriffen werden. Danach ist es nicht erforderlich, dass
das Wort „Zweck“ in dem jeweiligen Gesetz ausdrücklich verwendet wird. Viel-
mehr genügt es, wenn sich eine Zwecksetzung eindeutig aus dem Gesetz ent-
nehmen lässt (Urteil vom 28. Mai 2003 - BVerwG 5 C 41.02 - Buchholz 436.0
§ 76 BSHG Nr. 36 m.w.N. zu § 77 Abs. 1 Satz 1 BSHG).
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Eine nach dieser Maßgabe ausdrückliche Zwecksetzung des Kindergeldes ist in
§ 31 Abs. 1 EStG normiert. Nach dieser Regelung, die - wie bereits die gesetz-
liche Überschrift ausweist - dem Familienleistungsausgleich dient, wird die steu-
erliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums
eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Aus-
bildung entweder durch die (in § 32 EStG geregelten) Freibeträge oder durch
das Kindergeld bewirkt. Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient
es der Förderung der Familie (§ 31 Abs. 1 Satz 2 EStG). Die Leistung des Kin-
dergeldes ist damit nicht zweckneutral; vielmehr wird schon ausweislich des
Wortlauts der vorbezeichneten Regelungen unmissverständlich klar gestellt,
dass das Kindergeld bei einkommensteuerpflichtigen Eltern (wie dem Kläger) in
erster Linie dazu bestimmt ist, die Familie zu entlasten und das Existenzmini-
mum des Kindes einschließlich des Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbil-
dungsaufwands (steuerlich) zu verschonen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse
vom 29. Mai 1990 - 1 BvL 20/84 u.a. - BVerfGE 82, 60 <86 f.> und vom 13. Ok-
tober 2009 - 2 BvL 3/05 - BVerfGE 124, 282 <295>). Das Kindergeld ist danach
eine den Eltern zufließende, aber für das jeweilige Kind bestimmte Leistung.
Eine solche Zwecksetzung hat das Bundesverwaltungsgericht bereits zu den
früher geltenden Regelungen des Kindergeldrechts angenommen und den
Zweck des Kindergeldes in ständiger Rechtsprechung dahin charakterisiert,
dass es dazu dient, die in der Person des Kindes entstehenden Kosten der all-
gemeinen Lebensführung mindestens teilweise zu decken und zur Entlastung
von den Kosten des Lebensunterhalts beizutragen (vgl. Urteil vom 22. Dezem-
ber 1998 a.a.O. <224> sowie bereits Urteil vom 7. Februar 1980 - BVerwG 5 C
73.79 - BVerwGE 60, 6 <8 f., 10 f.> m.w.N. zur Gewährung von Kindergeld
nach dem Bundeskindergeldgesetz - BKGG - vom 14. April 1964
S. 265>). Zwar hat der Senat in seinen früheren Entscheidungen, zu der
Rechtsfrage, ob eine Zweckgleichheit des Kindergeldes mit den konkreten Leis-
tungen der Eingliederungs- bzw. Jugendhilfe bestand, hervorgehoben, dass mit
dem allgemeinen Zweck des Familienlastenausgleichs ein weiter Rahmen ge-
zogen werde, der von den Kindergeldberechtigten auf sehr unterschiedliche
und vielfältige Weise ausgefüllt werden könne; die Offenheit und Weite der
Zweckbestimmung seien Ausdruck gesetzgeberischer Zurückhaltung, die dem
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einzelnen Kindergeldberechtigten die Entscheidung überlasse, in welcher Art
und Weise er das Kindergeld verwende. Der Senat hat dabei aber zugleich in
ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass „das Kindergeld entsprechend sei-
ner allgemeinen Zielsetzung zugunsten der Kinder, für die es geleistet wird,
verwendet“ wird (Urteile vom 29. September 1994 - BVerwG 5 C 56.92 -
BVerwGE 96, 379 <381> und vom 22. Dezember 1998 a.a.O. S. 224 f. zur Fra-
ge der Zweckgleichheit im Sinne von § 93 Abs. 5 SGB VIII a.F.). Mit diesem
Zusatz ist der personale Bezug des Kindergeldes zum jeweiligen Kind bereits
deutlich zum Ausdruck gebracht worden.
Die vorgenannte ausdrückliche Zwecksetzung des Kindergeldes und insbeson-
dere seine personale Zuordnung werden durch eine systematische Betrachtung
der heutigen Gesetzeslage in weiteren Bereichen, in denen der Gesetzgeber
Bestimmungen über das Kindergeld getroffen hat, bestätigt. So hebt der Regie-
rungsentwurf zur Novellierung der unterhaltsrechtlichen Regelung des § 1612b
BGB in seiner Begründung ausdrücklich hervor, es bestehe nunmehr Einigkeit
darüber, „dass das Kindergeld im wirtschaftlichen Ergebnis dem Kind zusteht
und dazu bestimmt ist, dessen Existenz zu sichern“ (BTDrucks 16/1830 vom
15. Juni 2006 S. 29 unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 9. April 2003
- 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01 - BVerfGE 108, 52 <69 ff.>). Die nach Maßgabe
des Regierungsentwurfs Gesetz gewordene Neuregelung des § 1612b Abs. 1
BGB (i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21. Dezem-
ber 2007, BGBl I S. 3189) bestimmt deshalb ausdrücklich, dass „das auf das
Kind entfallende Kindergeld … zur Deckung seines Barbedarfs zu verwenden“
ist. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass das Kindergeld in treuhänderischer
Gebundenheit wirtschaftlich dem Kind zusteht (Diederichsen, in: Palandt, BGB,
68. Aufl. 2009, § 1612b Rn. 3 m.w.N.). Mit der Neuregelung soll nach der Vor-
stellung des Gesetzgebers „die unterhaltsrechtliche Funktion des Kindergeldes,
den Bedarf des Kindes zu decken“, „klar zum Ausdruck“ kommen und gleichzei-
tig sollen „die zivilrechtlichen Bestimmungen in Einklang mit den sozialrechtli-
chen Grundentscheidungen gebracht“ werden (BTDrucks 16/1830 S. 29). Im
Sozialrecht wird nämlich nach heutiger Gesetzeslage das Kindergeld für min-
derjährige Kinder unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II
bzw. des § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII dem jeweiligen Kind als Einkommen zuge-
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rechnet mit der Folge, dass der individuelle Hilfebedarf entsprechend gemindert
ist (BTDrucks 16/1830 S. 29 m.w.N.). Dem liegt ebenfalls die gesetzgeberische
Wertung zugrunde, dass das Kindergeld - auch wenn es an die Kindergeldbe-
rechtigten (d.h. insbesondere an die Eltern) ausgezahlt wird und diese darüber
verfügen können - grundsätzlich dem jeweiligen Kind zugutekommen soll und
für seinen Bedarf bestimmt ist.
1.2.2 Dient mithin die in Rede stehende Leistung - hier des Kindergeldes -
einem ausdrücklich genannten Zweck im Sinne von § 93 Abs. 1 Satz 3 (jetzt:
Satz 4) SGB VIII, so setzt die Vorschrift aber noch weiter voraus, dass diese
Zweckbestimmung einer Verwendung zu Zwecken der Jugendhilfe zuwiderläuft.
Diese Anforderung erschließt sich bereits aus der systematischen Abgrenzung
zu der (weiteren) Ausnahmeregelung des § 93 Abs. 1 Satz 2 (jetzt: Satz 3)
SGB VIII. Da diese Vorschrift die Fälle erfasst, in denen die Geldleistung dem
gleichen Zweck wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dient, fallen unter
§ 93 Abs. 1 Satz 3 (jetzt: Satz 4) SGB VIII diejenigen Fälle, in welchen der aus-
drücklich genannte Zweck der Leistung ein anderer ist als derjenige, zu dem die
im Einzelfall in Frage stehende Leistung der Jugendhilfe gewährt wird. Dabei
folgt das genannte Erfordernis einer zuwiderlaufenden Zweckbestimmung aus
dem Sinn und Zweck des § 93 Abs. 1 Satz 3 (jetzt: Satz 4) SGB VIII selbst. Mit
dieser Regelung soll nämlich verhindert werden, dass Leistungen, die nach
ausdrücklicher öffentlich-rechtlicher Bestimmung für einen bestimmten Zweck
erbracht werden, vom Berechtigten als Einkommen eingesetzt werden müssen
und deshalb für ihren besonderen Zweck nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl.
VGH München, Urteil vom 24. Juni 2010 - 12 BV 09.2527 - FamRZ 2011, 331 f.
sowie bereits Urteil vom 12. April 1984 - BVerwG 5 C 3.83 - BVerwGE 69, 177
<181> zu § 77 Abs. 1 BSHG).
Dem oben genannten Zweck des Kindergeldes, den existenziellen Bedarf des
jeweiligen Kindes zu sichern, läuft es zwar nicht zuwider, wenn das Kindergeld
für das nach Jugendhilferecht (vollstationär) untergebrachte Kind (Heimerzie-
hung oder Pflege) dem für die Berechnung des Kostenbeitrags maßgeblichen
Einkommen der Eltern (im Sinne von § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) zugeordnet,
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wohl aber wenn das für die Geschwister des untergebrachten Kindes gezahlte
Kindergeld hierzu herangezogen wird.
a) Im Hinblick auf das untergebrachte Kind wird der mit der Gewährung von
Kindergeld verfolgte Zweck, zum Familienleistungsausgleich beizutragen und
die Eltern zu entlasten, bereits dadurch erreicht, dass der Jugendhilfeträger den
entsprechenden Bedarf des Kindes deckt und seinen notwendigen Unterhalt
sicherstellt (vgl. Urteil vom 19. August 2010 - BVerwG 5 C 10.09 - NJW 2011,
97 <98> unter Hinweis darauf, dass dies zum Erlöschen der darauf gerichteten
zivilrechtlichen Unterhaltsansprüche führt). Dass das Kindergeld für das unter-
gebrachte Kind als Einkommen der Eltern zu behandeln ist, ergibt sich überdies
und insbesondere aus der im Jahre 2005 in das Jugendhilferecht aufgenomme-
nen Vorschrift des § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Werden danach Leistungen
über Tag und Nacht außerhalb des Elternhauses erbracht und bezieht einer der
Elternteile Kindergeld für den jungen Menschen, so hat dieser einen Kostenbei-
trag mindestens in Höhe des Kindergeldes zu zahlen. Diese Vorschrift setzt die
Berücksichtigung des Kindergeldes für das untergebrachte Kind als Einkommen
der Eltern notwendig voraus. Soweit in der Gesetzesbegründung zur Neufas-
sung des § 93 SGB VIII (BTDrucks 15/5616 S. 27 zu Nr. 49) ausgeführt wird,
dass es sachgerecht sei, das Kindergeld dem Einkommen des Bezugsberech-
tigten zuzurechnen, um es so ausreichend zu berücksichtigen, bezieht sich die-
se Aussage allein auf das Kindergeld, das für ein untergebrachtes Kind geleis-
tet wird (so zutreffend Rechtsgutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe
und Familienrecht e.V. vom 22. September 2006, JAmt 2006, 442
<443>).
b) Demgegenüber läuft es dem Zweck des - hier in Rede stehenden - Kinder-
geldes für die Geschwister des untergebrachten Kindes zuwider, wenn dieses
bei der Berechnung des jugendhilferechtlichen Kostenbeitrags als Einkommen
der Eltern - hier des Vaters - berücksichtigt wird. Denn die Einsetzung des Ge-
schwisterkindergeldes als Einkommen des Kostenbeitragspflichtigen würde da-
zu führen, dass dieser - wie sich aus der Staffelung der Tabelle zur Kostenbei-
tragsverordnung (hier anwendbar in der Fassung vom 1. Oktober 2005, BGBl I
S. 2907) ergibt - einen (höheren) Kostenbeitrag für das untergebrachte Kind
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zahlen müsste. Dies hätte zur Folge, dass das Kindergeld für das jeweilige Ge-
schwisterkind mindestens anteilig dem Zugriff des Jugendhilfeträgers zugäng-
lich gemacht würde und in dieser Höhe nicht mehr zugunsten des Kindes, für
das es geleistet wurde, verwendet werden könnte; entgegen dem vorgenannten
Zweck des für die Geschwister gewährten Kindergeldes würden diese indirekt
an dem Kostenbeitrag für das untergebrachte Kind beteiligt (vgl. DIJuF-Rechts-
gutachten vom 5. November 2005, JAmt 2005, 508; DIJuF-Rechtsgutachten
vom 22. September 2006, JAmt 2006, 442 <443>; Gemeinsame Empfehlungen
für die Heranziehung zu den Kosten nach §§ 90 ff. SGB VIII, Arbeitsgemein-
schaft der Jugendämter der Länder Bremen, Niedersachsen, Schleswig-
Holstein und der Landesjugendämter Berlin, Hamburg, Mecklenburg-
Vorpommern, Rheinland, Rheinland-Pfalz, Saarland, Thüringen, Westfalen-
Lippe, Stand: 1. Oktober 2006, Ziffer 12.4.; i. E. ebenso Degener, in:
Jans/Happe/Saurbier/Maas, KJHG, Stand: Juli 2010, Erl. § 93 Art. 1 KJHG
Rn. 7, Erl. § 94 Art. 1 KJHG Rn. 12 und Erl. § 4 KostenbeitragsV zu § 94 Rn. 9;
Schindler, in: FK-SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 93 Rn. 17; Wiesner, in: SGB VIII, 3.
Aufl. 2006, § 93 Rn. 5).
2. Unterfällt danach das Geschwisterkindergeld der Ausnahmeregelung des
§ 93 Abs. 1 Satz 3 (jetzt Satz 4) SGB VIII und zählt nicht zum Einkommen des
Klägers, so hätte - wie sich aus der folgenden Berechnung ergibt - ein Kosten-
beitrag nicht erhoben werden dürfen. Die streitbefangene Heranziehung des
Klägers war rechtswidrig.
Nach den bindenden und zwischen den Beteiligten nicht im Streit stehenden
Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) beträgt das Netto-
erwerbseinkommen des Klägers 1 810,41 €. Da der Kläger - wie der Verwal-
tungsgerichtshof ebenfalls in für das Revisionsgericht bindender Weise festge-
stellt hat - Kindergeld für den in einer Pflegefamilie untergebrachten Sohn aus
erster Ehe nicht erhält, bleibt es bei einem Einkommen im Sinne von § 93
Abs. 1 und 2 SGB VIII in dieser Höhe. Nach § 93 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII erfolgt
der Abzug der weiteren Belastungen (im Sinne von § 93 Abs. 3 Satz 1 und 2
SGB VIII) regelmäßig durch eine Kürzung des nach den Absätzen 1 und 2 er-
rechneten Einkommens um pauschal 25 %. Mangels tatsächlich nachgewiese-
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ner höherer Belastungen (vgl. § 93 Abs. 3 Satz 4 und 5 SGB VIII) ist dieser
Pauschalbetrag - hier in Höhe von 452,60 € - abzuziehen, so dass das bereinig-
te Einkommen des Klägers 1 357,81 € beträgt (= 1 810,41 € - 452,60 €). Dieses
für die Kostenbeitragsermittlung maßgebliche Einkommen ist nach der Kosten-
beitragsverordnung, welche in ihrem Anhang zu § 1 nach Einkommensgruppen
gestaffelte Pauschalbeträge vorsieht, der Einkommensgruppe 7 zuzuordnen.
Der Kläger ist allerdings gemäß § 94 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1
KostenbeitragsV auf die Einkommensgruppe 1 zurückzustufen. Nach § 94
Abs. 2 SGB VIII sind für die Bestimmung des Umfangs der Heranziehung die
Anzahl der Personen, die mindestens im gleichen Rang wie der untergebrachte
junge Mensch unterhaltsberechtigt sind, angemessen zu berücksichtigen.
Durch die Bezugnahme auf die Rangfolge der Unterhaltspflichten wird der Sa-
che nach auf § 1609 BGB verwiesen. Einen ausdrücklichen Verweis auf diese
Vorschrift enthält die § 94 Abs. 2 SGB VIII konkretisierende Bestimmung des
§ 4 Abs. 1 KostenbeitragsV. Obgleich § 1609 BGB im Unterhaltsrecht nur An-
wendung findet, wenn der Unterhaltsschuldner außerstande ist, allen bedürfti-
gen Berechtigten Unterhalt zu gewähren (Mangelfall), ist im Rahmen des § 94
Abs. 2 SGB VIII allein die Rangfolge bedeutsam, ohne dass zudem ein Mangel-
fall vorliegen müsste. Es handelt sich insoweit nicht um eine Rechtsgrund-, son-
dern um eine Rechtsfolgenverweisung, die sich ausschließlich auf die Rangfol-
ge bezieht (Degener, a.a.O., Erl. § 4 KostenbeitragsV zu § 94 Rn. 1; Schindler,
a.a.O., Anhang zu § 94 Rn. 8); weitere (mindestens) gleichrangige Unterhalts-
ansprüche sind daher immer zu berücksichtigen. Im hier streitbefangenen Zeit-
raum galt § 1609 BGB in der Fassung vom 2. Januar 2002 (BGBl I S. 42), wo-
nach minderjährige unverheiratete Kinder und der Ehegatte gleichrangig unter-
haltsberechtigt waren. Im Streitfall sind damit drei Personen - die zweite Ehe-
frau des Klägers sowie die beiden gemeinsamen minderjährigen Kinder - im
gleichen Rang wie der untergebrachte Sohn des Klägers aus erster Ehe zu be-
rücksichtigen.
Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 KostenbeitragsV sind - wenn die kostenbeitragspflichtige
Person gegenüber anderen Personen nach § 1609 BGB im mindestens glei-
chen Rang wie dem untergebrachten jungen Menschen zum Unterhalt verpflich-
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tet ist und mit diesen in einem gemeinsamen Haushalt lebt - diese bei einer Zu-
ordnung des maßgeblichen Einkommens zu einer der Einkommensgruppen 2
bis 7 je Unterhaltspflicht einer um 2 Stufen niedrigeren Einkommensgruppe zu-
zuordnen. Infolgedessen ist der Kläger, der mit seiner zweiten Ehefrau und den
gemeinsamen Kindern in einem Haushalt lebt, von der Einkommensgruppe 7 in
die Einkommensgruppe 1 zurückzustufen, welcher ein Kostenbeitrag von 0 €
zugeordnet ist.
Demgegenüber ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs im Rah-
men der Rückstufung nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 KostenbeitragsV nicht auch der un-
tergebrachte Sohn des Klägers zu berücksichtigen. Dies ergibt sich bereits aus
dem Wortlaut des § 94 Abs. 2 SGB VIII. Wenn es dort heißt, dass für die Be-
stimmung des Umfangs der Heranziehung die Anzahl der Personen zu berück-
sichtigen ist, die „mindestens im gleichen Range wie der untergebrachte junge
Mensch“ unterhaltsberechtigt sind, dann folgt aus der geforderten Vergleichsbe-
trachtung, dass der untergebrachte junge Mensch selbst nicht zu dem berück-
sichtigungsfähigen Personenkreis zählt. Überdies erfüllt der Kläger auch nicht
die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 KostenbeitragsV, wonach
die kostenbeitragspflichtige Person gegenüber der betreffenden Person zum
Unterhalt verpflichtet sein und mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt leben
muss. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs trifft jedenfalls
Letzteres hier nicht zu, weil der Kläger mit seinem in einer Pflegefamilie unter-
gebrachten Sohn aus erster Ehe nicht in einem gemeinsamen Haushalt lebt.
Da der Kläger für diesen untergebrachten Sohn kein Kindergeld erhält, durfte
auch kein entsprechender (Mindest-)Kostenbeitrag nach § 94 Abs. 3 Satz 1
SGB VIII in Höhe des Kindergeldes erhoben werden.
War nach alledem die Heranziehung des Klägers zu dem streitbefangenen
Kostenbeitrag bereits aus den dargelegten Gründen rechtswidrig, kommt es auf
eine Klärung der vom Verwaltungsgerichtshof erörterten Frage zu einem Wech-
sel in der Herabstufung (zunächst nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 KostenbeitragsV und
sodann nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 KostenbeitragsV) ebenso wenig an wie auf die
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Frage, ob hier auch die Härtefallregelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 Kosten-
beitragsV i.V.m. § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII einschlägig ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Hund
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Häußler
Dr. Fleuß
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Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Jugendhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
SGB VIII
§ 93 Abs. 1
BGB
§§ 1609, 1612b
KostenbeitragsV § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2
Stichworte:
Einkommen; Einkommensberechnung; Geschwisterkindergeld; Herabstufung;
Heranziehung; Jugendhilfe; Kindergeld; Kostenbeitrag; Kostenbeitragspflicht;
Kostenbeitragsverordnung; Unterhalt; Unterhaltspflicht; Unterhaltsansprüche;
vollstationäre Leistung; Zwecksetzung; Zweckidentität.
Leitsatz:
Bei der Berechnung des jugendhilferechtlichen Kostenbeitrags zählt das für die
Geschwister des untergebrachten Kindes gezahlte Kindergeld nicht zum Ein-
kommen der Eltern.
Urteil des 5. Senats vom 12. Mai 2011 - BVerwG 5 C 10.10
I. VG Stuttgart vom 08.11.2006 - Az.: VG 7 K 2229/06 -
II. VGH Mannheim vom 16.12.2009 - Az.: VGH 12 S 1550/07 -