Urteil des BVerwG vom 19.08.2010

Kostenbeitrag, Selbstbehalt, Unbestimmter Rechtsbegriff, Systematische Auslegung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 10.09
OVG 2 LB 7/09
Verkündet
am 19. August 2010
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 19. August 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Häußler
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Schleswig-Holstein vom
27. April 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Höhe des Kostenbeitrages, den die Beklagte
für die seinen Kindern gewährten Jugendhilfeleistungen erhoben hat.
Der Kläger ist Vater eines 1990 geborenen Sohnes und einer 1992 geborenen
Tochter. Die Beklagte gewährte den Kindern unter anderem in der Zeit vom
1. April bis zum 31. Dezember 2006 vollstationäre Leistungen der Jugendhilfe
(Heimerziehung und Eingliederungshilfe). Für diesen Zeitraum zog sie den Klä-
ger mit Bescheiden vom 12. Mai 2006 zu einem monatlichen Kostenbeitrag in
Höhe von insgesamt 545 € heran (340 € für das erste und 205 € für das zweite
Kind). Auf den Widerspruch des Klägers reduzierte die Beklagte den Kosten-
beitrag mit Änderungsbescheid vom 9. Januar 2007 auf insgesamt 440 € mo-
natlich (275 € für das erste und 165 € für das zweite Kind). Im Übrigen wies sie
den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20. März 2008 zurück.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger zunächst die vollständige Aufhebung der
Kostenbeitragsbescheide. Im Klageverfahren hat er diese nur noch insoweit
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angegriffen, als der monatliche Kostenbeitrag insgesamt 350 € (250 € für sei-
nen Sohn und 100 € für seine Tochter) übersteigt. Hierzu hat der Kläger geltend
gemacht, die Beklagte habe die von seinem Einkommen abzusetzenden
Fahrtkosten zu der 57 km von seinem Wohnort entfernten Arbeitsstelle als La-
gerarbeiter bei der Be- und Entladung von Schiffen zu niedrig bemessen.
Mit Urteil vom 22. September 2008 hat das Verwaltungsgericht die streitbefan-
genen Bescheide der Beklagten in dem vom Kläger beantragten Umfang auf-
gehoben. Von dem monatlichen Nettoeinkommen des Klägers in Höhe von
1 790,35 € im maßgeblichen Zeitraum sei entgegen der Ansicht der Beklagten
nicht lediglich die 25 %-Pauschale für Belastungen nach § 93 Abs. 3 Satz 3
SGB VIII abzusetzen. Denn der Kläger habe eine höhere Fahrtkostenbelastung
nachgewiesen, die nach Grund und Höhe angemessen sei (§ 93 Abs. 3 Satz 4
SGB VIII). Aufgrund seiner unregelmäßigen Arbeitszeiten könne er nicht auf die
Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verwiesen werden. Die Höhe der Fahrtkos-
ten für PKW müsse auch im Kostenbeitragsrecht nach den unterhaltsrechtli-
chen Leitlinien, hier des Oberlandesgerichts Schleswig bemessen werden. Da-
nach seien für die Hin- und Rückfahrt jeweils eine Kilometerpauschale von
0,30 € für die ersten 30 km und von 0,20 € für die weitere Fahrstrecke anzuset-
zen. Dementsprechend ergebe sich für den Kläger eine tatsächliche monatliche
Belastung in Höhe von 597,60 €, die von seinem Einkommen abzuziehen sei.
Das danach für die Kostenbeitragsberechnung maßgebliche Einkommen sei der
Stufe 6 der im Anhang zu § 1 der Kostenbeitragsverordnung (KostenbeitragsV)
enthaltenen Tabelle zuzuordnen. Da bei der Eingruppierung des Sohnes und
der Tochter des Klägers jeweils die Unterhaltsverpflichtung für das andere
(gleichrangige) Kind berücksichtigt werden müsse, sei gemäß § 4
KostenbeitragsV eine Herabstufung auf die Einkommensstufe 4 vorzunehmen.
Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom
27. April 2009 zurückgewiesen. Es hat die Auffassung des Verwaltungsgerichts
geteilt, dass die berufsbedingten Fahrtkosten nach § 93 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2
SGB VIII nach der für den Kläger günstigeren Pauschalierung der Unterhalts-
richtlinien des Oberlandesgerichts zu bemessen seien.
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Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 93 Abs. 3 SGB VIII.
Sie vertritt ihre Rechtsansicht weiter, die Fahrtkosten dürften nur in der pau-
schalisierten Höhe abgezogen werden, wie sie im Einkommenssteuerrecht (§ 9
Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) oder im Sozialhilferecht (§ 82 Abs. 2 Nr. 4 SGB XII
i.V.m. § 3 der Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII) vorgesehen sei.
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil. Er macht ergänzend geltend, dass
er durch die Heranziehung zu Kostenbeiträgen nicht schlechter gestellt werden
dürfe, als er stehen würde, wenn er den gesetzlichen Unterhalt für seine Kinder
zu leisten hätte.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat
im Ergebnis im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschie-
den, dass die Kostenbeitragsbescheide in dem vom Kläger angefochtenen Um-
fang rechtswidrig gewesen und daher insoweit vom Verwaltungsgericht zu
Recht aufgehoben worden sind.
Unabhängig von der zwischen den Beteiligten streitigen und von den Vorin-
stanzen erörterten Frage der Fahrtkostenberechnung ist die Heranziehung des
Klägers jedenfalls in dem Umfang, in dem er die streitbefangenen Bescheide
angegriffen hat, schon deshalb rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten,
weil sie nicht angemessen im Sinne von § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist. Die
Heranziehung zu einem jugendhilferechtlichen Kostenbeitrag ist nur dann an-
gemessen im Sinne dieser Vorschrift, wenn dem (erwerbstätigen) Kostenbei-
tragspflichtigen der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt belassen wird (1.). Nach
den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen wird dieser Selbstbehalt,
der sich nach den unterhaltsrechtlichen Leitlinien des Oberlandesgerichts be-
stimmt, hier durch den von der Beklagten geforderten Kostenbeitrag unter-
schritten (2.). Dieser Verstoß von Bundesrecht führt im vorliegenden Fall zur
Zurückweisung der Revision, ohne dass allgemein zu klären ist, welche weiter-
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gehenden Rechtsfolgen eine Verletzung des Angemessenheitsgebots (§ 94
Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) nach sich zieht (3.).
1. Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind die Kostenbeitragspflichtigen aus ih-
rem Einkommen in angemessenem Umfang zu den Kosten heranzuziehen. Das
Gebot der Angemessenheit richtet sich nicht nur an den nach § 94 Abs. 5 SGB
VIII ermächtigten Verordnungsgeber, sondern gleichermaßen an die Kos-
tenbeiträge erhebenden Jugendhilfeträger, die diesem Grundsatz auch bei der
Kostenfestsetzung im Einzelfall Rechnung zu tragen haben. § 94 Abs. 1 Satz 1
SGB VIII ist insoweit unmittelbarer Maßstab und Grenze für die Kostenbeteili-
gung. Dabei ist das Tatbestandsmerkmal „in angemessenem Umfang“ ein un-
bestimmter Rechtsbegriff, dessen Anwendung der uneingeschränkten Überprü-
fung durch die Verwaltungsgerichte unterliegt (vgl. zum gleichlautenden Begriff
in § 85 Nr. 3 Satz 2 bzw. § 84 Abs. 1 BSHG: Urteile vom 6. April 1995
- BVerwG 5 C 5.93 - Buchholz 436.0 § 85 BSHG Nr. 14 und vom 26. Oktober
1989 - BVerwG 5 C 30.86 - Buchholz 436.0 § 84 BSHG Nr. 1).
Die Kostenbeitragspflichtigen werden nur dann in angemessenem Umfang im
Sinne von § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aus ihrem Einkommen herangezogen,
wenn ihnen zumindest der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt belassen wird.
Dieser Inhalt des Rechtsbegriffs der Angemessenheit ergibt sich sowohl aus
dem vom Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien mit diesem Merk-
mal verfolgten Zweck (1.1) als auch aus dem systematischen Zusammenhang
der Vorschrift (1.2). Von dieser anhand der anerkannten Auslegungsgrundsätze
ermittelten Deutung des Norminhalts ist im Ansatz auch der Verordnungsgeber
(unter Einschluss des der Kostenbeitragsverordnung zustimmenden Bundes-
rats) ausgegangen (1.3). Ob dieses Auslegungsergebnis darüber hinaus auch
verfassungsrechtlich geboten ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung
(1.4).
1.1 Die Beteiligung an den Kosten von Jugendhilfemaßnahmen durch die Er-
hebung von Kostenbeiträgen ist auf eine angemessene Heranziehung der Kos-
tenbeitragspflichtigen begrenzt. Die Bemessung und Erhebung nach jugendhil-
ferechtlichen und damit öffentlich-rechtlichen Regelungen bezweckt hinsichtlich
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des Umfangs der Heranziehung keine Ablösung von der unterhaltsrechtlichen
Leistungsfähigkeit als Grund und Grenze der Heranziehung.
Mit der Novellierung der §§ 91 ff. SGB VIII im Gesetz zur Weiterentwicklung der
Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz
- KICK -) vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729), welches mit Wirkung zum 1.
Oktober 2005 die Kostenbeteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe neu geregelt
hat, strebte der Gesetzgeber eine Verwaltungsvereinfachung und die Senkung
des Vollzugsaufwands an (vgl. die Begründung zum Gesetzesentwurf der
Bundesregierung in BTDrucks 15/3676 S. 1 ff., 28). Deshalb wurde neben der
Leistungsgewährung nun auch die Heranziehung zu den Kosten der gewährten
Leistungen öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Nach der alten Gesetzesfassung
(bis 2005) war unter bestimmten Voraussetzungen noch ein (gesetzlicher)
Übergang des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs des Kindes/Jugendlichen
gegen die Eltern auf den Träger der Jugendhilfe vorgesehen (vgl. § 94 Abs. 3
SGB VIII a.F.), der dazu führte, dass die Jugendhilfeträger in diesen Fällen die
übergegangenen Ansprüche gegebenenfalls vor den Zivilgerichten geltend zu
machen hatten. Dieses System der Heranziehung wollte der Gesetzgeber mit
der Neuregelung durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz
ändern. Er verfolgte insoweit zwar das Ziel der „Entflechtung des bislang
überaus komplizierten Zusammenspiels unterhaltsrechtlicher und sozialrechtli-
cher Bestimmungen in diesem Bereich“. Der Gesetzgeber wollte aber zugleich,
dass diese Entflechtung nicht „zu materiellen Wertungswidersprüchen mit dem
Unterhaltsrecht führt“ (BTDrucks 15/3676 S. 28).
Wegen der Umstellung auf eine öffentlich-rechtlich ausgestaltete Heranziehung
zu Kostenbeiträgen, deren Festsetzung sich nach einkommensabhängig ge-
staffelten Pauschalbeträgen bestimmt (§ 94 Abs. 5 SGB VIII), besteht nach
Maßgabe des Gestaltungsspielraumes, der hierbei dem Gesetz- und Verord-
nungsgeber zuzubilligen ist, zwar Raum für Abweichungen von unterhaltsrecht-
lichen Regelungen. Ein vom Gesetzgeber nicht gewollter, gravierender mate-
rieller Wertungswiderspruch zum Unterhaltsrecht besteht aber dann, wenn die
Festsetzung des Kostenbeitrages im Ergebnis Grundprinzipien des Unterhalts-
rechts nicht beachtet. Hierin findet auch die nach § 94 Abs. 5 SGB VIII einge-
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räumte Ausgestaltungs- und Pauschalierungsbefugnis des Verordnungsgebers
ihre Grenze. Zu diesen elementaren Grundprinzipien des Unterhaltsrechts ge-
hört, dass dem Unterhaltspflichtigen der sog. Eigenbedarf bzw. Selbstbehalt zu
belassen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs findet jede
Unterhaltspflicht dort ihre Grenze, wo dem Betroffenen nicht die Mittel für den
eigenen notwendigen Lebensbedarf verbleiben (BGH, Urteile vom 28. März
1984 - IVb ZR 53/82 - NJW 1984, 1614 f. und vom 2. Mai 1990 - XII ZR 72/89 -
NJW 1991, 356 f.). Diese unterhaltsrechtliche „Opfergrenze“, die auch im Rah-
men der gesteigerten Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren minderjähri-
gen Kindern zu beachten ist (vgl. zu § 1603 Abs. 2 BGB: BGH, Urteil vom
2. November 1988 - IVb ZR 7/88 - NJW 1989, 524 <525>), wird in der unter-
haltsrechtlichen Rechtspraxis durch den notwendigen oder kleinen Selbstbehalt
(auch notwendiger Eigenbedarf genannt) konkretisiert (BGH, Urteil vom 2. No-
vember 1988 a.a.O.). Selbstbehalt in diesem Sinne ist der Betrag, der dem Un-
terhaltspflichtigen von seinem Einkommen mindestens für den eigenen Unter-
halt erhalten bleiben muss. Diese Opfergrenze wird allgemein etwas über dem
Sozialhilfebedarf des in Anspruch Genommenen angesetzt (BGH, Urteile vom
28. März 1984 a.a.O., vom 2. November 1988 a.a.O. und vom 2. Mai 1990
a.a.O.). Zu ihrer Bestimmung haben die Oberlandesgerichte in ihren unterhalts-
rechtlichen Leitlinien (u.a. in der sog. Düsseldorfer Tabelle) Selbstbehaltsätze
aufgestellt, von deren pauschalierten Werten im Regelfall ausgegangen werden
darf (vgl. etwa BGH, Urteil vom 28. März 1984 a.a.O.).
Es fehlt jeder Anhalt, dass der Gesetzgeber, der sowohl Wertungswidersprüche
zum Unterhaltsrecht vermeiden als auch die Zumutbarkeit der Heranziehung für
den Beitragspflichtigen gewährleisten wollte (vgl. BTDrucks 15/3676 S. 42), die
Heranziehung zu einem Kostenbeitrag ermöglichen wollte, der den Pflichtigen
im Hinblick auf diesen elementaren Selbstbehalt schlechter stellt als im Unter-
haltsrecht und dem (erwerbstätigen) Beitragsschuldner nicht ebenso viel an
Mitteln für den eigenen Lebensbedarf belässt wie dem (erwerbstätigen) Unter-
haltspflichtigen. Dass der unterhaltsrechtliche Eigenbedarf die Beitragserhe-
bung begrenzt, hat außerdem nicht nur in der Begrenzung auf den „angemes-
senen Umfang“ des Kostenbeitrages im Wortlaut des § 94 Abs. 1 Satz 1
SGB VIII seinen Niederschlag gefunden, sondern entspricht darüber hinaus
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auch der Zwecksetzung der jugendhilferechtlichen Kostenbeteiligung. Die Er-
hebung von Kostenbeiträgen bei teil- und vollstationärer Unterbringung dient
zwar auch der Finanzierung der Jugendhilfeaufwendungen. Die Bestimmung
der zum Kostenbeitrag Heranzuziehenden in § 92 Abs. 1 und 1a SGB VIII zeigt
aber, dass der Sache nach die Kostenbeitragspflicht in den Fällen des § 92
Abs. 4 und 5 SGB VIII an eine Unterhaltspflicht anknüpft und die Unterhalts-
pflichtigen - nicht nur deswegen, weil sie den Unterhalt für den jungen Men-
schen wegen der jugendhilferechtlichen Leistungen „ersparen“ - nicht aus ihrer
materiellen Verantwortung gegenüber dem jungen Menschen entlassen werden
sollen. Weil die teil- bzw. vollstationären Angebote auch die Sicherstellung des
notwendigen Unterhalts des untergebrachten jungen Menschen umfassen und
zum Erlöschen der darauf gerichteten zivilrechtlichen Unterhaltsansprüche füh-
ren (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 2006 -XII ZR 197/04 - NJW-RR 2007,
505; OLG Naumburg, Urteil vom 25. Oktober 2007 - 8 UF 77/07 - juris), tritt in-
soweit der öffentlich-rechtliche Kostenbeitrag an die Stelle von Ansprüchen ge-
gen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen. Einen im Vergleich
zum Unterhalt erhöhten Kostenbeitrag hat der Gesetzgeber dabei nur für die
hohen Einkommen angestrebt (BTDrucks 15/3676 S. 27). Für die unteren und
mittleren Einkommensgruppen fehlt jeder Hinweis, dass aus Finanzierungs-
gründen eine Heranziehung ermöglicht werden sollte, welche die unterhalts-
rechtliche Leistungsfähigkeit übersteigt und den Kostenbeitragspflichtigen da-
durch schlechter stellt als er im Unterhaltsrecht hinsichtlich des notwendigen
Eigenbedarfs stünde.
1.2 Eine systematische Auslegung bestätigt, dass die Heranziehung nur dann
im Sinne des § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in angemessenem Umfang erfolgt,
wenn dem Kostenbeitragspflichtigen der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt be-
lassen wird.
Das Kostenbeitragsrecht koppelt den Umfang der Heranziehung zum Teil aus-
drücklich an bestehende Unterhaltspflichten. So schreibt § 94 Abs. 2 SGB VIII
vor, dass weitere Unterhaltspflichten der kostenbeitragspflichtigen Person an-
gemessen zu berücksichtigen sind. Eine Wechselwirkung zwischen Kosten-
erstattungs- und Unterhaltsrecht setzt auch § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII voraus,
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nach dem bei der Berechnung des Unterhalts zu berücksichtigen ist, wenn die
Zahlung eines Kostenbeitrages die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen
mindert. Dass ein Kostenbeitrag an die Stelle von Unterhaltsleistungen tritt, er-
gibt sich weiterhin aus § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der - um zu verhindern,
dass ein Unterhaltspflichtiger seiner Barunterhaltspflicht in unveränderter Höhe
nachkommt, aber für den gleichen Zeitraum mit einem Kostenbeitrag belastet
wird - den Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, den Unterhalts- und
Kostenbeitragspflichtigen über die Gewährung der Leistung zu unterrichten und
über die Folgen für die Unterhaltspflicht aufzuklären (BTDrucks 15/3676 S. 41).
Systematisch ergibt sich die Notwendigkeit, einen Abgleich mit dem Unterhalts-
recht vorzunehmen, vor allem aus § 92 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, nach dem ein
Kostenbeitrag nur erhoben werden kann, soweit Unterhaltsansprüche vorrangig
oder gleichrangig Berechtigter nicht geschmälert werden. Mit dieser Bezug-
nahme auf den Gleich- bzw. Vorrang wird die Rangfolge und Wertung des zivil-
rechtlichen Unterhaltsrechts (§ 1609 BGB) übernommen. Wenn die unterhalts-
pflichtige Person nach zivilrechtlichen Berechnungen ihre Unterhaltspflichten
nicht in vollem Umfang erfüllen kann, ist der Kostenbeitrag des Jugendhilfeträ-
gers entsprechend zu reduzieren (vgl. etwa Schindler, in: Münder/Meysen/Tren-
cek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 92 Rn. 26, 28). Bei Vor-
liegen gleich- oder vorrangiger Unterhaltsansprüche ist also - worauf auch das
Oberverwaltungsgericht (UA S. 11), wenn auch in anderem Zusammenhang,
hinweist - eine unterhaltsrechtliche Vergleichsberechnung vorzunehmen. § 92
Abs. 4 Satz 1 SGB VIII schützt zwar seinem Wortlaut nach nur die Unterhalts-
ansprüche vorrangig oder gleichrangig Berechtigter. Die hiernach vorzuneh-
mende Vergleichsberechnung nach unterhaltsrechtlichen Grundsätzen setzt
aber voraus, dass dem Kostenbeitragspflichtigen in den Fällen des § 92 Abs. 4
Satz 1 SGB VIII der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt verbleibt. Es spricht nichts
dafür, dass der Gesetzgeber diesen Selbstbehalt in den übrigen Kosten-
beitragsfällen hat verkürzen wollen. Die gesetzessystematisch enge Verknüp-
fung mit dem Unterhaltsrecht weist vielmehr darauf hin, dass der Gesetzgeber
keinen Bedarf zur ausdrücklichen Klarstellung gesehen hat, dass der unter-
haltsrechtliche Selbstbehalt auch gegenüber dem Kostenbeitragspflichtigen
durchgehend zu gewährleisten ist.
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1.3 Bei Erlass der Kostenbeitragsverordnung hat auch der Verordnungsgeber
im rechtlichen Ansatz § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dahin verstanden, dass die
Kostenbeitragspflichtigen im Hinblick auf den ihnen verbleibenden Mindest-
bzw. notwendigen Eigenbedarf nicht schlechter zu stellen sind als im Unter-
haltsrecht. So heißt es bereits im Vorwort des von der Bundesregierung am
23. August 2005 an den Bundesrat übermittelten (vom Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellten) Entwurfs der Kostenbeitrags-
verordnung, dass die Bemessung der Pauschalbeträge „in enger Abstimmung
mit unterhaltsrechtlichen Wertungen“ erfolgt sei und damit „Wertungsunter-
schiede“ vermieden werden sollen (BRDrucks 648/05 [neu] S. 1). Auch in den
Empfehlungen der beteiligten Ausschüsse (BRDrucks 648/1/05 S. 3 ff.), deren
Änderungsvorschläge im Zustimmungsbeschluss des Bundesrates durchweg
übernommen worden sind (vgl. BRDrucks 648/05 [Beschluss] S. 1 ff.), wurde
nochmals als Ziel der konkreten Beitragsbemessung hervorgehoben, „für Eltern
in den unteren Einkommensgruppen eine Kostenbeitragspflicht festzulegen,
deren Höhe den Kostenbeiträgen nach der geltenden Kostenheranziehung ver-
gleichbar ist und die in etwa der gesetzlichen Unterhaltspflicht der Eltern für ihre
Kinder entspricht“ (BRDrucks 648/1/05 S. 3). Weiter heißt es dort in einer
Anmerkung zu einer im Rahmen der Überprüfung eines Beitragssatzes ange-
stellten unterhaltsrechtlichen Vergleichsberechnung: „Die Höhe des tatsächlich
zu zahlenden Unterhalts folgt aus der Berücksichtigung des dem Unterhalts-
pflichtigen zu belassenden Selbstbehalts, der ab dem 1. Juli 2005 bei erwerbs-
tätigen Unterhaltspflichtigen gegenüber minderjährigen unverheirateten Kindern
bei 890 Euro monatlich liegt“ (BRDrucks 648/1/05 S. 6).
1.4 Darüber hinaus spricht vieles dafür, dass die vorstehende Auslegung des
§ 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, nach der dem Kostenbeitragspflichtigen jedenfalls
der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt zu belassen ist, auch von Verfassungs
wegen geboten ist. Es liegt nahe - ohne dass dies hier abschließend entschie-
den werden müsste -, die in der Rechtsprechung zum notwendigen Selbstbe-
halt im Unterhaltsrecht entwickelten Grundsätze auf das jugendhilferechtliche
Kostenbeitragsrecht zu übertragen.
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Die mit der Auferlegung von Unterhaltsleistungen verbundene Einschränkung
des Art. 2 Abs. 1 GG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts als unverhältnismäßig anzusehen, wenn die Beschränkung der Dispositi-
onsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhalts-
ansprüche die Grenze des Zumutbaren überschreitet. Die finanzielle Leistungs-
fähigkeit endet jedenfalls dort, wo der Unterhaltspflichtige nicht mehr in der La-
ge ist, seine eigene Existenz zu sichern (BVerfG, Beschlüsse vom 20. August
2001 - 1 BvR 1509/97 - NJW-RR 2002, 73 f. = FamRZ 2001, 1685 f. und vom
25. Juni 2002 - 1 BvR 2144/01 - NJW 2002, 2701 f. jeweils m.w.N.; vgl. ferner
[zum existenznotwendigen Bedarf als Untergrenze für den steuerlichen Zugriff]
Beschlüsse vom 25. September 1992 - 2 BvL 5/91 u.a. - BVerfGE 87, 153 und
vom 13. Februar 2008 - 2 BvL 1/06 - BVerfGE 120, 125). Danach wäre es ver-
fassungswidrig, wenn dem Unterhaltspflichtigen nicht einmal mehr der Sozialhil-
febedarf verbliebe und er infolge der Unterhaltszahlungen selbst sozialhilfebe-
dürftig würde (BSG, Urteil vom 20. Juni 1984 - 7 RAr 18/83 - BSGE 57, 59 <63>
und - diesem folgend - BGH, Urteil vom 2. Mai 1990 a.a.O. Rn. 10 im Hinblick
auf die Unvereinbarkeit mit der Menschenwürdegarantie [Art. 1 Abs. 1 GG] und
dem Sozialstaatsprinzip [Art. 20 Abs. 1 GG]). Unter welchen Voraussetzungen
der Gesetzgeber sozialrechtliche Einstandspflichten losgelöst vom Unterhalts-
recht und strenger als dieses bestimmen kann (z.B. im Rahmen der Bedarfs-
und Einsatzgemeinschaft nach § 7 Abs. 2, 3, § 9 Abs. 2 SGB II oder in Fällen,
in denen nach §§ 19, 20 SGB XII eine Einsatzgemeinschaft besteht), bedarf
zumindest für den jugendhilferechtlichen Kostenbeitrag bei Gewährung teil- und
vollstationärer Leistungen keiner abschließenden Beurteilung. Überdies hat der
Gesetzgeber durch die Beschränkung des Kostenbeitrages auf den
„angemessenen Umfang“ selbst zu erkennen gegeben, dass er einen etwa wei-
tergehenden verfassungsrechtlichen Rahmen für die Heranziehung nicht hat
ausschöpfen wollen.
§ 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichti-
gung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung sei-
nes angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren, stellt eine Ausprä-
gung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht dar (vgl. et-
wa zuletzt BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 2010 - 1 BvR 2236/09 - FamRZ
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2010, 626 f.). Dieser Grundsatz prägt seinerseits jedenfalls solche öffentlich-
rechtlichen Einstandspflichten, die sich - wie der Kostenbeitrag nach §§ 91 ff.
SGB VIII - ungeachtet der eigenständigen öffentlich-rechtlichen Ausformung
nach Grund und Bemessung an das Unterhaltsrecht anlehnen. Für die Konkre-
tisierung der Zumutbarkeitsgrenze auch der kostenbeitragsrechtlichen Leis-
tungsfähigkeit ist es jedenfalls verfassungsrechtlich statthaft - sofern nicht Be-
sonderheiten des Einzelfalles eine Abweichung bedingen -, auf die in den un-
terhaltsrechtlichen Leitlinien festgelegten (an der sog. Düsseldorfer Tabelle ori-
entierten) und grundsätzlich (etwas) über dem Sozialhilfebedarf liegenden
Selbstbehaltsätze abzustellen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20. August 2001
a.a.O. und vom 25. Juni 2002 a.a.O.; BSG, Urteil vom 20. Juni 1984 a.a.O.
Rn. 32 ff.; BGH, Urteile vom 28. März 1984 a.a.O. und vom 2. Mai 1990 a.a.O.).
Auch sonst ist diese Anknüpfung im Sozialrecht anerkannt (zu § 48 Abs. 1 Satz
1 SGB I s. etwa BSG, Urteil vom 20. Juni 1984 a.a.O.; zu § 94 Abs. 2 SGB VIII
a.F. s.a. BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1998 - BVerwG 5 C 25.97 - BVerw-
GE 108, 222).
2. Der von der Beklagten erhobene Kostenbeitrag belässt dem Kläger nicht den
unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt.
2.1 Nach Ziffer 21.2 der hier - nach den Feststellungen des Berufungsgerichts -
heranzuziehenden unterhaltsrechtlichen Leitlinien des Schleswig-Holsteinischen
Oberlandesgerichts (Stand: 1. Juli 2005) betrug der notwendige (sog. kleine)
Selbstbehalt eines Erwerbstätigen gegenüber seinen minderjährigen Kindern im
streitbefangenen Zeitraum des Jahres 2006 monatlich 890 €. Auch wenn
unterhaltsrechtlich keine strenge Bindung an die Tabellenwerte der Leitlinien
besteht, dürfen die Tatgerichte sich an diesen Erfahrungs- und Richtwerten
orientieren, sofern nicht im Einzelfall besondere Umstände eine Abweichung
bedingen (BGH, Urteil vom 28. März 1984 a.a.O., Diederichsen, in: Palandt,
BGB, 69. Aufl. 2010, § 1603 Rn. 32 m.w.N.). Solche besonderen Umstände
sind hier von den Vorinstanzen jedoch weder festgestellt noch sonst von den
Beteiligten dargetan worden.
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2.2 Die Heranziehung zu einem Kostenbeitrag in der vollen von der Beklagten
geforderten Höhe belässt dem Kläger bei der gebotenen unterhaltsrechtlichen
(Vergleichs-)Berechnung weniger als diesen notwendigen Selbstbehalt.
Nach den für das Revisionsgericht gem. § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Fest-
stellungen des Oberverwaltungsgerichts belief sich das monatliche Nettoein-
kommen des Klägers (nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträ-
gen) in dem streitbefangenen Zeitraum auf 1 790,35 €. Das Oberverwaltungs-
gericht hat weiterhin bindend festgestellt, dass die vom Kläger geltend gemach-
ten monatlichen Fahrten zur Erzielung des Einkommens notwendig waren und
der Kläger insbesondere nicht auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen konn-
te. Die Bemessung (in Orientierung an Ziffer 10.2.2 Satz 1 der Leitlinien des
Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts) der hiernach abzugsfähigen
Fahrtkosten in Höhe von monatlich 597,60 € entspricht den unterhaltsrechtli-
chen Maßstäben, auf die jedenfalls für die unterhaltsrechtliche Vergleichsbe-
rechnung zur Prüfung, ob der Selbstbehalt gewährleistet ist, abzustellen ist. Sie
steht rechnerisch zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Ob von dem hiernach
unterhaltsrechtlich relevanten (bereinigten) Nettoeinkommen von nicht mehr als
1 192,75 € monatlich weitere Beträge unterhaltsrechtlich abzugsfähig waren, ist
nicht festgestellt und bedarf mangels Entscheidungserheblichkeit keiner
Klärung. Nach Abzug des Selbstbehalts - von hier 890 € - bleibt ein Betrag von
monatlich 302,75 €, der unterhaltsrechtlich für Unterhaltszahlungen zur
Verfügung steht. Der von der Beklagten in den streitbefangenen Bescheiden
festgesetzte Kostenbeitrag von insgesamt 440 € belässt dem Kläger damit nicht
den ihm als Erwerbstätigem zustehenden unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt
- hier von 890 € - und führt demnach dazu, dass dem Kläger weniger an Ein-
kommen verbliebe, als ihm wegen des notwendigen Selbstbehalts nach Unter-
haltsrecht verblieben wäre. Der festgesetzte Kostenbeitrag ist insoweit, als er
den unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt nicht (vollständig) wahrt, nicht angemes-
sen im Sinne von § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.
2.3 Diese Nichtbeachtung der durch den unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt ge-
zogenen Grenze ergibt sich unabhängig davon, ob im Übrigen der öffentlich-
rechtliche Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII in der von der Beklagten oder
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in der vom Berufungsgericht für zutreffend erachteten Weise zu berechnen ist;
denn in jedem Falle ist der Kostenbeitrag, der sich hiernach errechnete, so
hoch, dass er in den unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt eingriffe. Die zwischen
den Beteiligten streitige Frage, ob für die Ermittlung des Einkommens, das bei
der Anwendung der Kostenbeitragsverordnung zu berücksichtigen ist, die be-
rufsbedingten Fahrtkosten nach § 93 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII nach der Pauscha-
lierung der Unterhaltsrichtlinien des Oberlandesgerichts zu berechnen sind,
kann deshalb ebenso offen bleiben, wie die Frage, ob - woran der Senat, wie in
der mündlichen Verhandlung erörtert, erhebliche Zweifel hat - die Regelung des
§ 4 Abs. 1 Nr. 1 KostenbeitragsV (hier anwendbar in der Fassung vom 1. Okto-
ber 2005, BGBl I S. 2907) auch auf die vollstationär untergebrachten Kinder des
Klägers (unmittelbar) angewandt werden kann.
3. Wegen des Verstoßes der Beklagten gegen das Gebot der angemessenen
Heranziehung (§ 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) haben die Vorinstanzen im Ergeb-
nis zu Recht entschieden, das der geforderte Kostenbeitrag in der vom Kläger
angegriffenen, den Betrag von 350 € übersteigenden Höhe nicht rechtmäßig ist
und die streitbefangenen Bescheide hinsichtlich des übersteigenden Betrages
aufzuheben waren. Ob dieser Verstoß auch eine weitergehende Aufhebung
rechtfertigen würde und wie die damit zusammenhängende Frage zu beantwor-
ten ist, ob und gegebenenfalls welche weitergehenden Rechtsfolgen aus einem
durch die Unterschreitung des unterhaltsrechtlichen Selbstbehalts bedingten
Verstoß gegen § 84 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (im Allgemeinen) zu ziehen sind,
hat der Senat wegen der hier vorliegenden Begrenzung des Streitgegenstandes
im Revisionsverfahren nicht zu entscheiden. Denn der Kläger hat vor dem Ver-
waltungsgericht die Aufhebung der Bescheide zuletzt allein in der den Betrag
von 350 € übersteigenden Höhe begehrt, so dass die Bescheide bis zur Höhe
dieses Betrages in Bestandskraft erwachsen und nicht mehr Gegenstand des
Berufungs- und Revisionsverfahrens geworden sind. Der Senat lässt daher of-
fen, ob etwa - im Fall der (systematischen) Verfehlung der Selbstbehaltsgrenze
bei den unteren Einkommensgruppen trotz Berücksichtigung der Pauschale
nach § 93 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII - eine (teilweise) Nichtigkeit der Beitragssät-
ze der Kostenbeitragsverordnung anzunehmen ist. Ebenso bedarf es keiner
Entscheidung darüber, ob dem durch eine Unterschreitung der Selbstbe-
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haltsgrenze beeinträchtigten Angemessenheitsgebot durch eine gesetzeskon-
forme Auslegung der Kostenbeitragsverordnung, durch eine entsprechende
Anwendung des § 4 KostenbeitragsV (etwa im Falle der Kostenbeitragspflicht
für mehrere untergebrachte junge Menschen) oder im jeweiligen Einzelfall da-
durch Rechnung getragen werden kann, dass - im Umfang der Unterschreitung
des notwendigen Selbstbehalts - eine zur Beitragsreduzierung führende beson-
dere Härte im Sinne von § 92 Abs. 5 SGB VIII anzunehmen ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Hund Prof. Dr. Berlit Stengelhofen
Dr. Störmer Dr. Häußler
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Jugendhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
SGB VIII
§ 92 Abs. 4, § 92 Abs. 5, § 93 Abs. 3 Satz 3, § 94 Abs. 1 Satz 1,
§ 94 Abs. 2
BGB
§§ 1603, 1609
Stichworte:
Angemessenheit; Düsseldorfer Tabelle; Eigenbedarf; notwendiger ~; Einkom-
men; Einkommensberechnung; Fahrtkosten; Heranziehung; Jugendhilfe; Kos-
tenbeitrag; Kostenbeitragspflicht; Kostenbeitragsverordnung; Opfergrenze;
Selbstbehalt; unterhaltsrechtlicher ~; unbestimmter Rechtsbegriff; Unterhalt;
notwendiger ~; Unterhaltspflicht; Unterhaltsrichtlinien; vollstationäre Leistung.
Leitsatz:
Die Heranziehung zu einem jugendhilferechtlichen Kostenbeitrag ist nur dann
im Sinne von § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII angemessen, wenn dem (erwerbstä-
tigen) Beitragspflichtigen zumindest der sog. unterhaltsrechtliche Selbstbehalt
belassen wird.
Urteil des 5. Senats vom 19. August 2010 - BVerwG 5 C 10.09
I.
VG Schleswig vom 22.09.2008 - Az.: VG 15 A 70/08 -
II.
OVG Schleswig vom 27.04.2009 - Az.: OVG 2 LB 7/09 -