Urteil des BVerwG vom 27.02.2014

Entschädigung, Rechtliches Gehör, Schwierigkeit des Verfahrens, Aufschiebende Wirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 1.13 D
OVG 3 A 2.12
Verkündet
am 27. Februar 2014
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler und
Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Oberverwal-
tungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. September 2012
geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Kläger jeweils 2 400 €
nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Ba-
siszinssatz ab Rechtshängigkeit und an die Kläger als Ge-
samtgläubiger weitere 330,34 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten um eine Entschädigung wegen überlanger Dauer eines
Gerichtsverfahrens.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens, dessen Überlänge die Kläger rügen, war
die Kürzung einer Wohnungsbauförderung. Den Klägern waren Fördermittel in
Form eines zinsverbilligten Darlehens für den Erwerb von Wohneigentum zur
Selbstnutzung bzw. Überlassung an Familienangehörige bewilligt worden. Die
beklagte Bank widerrief später zum Teil die gegenüber den Klägern erlassenen
Bewilligungsbescheide wegen Verstoßes gegen die Zweckbestimmung, nach-
dem sie erfahren hatte, dass die Kläger - nach ihren Angaben wegen nicht
mehr hinnehmbaren Nachbarschaftsstreitigkeiten - ein Hausgrundstück erwor-
ben und die zuvor selbst genutzte Eigentumswohnung an eine Mieterin ohne
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Berechtigungsbescheinigung des Wohnungsamtes vermietet hatten. Hierdurch
entstanden den Klägern Mehrkosten für höhere Zinsen in Höhe von 6 800 €.
Die Kläger erhoben gegen die Aufhebung der beiden Teilwiderrufsbescheide
am 28. November 2007 Klage. Diese wies das Verwaltungsgericht mit Urteil
vom 5. September 2008 zurück.
Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 19. September 2008 zugestellte
Urteil beantragten die Kläger mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2008 die Zulas-
sung der Berufung. Die Antragsbegründung wurde am 17. November 2008
beim Oberverwaltungsgericht eingereicht. Die Kläger rügten die Übertragung
auf den Einzelrichter als verfahrensfehlerhaft und machten ernstliche Zweifel an
der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung geltend. Mit gerichtlicher Verfü-
gung vom selben Tag wurde die beklagte Bank zur Stellungnahme binnen einer
Frist von sechs Wochen aufgefordert. Die Stellungnahme ging beim Oberver-
waltungsgericht am 3. Dezember 2008 ein. Mit Schriftsatz vom 30. Dezember
2009 teilten die Prozessbevollmächtigten der Kläger ihre neue Anschrift mit.
Eine Abschrift dieses Schriftsatzes wurde der Gegenseite aufgrund gerichtlicher
Verfügung vom 5. Januar 2010 übersandt. Mit Beschluss vom 29. August 2011
lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung ab.
Am 24. Januar 2012 forderten die Kläger die Senatsverwaltung für Finanzen
auf, ihnen wegen der unangemessenen Dauer des Berufungszulassungsverfah-
rens bis zum 14. Februar 2012 jeweils einen Betrag von 1 200 € zu zahlen. Für
die außergerichtliche Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs wurde
ihnen ein Betrag von 330,34 € in Rechnung gestellt.
Am 28. Februar 2012 haben die Kläger beim Oberverwaltungsgericht Klage
erhoben und jeweils die Gewährung einer angemessenen Entschädigung für
den durch die überlange Verfahrensdauer des Rechtsstreits bei dem Oberver-
waltungsgericht erlittenen immateriellen Nachteil, hilfsweise für den durch die
überlange Verfahrensdauer des Rechtsstreits bei dem Verwaltungsgericht und
dem Oberverwaltungsgericht erlittenen immateriellen Nachteil, jeweils nebst
Zinsen in Höhe von 5 v.H. seit dem 15. Februar 2012 sowie die Erstattung der
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vorprozessualen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 330,34 € begehrt. Zur
Begründung haben sie im Wesentlichen ausgeführt, das Berufungszulassungs-
verfahren habe mit etwa drei Jahren unangemessen lang gedauert. Es habe
sich um einen einfach gelagerten Sachverhalt ohne schwerwiegende rechtliche
Probleme gehandelt. Das Oberverwaltungsgericht habe das Verfahren seit der
Begründung des Zulassungsantrags nicht gefördert. Die andauernde Überlas-
tung des zuständigen Senats des Oberverwaltungsgerichts, die dort vorhande-
nen Rückstände und die allgemein angespannte Personalsituation könnten die
Verfahrensdauer nicht rechtfertigen. Die Beteiligten hätten das Berufungszulas-
sungsverfahren in keiner Weise verzögert. Für sie, die Kläger, sei es von be-
sonderer wirtschaftlicher Bedeutung gewesen, ob ihnen der im Berufungszulas-
sungsverfahren streitige Betrag von 6 800 € zur Verfügung stehe oder nicht. Sie
lebten in angespannten finanziellen Verhältnissen. Der besagte Betrag stelle für
sie eine erhebliche finanzielle Ent- bzw. Belastung dar. Aufgrund der über den
Verfahrensausgang herrschenden Unsicherheit seien sie in ihrer finanziellen
Planung stark eingeschränkt gewesen. Eine geordnete Lebensplanung sei ih-
nen erschwert worden. Die Belastungen hätten sich insbesondere für die Kläge-
rin zu 1 auch psychisch ausgewirkt. Die Feststellung, dass das Berufungsver-
fahren unangemessen lang gedauert habe, sei nicht ausreichend. Die Entschä-
digungshöhe werde in das Ermessen des Gerichts gestellt, wobei ein Betrag
von 1 200 € je Kläger als angemessen erachtet werde. Da sich der Beklagte
seit dem 15. Februar 2012 in Verzug befinde, sei der Entschädigungsbetrag ab
diesem Zeitpunkt zu verzinsen. Mit Rücksicht darauf, dass es sich bei dem Ent-
schädigungsanspruch der Sache nach um einen Schadensersatzanspruch
handele, stehe ihnen auch ein Anspruch auf Erstattung der vorprozessualen
Rechtsverfolgungskosten zu.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Entschädigungsklage abgewiesen. Soweit
mit ihr eine angemessene Entschädigung für die überlange Dauer des Beru-
fungszulassungsverfahrens geltend gemacht werde, habe sie schon deshalb
keinen Erfolg, weil die Kläger ihr Entschädigungsbegehren nicht auf einen Ver-
fahrenszug beschränken könnten, wenn das Gerichtsverfahren - wie hier - über
zwei Instanzen geführt worden sei. Der Entschädigungsanspruch sei vielmehr
von der Angemessenheit der Gesamtverfahrensdauer abhängig zu machen.
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Soweit sich das Entschädigungsbegehren auf beide Verfahrenszüge beziehe,
sei die Gesamtdauer des Verfahrens im Sinne des § 198 Abs. 1 des Gerichts-
verfassungsgesetzes - GVG - noch nicht unangemessen gewesen. Die Ange-
messenheit der Verfahrensdauer richte sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach den dort genannten
Kriterien. Angesichts dessen sei es nicht möglich, abstrakte Angaben zu einer
„Höchstdauer“ als Grenze der Angemessenheit zu machen. Bei Anwendung
des Maßstabes des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG sei zu berücksichtigen, dass das
Ausgangsverfahren vor dem Verwaltungsgericht weder in rechtlicher noch in
tatsächlicher Hinsicht besonders schwierig gewesen sei. Auch im Berufungszu-
lassungsverfahren seien keine überdurchschnittlich schwierigen Sach- und
Rechtsfragen aufgeworfen worden. Der Zulassungsantrag sei zwar ausführlich
begründet worden. Er habe aber in zulassungs- bzw. materiellrechtlicher Hin-
sicht keine erhöhten Anforderungen gestellt, wie die Rüge der fehlenden Anhö-
rung vor der Übertragung auf den Einzelrichter beispielhaft belege. Das Verfah-
ren habe aus den im Einzelnen dargelegten Gründen für die Kläger auch keine
besondere Bedeutung aufgewiesen. Ebenso seien von der Gesamtdauer keine
Zeiten im Hinblick auf das Verhalten der Kläger abzuziehen. Unter Berücksich-
tigung aller angeführten Umstände, vor allem im Hinblick auf die geringe Be-
deutung der Sache und die zügige erstinstanzliche Entscheidung, sei die Ge-
samtverfahrensdauer von drei Jahren und rund neun Monaten für zwei Instan-
zen noch nicht unangemessen. Da kein Anspruch auf Entschädigung bestehe,
könnten die Kläger auch keine Zinsen verlangen, die ohnehin erst ab Rechts-
hängigkeit beansprucht werden könnten. Aus demselben Grund könnten auch
keine vorprozessualen Rechtsverfolgungskosten beansprucht werden. Abgese-
hen davon stellten diese auch keinen materiellen Schaden im Sinne des § 198
Abs. 1 GVG dar, weil die vorprozessuale Geltendmachung allein auf dem Ent-
schluss der Kläger beruhe und gesetzlich nicht vorgeschrieben sei.
Mit ihrer Revision verfolgen die Kläger ihr Entschädigungsbegehren weiter. Sie
rügen eine Verletzung des § 198 Abs. 1 GVG.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
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II
Die Revision der Kläger hat Erfolg. Das angefochtene Urteil verletzt Bundes-
recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Kläger sind entgegen der Rechtsansicht
des Oberverwaltungsgerichts prozessrechtlich nicht gehindert, die Klage auf
Entschädigung wegen unangemessener Dauer des Gerichtsverfahrens auf das
Berufungszulassungsverfahren zu beschränken (1.). Das angefochtene Urteil
beruht aber auf einer fehlerhaften Anwendung des § 198 Abs. 1 Gerichtsverfas-
sungsgesetz - GVG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975
(BGBl I S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. Juli 2013 (BGBl I
S. 1938). Auf der Grundlage der vom Oberverwaltungsgericht festgestellten
Tatsachen ergibt sich mit Blick auf die Gesamtverfahrensdauer eine sachlich
nicht gerechtfertigte Verzögerung des Berufungszulassungsverfahrens von zwei
Jahren (2.). Dem ausschließlich im Zusammenhang mit der Entschädigung des
immateriellen Nachteils geltend gemachten Zinsanspruch ist jeweils ab Eintritt
der Rechtshängigkeit stattzugeben (3.).
1. Die Begrenzung der Entschädigungsklage im Hauptantrag auf den Ausgleich
des den Klägern jeweils infolge der unangemessenen Dauer des Berufungszu-
lassungsverfahrens entstandenen Nachteils ist prozessrechtlich zulässig. Sie
entspricht der Dispositionsbefugnis der Kläger als Rechtsmittelführer (vgl. § 88
VwGO) und trägt dem Umstand Rechnung, dass sie sich insoweit allein durch
die Dauer des Berufungszulassungsverfahrens beschwert sehen. Allgemein
kann ein Rechtsmittel auf einen von mehreren selbständigen Streitgegenstän-
den einer Klage oder auf einen Teil des Streitgegenstandes beschränkt werden,
wenn dieser Teil vom Gesamtstreitstoff abteilbar ist und materiellrechtliche
Gründe einer gesonderten Entscheidung darüber nicht entgegenstehen (vgl.
Urteil vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C 23.12 D - zur Veröffentlichung in den
Entscheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen = NJW 2014,
96 Rn. 60 m.w.N.). Das ist hier der Fall.
Die Beschränkung des Anspruchs auf Ausgleich des Nachteils auf einen Ver-
fahrenszug - hier das Berufungszulassungsverfahren - stellt einen abtrennbaren
Teil des Entschädigungsanspruchs wegen unangemessener Dauer eines über
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mehrere Instanzen geführten Gerichtsverfahrens dar. Die Frage nach der pro-
zessrechtlichen Zulässigkeit eines derart begrenzten Klageantrags ist zu tren-
nen von der Frage nach seinem materiellrechtlichen Bezugsrahmen. Bezugs-
rahmen eines Entschädigungsanspruchs, der allein bezüglich der Dauer des
Verfahrens in einer von mehreren Instanzen geltend gemacht wird, ist das ge-
samte verwaltungsgerichtliche Verfahren im Ausgangsrechtsstreit. Ob sich die
Verfahrensdauer in einer von mehreren Instanzen als angemessen im Sinne
von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG darstellt, ist materiellrechtlich unter Berücksichti-
gung der Gesamtdauer des gerichtlichen Verfahrens von dessen Einleitung in
der ersten Instanz bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss in der letzten In-
stanz zu ermitteln (vgl. Urteil vom 11. Juli 2013 a.a.O. Rn. 16 f. und 61). Das
materielle Recht steht aber der Zuerkennung einer Entschädigung für den (nur)
durch die unangemessene Dauer des Verfahrens in einer Instanz erlittenen
Nachteil nicht entgegen. Denn auch um dies feststellen zu können, ist grund-
sätzlich die materiellrechtliche Voraussetzung zu prüfen, ob - mit Blick auf die
Gesamtverfahrensdauer - durch die zügige Behandlung der Sache in einer In-
stanz eine etwaige Überlänge in einer anderen (vorangegangenen oder nach-
folgenden) Instanz ganz oder teilweise kompensiert werden kann.
Für die Zulässigkeit, den Entschädigungsantrag auf eine Instanz beschränken
zu können, spricht ferner, dass die Klage auf Entschädigung schon während
des noch laufenden Ausgangsverfahrens erhoben werden kann (vgl. § 198
Abs. 5, § 201 Abs. 3 GVG). Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass auch
Konstellationen denkbar sind, in denen eine unangemessene und irreparable
Verzögerung feststellbar ist und in denen daher über die Kompensation für
schon eingetretene Nachteile entschieden werden kann, obwohl das Aus-
gangsverfahren noch nicht beendet ist. Dass es das Gesetz zulässt, verschie-
dene Verfahrensstufen unterschiedlich in den Blick zu nehmen, zeigt sich auch
daran, dass die Verzögerungsrüge erneut erhoben werden muss, wenn die Sa-
che bei einem anderen Gericht anhängig wird und es dort nochmals zu einer
weiteren unangemessenen Verzögerung kommt (vgl. § 198 Abs. 3 Satz 5 GVG)
sowie daran, dass bei einem bis zum Bundesverwaltungsgericht geführten
Verwaltungsrechtsstreit verschiedene Rechtsträger - nämlich zum einen das
jeweilige Land und zum anderen der Bund (§ 201 Abs. 1 GVG i.V.m. § 173
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Satz 2 VwGO) - für die in ihrem Bereich zu verantwortenden Verfahrensverzö-
gerungen in Anspruch genommen werden können (vgl. so auch für die Begren-
zung des Feststellungsantrags auf die Verfahrensdauer einer Instanz Urteil vom
11. Juli 2013 a.a.O. Rn. 60 f.).
2. Die Kläger haben jeweils einen Anspruch auf Ausgleich ihres immateriellen
Nachteils in Höhe von 2 400 €, weil das Berufungszulassungsverfahren eine
sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung von zwei Jahren aufweist (a). Des
Weiteren können sie - als Gesamtgläubiger - die Entschädigung des ihnen
durch diese Verzögerung entstandenen materiellen Nachteils in Höhe von
330,34 € verlangen (b).
a) Der Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils folgt aus § 198
Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 GVG. Diese Regelungen sind im Verwaltungspro-
zess entsprechend anwendbar (§ 173 Satz 2 VwGO). Nach § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines
Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Der durch
eine unangemessene Verfahrensdauer eingetretene immaterielle Nachteil ist
nach Maßgabe des § 198 Abs. 2 GVG zu entschädigen.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Materiellrechtlicher Bezugsrahmen des
von den Klägern geltend gemachten Entschädigungsanspruchs ist - wie darge-
legt - das gesamte hier abgeschlossene gerichtliche Verfahren im Ausgangs-
rechtsstreit, und zwar von der Klageerhebung beim Verwaltungsgericht am
28. November 2007 bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss durch den die
Zulassung der Berufung ablehnenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
vom 29. August 2011. Die Dauer des Berufungszulassungsverfahrens war auch
mit Blick auf die Gesamtverfahrensdauer unangemessen im Sinne von § 198
Abs. 1 Satz 1 GVG (aa). Hierdurch haben die Kläger jeweils einen nicht auf an-
dere Weise wiedergutzumachenden immateriellen Nachteil erlitten (bb), wofür
ihnen jeweils eine Entschädigung in Höhe von 2 400 € zu zahlen ist (cc).
aa) Die Dauer des Berufungszulassungsverfahrens vor dem Oberverwaltungs-
gericht war bei der gebotenen Gesamtabwägung unter Einbeziehung der Ge-
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samtverfahrensdauer im Umfang von zwei Jahren unangemessen im Sinne von
§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198
Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, ins-
besondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach
dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG).
Die Aufzählung in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ist nicht abschließend. Dement-
sprechend ist die Verfahrensdauer unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1
Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1
Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Um-
stände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrecht-
lichen Normen (Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten - EMRK - in der Fassung vom 22. Oktober 2010
S. 1198>, Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende
Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Ab-
schluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzöge-
rungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Be-
rücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestal-
tungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (vgl. Urteile vom 11. Juli 2013
- BVerwG 5 C 23.12 D - zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen
BVerwGE und Buchholz vorgesehen = NJW 2014, 96 Rn. 26, 37 und 42 und
- BVerwG 5 C 27.12 D - zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen = juris
Rn. 18, 29 und 34; s.a. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August 2013
- 1 BvR 1067/12 - NJW 2013, 3630 <3631 f.>).
Das Oberverwaltungsgericht hat sich in Übereinstimmung mit dem dargelegten
rechtlichen Maßstab bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrens-
dauer zu Recht (vgl. Urteile vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C 23.12 D - a.a.O.
Rn. 28 ff. und - BVerwG 5 C 27.12 D - a.a.O. Rn. 20 ff.; s.a. BVerfG, Kammer-
beschluss vom 22. August 2013 a.a.O. <3631 f.>) nicht von festen Zeitvorgaben
oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltswerten leiten lassen, sondern eine
Einzelfallprüfung vorgenommen. Es hat auch die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
ausdrücklich genannten Kriterien der Einzelfallprüfung richtig erfasst ((1)). Dem
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Oberverwaltungsgericht ist allerdings ein Rechtsanwendungs- bzw. Subsumti-
onsfehler unterlaufen, weil die festgestellten Tatsachen nicht den im Rahmen
der Gesamtabwägung vorgenommenen Schluss tragen (vgl. Urteil vom 5. Juli
1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <205> = Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 174 S. 24), die Gesamtverfahrensdauer von drei Jahren und rund
neun Monaten sei noch nicht unangemessen im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG. Bei rechtlich zutreffender Abwägung ergibt sich vielmehr die Unange-
messenheit der Verfahrensdauer und eine maßgebliche Verzögerung des Beru-
fungszulassungsverfahrens von zwei Jahren ((2)).
(1) Die tatsächliche Würdigung und Rechtsanwendung des Oberverwaltungsge-
richts ist im Hinblick auf die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien der
Schwierigkeit des Verfahrens ((a)), seiner Bedeutung für die Kläger ((b)) und
des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten ((c)) nicht zu beanstanden.
(a) Das Oberverwaltungsgericht hat unter Berücksichtigung seiner insoweit ge-
troffenen Feststellungen rechtsfehlerfrei angenommen, dass das Berufungszu-
lassungsverfahren einen allenfalls durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad auf-
gewiesen hat. Dies wird auch von der Revision nicht angegriffen. Die Entschei-
dung über den geltend gemachten Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an
der Richtigkeit des Urteils (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) war im konkreten Fall
eher einfach gelagert. Welche Anforderungen an diesen Zulassungsgrund zu
stellen sind, hängt im Wesentlichen von der Beschaffenheit der in dem ange-
fochtenen Urteil entschiedenen Fragen ab. Das Oberverwaltungsgericht hat die
sich in Bezug auf den Widerruf der Bewilligungsbescheide in formeller und ma-
terieller Hinsicht stellenden Rechtsfragen zu Recht als Standardprobleme eines
verwaltungsgerichtlichen Verfahrens angesehen. Es hat ferner festgestellt, dass
der Vortrag der Kläger übersichtlich und eine Beweisaufnahme nicht erforder-
lich gewesen ist. Dafür, dass es sich bei dem Ausgangsverfahren vor dem Ver-
waltungsgericht um einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht allenfalls
durchschnittlich schwierigen Fall gehandelt hat, spricht zudem die Übertragung
der Sache vom Verwaltungsgericht auf den Einzelrichter (§ 6 Abs.1 Satz 1 Nr. 1
VwGO). Auch die von den Klägern im Berufungszulassungsverfahren erhobene
Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Zusammenhang
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mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter stellt sich als eine
einfach zu beantwortende verfahrensrechtliche Frage dar.
(b) Des Weiteren ist die Bewertung des Oberverwaltungsgerichts, das Aus-
gangverfahren und damit der Sache nach auch das Berufungszulassungsver-
fahren hätten für die Kläger keine besondere Bedeutung aufgewiesen, revisi-
onsgerichtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist der aufschiebenden Wirkung der
Klage (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) im konkreten Fall nicht die vom Oberverwal-
tungsgericht angenommene relativierende Wirkung für die Bedeutung der Sa-
che beizumessen. Denn die aufschiebende Wirkung endete gemäß § 80b
Abs. 1 Satz 1 VwGO drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungs-
frist für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Allerdings sind dem angefoch-
tenen Urteil keine Anhaltspunkte zu entnehmen, die auf eine erhebliche Bedeu-
tung der Sache für die Kläger schließen lassen. Nach der tatrichterlichen Be-
wertung ihres Vorbringens haben die Kläger nicht dargelegt, dass die (moderat)
erhöhten Zinsen von ihnen nicht hätten gezahlt werden können oder die Miet-
einnahmen der geförderten Wohnung nicht ausgereicht hätten, um die erhöhten
Zinsen zu decken. Ebenso gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Kläger nach
dem Kauf eines Hauses in ihrer wirtschaftlichen Existenz betroffen gewesen
sind oder sonst eine besondere wirtschaftliche Bedeutung für sie vorgelegen
hat.
Die Würdigung des klägerischen Tatsachenvortrags durch das Oberverwal-
tungsgericht ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob sie auf einem
Rechtsirrtum beruht oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungs-
grundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Denkgesetze oder allge-
meine Erfahrungssätze verletzt (vgl. Urteil vom 14. März 2013 - BVerwG 5 C
10.12 - NVwZ-RR 2013, 689 Rn. 14). Dem Revisionsvorbringen ist nicht zu ent-
nehmen, dass dem Oberverwaltungsgericht ein derartiger Fehler unterlaufen
ist. Hierfür ist auch ansonsten kein Anhaltspunkt ersichtlich. Entsprechendes
gilt, soweit das Oberverwaltungsgericht in Würdigung des Vortrags der Kläger
auch eine besondere psychische Belastung der Kläger, insbesondere der Klä-
gerin zu 1, durch das Verfahren auf Aufhebung der Teilwiderrufe der ihnen be-
willigten Wohnungsbauförderung nicht zu bejahen vermochte. Schließlich liegt
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hier auch keine Fallgruppe vor, für welche die Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte regelmäßig eine besondere Bedeutung
für die Betroffenen annimmt, wie etwa bei Eingriffen in die persönliche Freiheit
oder die Gesundheit, Rechtsstreitigkeiten um die finanzielle Versorgung (Ren-
ten- oder Arbeitssachen) oder Statussachen (vgl. etwa EGMR, Urteil vom
8. Juni 2006 - Nr. 75529/01, Sürmeli/Deutschland - NJW 2006, 2389 Rn. 133
sowie den Überblick und die Nachweise bei Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87
<88>).
(c) Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht aus den von ihm festgestellten
Tatsachen den Schluss gezogen, dass die Kläger durch ihr Verhalten keine
Verzögerung des Berufungszulassungsverfahrens bewirkt haben. Auch dies ist
zwischen den Beteiligten nicht streitig. Nach den Feststellungen des Oberver-
waltungsgerichts sind die Kläger mit keiner Verfahrenshandlung säumig gewe-
sen. Soweit sie die gesetzliche Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4
VwGO ausgeschöpft haben, ist das Oberverwaltungsgerichts zu Recht davon
ausgegangen, dass ihnen dies nicht als Verursachung einer Verfahrensverzö-
gerung zugerechnet werden kann. Denn ein Rechtsmittelführer darf die gesetz-
lichen Fristen grundsätzlich voll ausschöpfen (vgl. Urteil vom 21. Dezember
1987 - BVerwG 3 B 28.87 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 154 S. 6), ohne dass
ihm dies auch mit Blick auf § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG zum Nachteil gereicht.
(2) Die in dem angefochtenen Urteil auch zur Verfahrensführung des Oberver-
waltungsgerichts getroffenen Feststellungen schließen es aus, die Verfahrens-
dauer noch als angemessen anzusehen. Vielmehr ergibt eine Beurteilung am
Maßstab des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, dass bei der Führung des Berufungszu-
lassungsverfahrens Verzögerungen eingetreten sind, die auch bei Berücksichti-
gung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraums eine unangemes-
sene Verfahrensdauer bewirkt haben (vgl. Urteile vom 11. Juli 2013 - BVerwG
5 C 23.12 D - zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen BVerwGE
und Buchholz vorgesehen = NJW 2014, 96 Rn. 37 ff. und - BVerwG 5 C
27.12 D - zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen = juris Rn. 29 ff.). Auf
der Grundlage der vom Oberverwaltungsgericht festgestellten Tatsachen ergibt
sich, dass das Berufungszulassungsverfahren im Zeitraum vom 3. Mai 2009 bis
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zum 29. August 2011, d.h. zwei Jahre und rund vier Monate, ohne sachlichen
Rechtfertigungsgrund nicht gefördert worden ist.
Aus den Feststellungen zur Chronologie des Berufungszulassungsverfahrens
ist wertend zu folgern, dass der Antrag auf Zulassung der Berufung mit Eingang
der Stellungnahme der beklagten Bank am 3. Dezember 2008 entscheidungs-
reif war. Denn der Berufungszulassungsantrag ist damit in tatsächlicher Hinsicht
ausreichend aufbereitet gewesen und den Beteiligten ist in hinreichender Weise
rechtliches Gehör gewährt worden (vgl. Urteil vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C
23.12 D - a.a.O. Rn. 36 und 51). Aus dem festgestellten Verfahrensablauf ergibt
sich des Weiteren, dass das Oberverwaltungsgericht in der Folgezeit bis zur
Sachentscheidung keine weitere Handlung vorgenommen hat, um die Erledi-
gung des Berufungszulassungsverfahrens zu fördern. Insbesondere die am
5. Januar 2010 verfügte Übersendung eines Schriftsatzes an die beklagte Bank,
in dem der Prozessbevollmächtigte der Kläger die neue Anschrift seiner Kanzlei
mitteilte, stellte keine derartige Handlung dar.
Im vorliegenden Einzelfall erscheint es angemessen, dem Oberverwaltungsge-
richt für das konkrete Berufungszulassungsverfahren ab Entscheidungsreife
einen Zeitraum von fünf Monaten für seine Entscheidung über den Zulassungs-
antrag zuzugestehen mit der Folge, dass die bis zum 3. Mai 2009 eingetretene
Verfahrensverzögerung als sachlich gerechtfertigt anzusehen und nicht dem
beklagten Land zuzurechnen ist.
Der zugestandene Zeitraum trägt dem Umstand Rechnung, dass - auch vor
dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängig-
keit (Art. 97 Abs. 1 GG) - die Verfahrensgestaltung in erster Linie dem mit der
Sache befassten Gericht obliegt und ihm hinsichtlich der Entscheidung, wann
und wie es eine bestimmte Sache in Abstimmung mit anderen bei ihm anhängi-
gen Sachen terminiert oder sonst fördert, ein Spielraum zusteht. Er berücksich-
tigt weiter, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder Ent-
scheidung zur Sache Zeit zur rechtlichen Durchdringung benötigt, um dem
rechtstaatlichen Anliegen zu genügen, eine grundsätzlich umfassende tatsäch-
liche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes vorzunehmen. Der ab Ein-
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tritt der Entscheidungsreife zugestandene Zeitraum ist im Einzelfall in Relation
zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maß-
geblich ist insoweit - genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus
ihrer Ex-ante-Sicht einschätzen durften. Hingegen ist eine Überlastung der
Verwaltungsgerichtsbarkeit oder des konkreten Ausgangsgerichts bzw. Spruch-
körpers für die Bemessung des richterlichen Gestaltungsspielraums ohne Be-
lang. Sie gehört zu den strukturellen Mängeln, die sich der Staat zurechnen las-
sen muss und die er zu beseitigen hat (vgl. Urteile vom 11. Juli 2013 - BVerwG
5 C 23.12 D - a.a.O. Rn. 41 ff. und - BVerwG 5 C 27.12 D - a.a.O. Rn. 33 ff.;
s.a. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August 2013 - 1 BvR 1067/12- NJW
2013, 3630 <3632>).
In Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe hätte das Oberverwaltungsgericht
über das in Rede stehende Verfahren auf Zulassung der Berufung angesichts
der eher einfach gelagerten Fragen, die zu beantworten waren, fünf Monate
nach Eintritt der Entscheidungsreife entscheiden müssen, um den Anforderun-
gen an eine angemessene Verfahrensdauer zu genügen.
Die sich danach errechnende sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des
Berufungszulassungsverfahrens im Umfang von zwei Jahren und rund vier Mo-
naten ist im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung mit Blick auf das zügige
erstinstanzliche Verfahren um rund vier Monate zu reduzieren. Denn das Ver-
waltungsgericht hat den Rechtsstreit etwa vier Monate früher erledigt, als es
dies bei Berücksichtigung des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums hätte
tun müssen, um das Verfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG in angemesse-
ner Zeit zum Abschluss zu bringen.
Die am 28. November 2007 erhobene Klage war am 6. Mai 2008 entschei-
dungsreif. Zu diesem Zeitpunkt lagen Klagebegründung, Klageerwiderung, Rep-
lik der Kläger und Duplik der beklagten Bank vor. Dem Verwaltungsgericht ist
im konkreten Fall für seine Entscheidung mit Rücksicht auf den gerichtlichen
Spielraum bei der Verfahrensgestaltung ein Zeitraum von acht Monaten ab Ent-
scheidungsreife zuzugestehen. Bei der Bemessung dieses Zeitraums ist in An-
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wendung des dargelegten rechtlichen Maßstabes zunächst zu berücksichtigen,
dass es sich bei dem erstinstanzlichen Verfahren um ein Hauptsacheverfahren
gehandelt hat. Zudem ist über die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung zu
entscheiden gewesen (vgl. § 101 Abs. 1 VwGO). Allerdings ist das Verfahren in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht - wie dargelegt - nach den Feststellungen
des Oberverwaltungsgerichts allenfalls durchschnittlich schwierig gewesen.
Ferner ist der Zeitspanne von über fünf Monaten bis zum Eintritt der Entschei-
dungsreife des erstinstanzlichen Verfahrens Rechnung zu tragen. Denn die
Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des
Verfahrens zu bemühen, verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer
(vgl. Urteile vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C 23.12 D - zur Veröffentlichung in
den Entscheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen =
NJW 2014, 96 Rn. 39 und - BVerwG 5 C 27.12 D - zur Veröffentlichung in
Buchholz vorgesehen = juris Rn. 31, jeweils mit Hinweis auf die ständige
Rechtsprechung des BVerfG; s.a. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August
2013 a.a.O.). Je größer der zeitliche Abstand von der Einleitung bis zur Ent-
scheidungsreife des Verfahrens ist, desto stärker ist das Gericht gehalten, an-
schließend auf eine zügige Erledigung der Sache hinzuwirken. Nach alledem
wäre die Verfahrensdauer vor dem Verwaltungsgericht noch angemessen ge-
wesen, wenn es die Ende November 2007 eingegangene Sache nach dreizehn
Monaten abgeschlossen hätte. Das Verwaltungsgericht hat aber über die Klage
mit Urteil vom 5. September 2008 entschieden und das erstinstanzliche Verfah-
ren somit rund vier Monate vor Ablauf des hier anzunehmenden Gestaltungs-
zeitraums zum Abschluss gebracht. Dieser Zeitraum ist auf die Überlänge des
Berufungszulassungsverfahrens mindernd anzurechnen.
bb) Die Kläger haben infolge der unangemessenen Dauer des Berufungszulas-
sungsverfahrens von zwei Jahren jeweils einen immateriellen Nachteil erlitten
((1)), der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann ((2)).
(1) Dass die Kläger Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten haben, er-
gibt sich aus § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil
vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren - wie hier das Berufungszulassungsver-
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fahren - unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist hier weder
bezüglich der Klägerin zu 1 noch des Klägers zu 2 widerlegt.
(2) Entschädigung für Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art kann gemäß
§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Um-
ständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198
Abs. 4 GVG ausreichend ist. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist
gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung
des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob
eine solche Feststellung ausreichend im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG
ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher
Umstände des Einzelfalles (vgl. Urteile vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C
23.12 D - a.a.O. Rn. 57 und - BVerwG 5 C 27.12 D - a.a.O. Rn. 48, jeweils
m.w.N.).
Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der
Verzögerung des vom Schwierigkeitsgrad allenfalls durchschnittlich gelagerten
Berufungszulassungsverfahrens nicht ausreichend. Der Umstand, dass das
Verfahren für die Kläger keine besondere Bedeutung im entschädigungsrechtli-
chen Sinne besaß, vermag das Gewicht des durch die Verzögerung von zwei
Jahren bedingten immateriellen Nachteils nicht entscheidend zu mindern.
cc) Den Klägern ist für den erlittenen immateriellen Nachteil jeweils ein Ent-
schädigungsbetrag von 2 400 € zu zahlen. Eine Minderung dieses Betrages,
weil zwei Personen auf Klägerseite auftreten, ist hier nicht gerechtfertigt.
Der Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils ist ein personen-
bezogener Anspruch. Dies legt bereits der Wortlaut des § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG nahe. Danach wird angemessen entschädigt, wer infolge der unangemes-
senen Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erlitten hat. Es finden sich dort keine Hinweise dafür, dass mehrere Personen
auf Kläger- oder Beklagtenseite hinsichtlich eines Nachteils, der nicht Vermö-
gensnachteil ist, als eine (Personen-)Einheit zu behandeln sind. Gleiches gilt für
die Legaldefinition des Verfahrensbeteiligten in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG, nach
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der jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der
Verfassungsorgane, der Träger der öffentlichen Verwaltung und sonstiger öf-
fentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungs-
rechts an einem Verfahren beteiligt sind, Verfahrensbeteiligter ist. Die den Ge-
setzesmaterialien zu entnehmende Entstehungsgeschichte (vgl. BTDrucks
17/3802 S. 1 und 15) und Zweckbestimmung des § 198 Abs. 1 GVG (vgl.
BTDrucks 17/3802 S. 18) bestätigen diesen Befund. Der innerstaatliche
Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren in Form des Entschädigungs-
anspruch nach § 198 Abs. 1 GVG stellt sich danach als Reaktion auf eine ent-
sprechende Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dar.
Haftungsgrund für den gesetzlich normierten Entschädigungsanspruch wegen
unangemessener Verfahrensdauer in § 198 Abs. 1 GVG ist mithin die Verlet-
zung des in Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechts eines Verfahrensbeteiligten auf Ent-
scheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit (vgl. Urteile
vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C 23.12 D - a.a.O. Rn. 38 und - BVerwG 5 C
27.12 D - a.a.O. Rn. 30, jeweils m.w.N.). Der Anspruch auf Rechtsschutz in an-
gemessener Zeit ist als ein Jedermann-Recht konzipiert und steht dementspre-
chend jeder Person zu, die an einem Gerichtsverfahren beteiligt ist.
Die Bemessung des jeweiligen immateriellen Nachteils richtet sich nach § 198
Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe
von 1 200 € für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Gemäß § 198
Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag
festsetzen, wenn der Betrag von 1 200 € nach den Umständen des Einzelfalls
unbillig ist. Es kann offenbleiben, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraus-
setzungen es aus Billigkeitserwägungen geboten sein kann, bei mehreren Per-
sonen auf Kläger- oder Beklagtenseite einen niedrigeren Entschädigungsbetrag
als den Regelbetrag für jedes Jahr festzusetzen (vgl. hierzu z.B. EGMR, Urteil
vom 15. Februar 2008 - Nr. 38311/02, Kakamoukas u.a./Griechenland - NJW
2009, 655 <656 f.>). Denn bei einer Sachverhaltskonstellation wie der vorlie-
genden besteht kein Anlass für eine derartige Billigkeitsentscheidung. Die Fest-
stellungen des Oberverwaltungsgerichts geben auch im Übrigen keine Veran-
lassung, vom Pauschalbetrag abzuweichen.
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b) Den Klägern steht als Gesamtgläubigern für den durch die Verzögerung ent-
standenen materiellen Nachteil ein Entschädigungsanspruch in Höhe von
330,34 € zu.
Anspruchsgrundlage ist insoweit § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, der im Fall des Vor-
liegens seiner Voraussetzungen gebietet, (auch) für einen materiellen Nachteil
angemessene Entschädigung zu leisten. Die notwendigen Anwaltskosten für
die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs stellen - entge-
gen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts - eine Vermögenseinbuße
und damit einen materiellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG
dar (vgl. BTDrucks 17/3802 S. 19). Diese Kosten sind auch durch die nicht ge-
rechtfertigte Verzögerung des Berufungszulassungsverfahrens verursacht wor-
den. Die Verzögerung kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass die den
Klägern in Rechnung gestellten Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfol-
gung des Entschädigungsanspruchs entfielen. Die Kosten sind adäquate Folge
der unangemessenen Verfahrensdauer. Zwar besteht - wie das Oberverwal-
tungsgericht zutreffend festgestellt hat - keine gesetzliche Pflicht, den Entschä-
digungsanspruch vor einer Klageerhebung gegenüber dem jeweils haftenden
Rechtsträger außergerichtlich geltend zu machen. Die Verfahrensbeteiligten
sind aber nach allgemeinen Grundsätzen berechtigt, dies zu tun (vgl. BTDrucks
17/3802 S. 22).
Die Entschädigung für materielle Nachteile ist kein Schadensersatz im Sinne
der §§ 249 ff. Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -. Sie stellt vielmehr in Anleh-
nung an § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB einen Schadensausgleich nach enteignungs-
und aufopferungsrechtlichen Grundsätzen dar. Es findet damit nur ein Aus-
gleich der erlittenen Vermögenseinbuße, aber grundsätzlich keine Naturalresti-
tution statt (vgl. Urteil vom 11. Juli 2013 - BVerwG 5 C 27.12 D -
zur Veröffentli-
chung in Buchholz vorgesehen = juris Rn. 54 m.w.N.). Die Vermögenseinbuße
der Kläger beläuft sich hier auf die in Rechnung gestellten 330,34 €, für die sie
gegenüber ihrem Rechtsanwalt gesamtschuldnerisch gehaftet haben.
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3. Der ausschließlich hinsichtlich der Entschädigung des immateriellen Nach-
teils jeweils geltend gemachte Zinsanspruch der Kläger ist auf die Prozesszin-
sen zu beschränken.
a) Die Kläger können keine Verzugszinsen seit dem 15. Februar 2012, dem Tag
nach Ablauf der Zahlungsfrist, die sie der Senatsverwaltung für Finanzen ge-
setzt haben, beanspruchen.
Ein Anspruch auf Verzugszinsen in analoger Anwendung der bürgerlich-
rechtlichen Vorschrift des § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB kommt nur ausnahmsweise
in Betracht, wenn es sich bei der öffentlich-rechtlichen Forderung um eine Ent-
geltforderung handelt, d.h. um eine vertragliche Leistungspflicht, die in einem
Gegenseitigkeitsverhältnis zur Leistungspflicht des anderen Vertragspartners
steht. Denn insoweit besteht kein entscheidender Unterschied zu bürgerlich-
rechtlichen Rechtsbeziehungen (vgl. Urteile vom 30. Juni 2011 - BVerwG 3 C
30.10 - Buchholz 428.2 § 8 VZOG Nr. 13 Rn. 20 und vom 12. Juni 2002
- BVerwG 9 C 6.01 - BVerwGE 116, 312 <323> = Buchholz 407.2 § 13 EKrG
Nr. 3 S. 27, jeweils m.w.N.). Diese Voraussetzungen erfüllt der Entschädi-
gungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 GVG als gesetzlicher
Anspruch nicht.
In allen anderen Fällen können Verzugszinsen bei öffentlich-rechtlichen Geld-
forderungen nur aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage gefordert wer-
den. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gibt
es keinen allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts, der zur Zahlung von
Verzugszinsen verpflichtet (vgl. z.B. Urteile vom 26. Juli 2012 - BVerwG 2 C
29.11 - BVerwGE 143, 381 = Buchholz 237.4 § 76 HmbBG Nr. 3, jeweils Rn. 46
und vom 12. Juni 2002 a.a.O., jeweils m.w.N.). In Bezug auf den Entschädi-
gungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 GVG fehlt es an einer
ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung über die Zahlung von Verzugszinsen.
b) Der für den immateriellen Nachteil zuerkannte Entschädigungsbetrag ist je-
weils ab Eintritt der Rechtshängigkeit mit fünf Prozentpunkten über dem Basis-
zinssatz zu verzinsen. Nach den auch im Verwaltungsprozess anwendbaren
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Vorschriften der § 291 Satz 1 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB sind Prozesszin-
sen immer dann zu zahlen, wenn das einschlägige Fachrecht - so wie hier die
§§ 198 ff. GVG - keine abweichende Regelung trifft und die Geldforderung - wie
hier - eindeutig bestimmt ist (vgl. Urteile vom 26. Juli 2012 a.a.O., jeweils
Rn. 47 und vom 12. Juni 2002 a.a.O. <325> bzw. S. 28, jeweils m.w.N.).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Voraus-
setzungen für eine Billigkeitsentscheidung nach der kostenrechtlichen Spezial-
regelung des § 201 Abs. 4 GVG i.V.m. § 173 Satz 2 VwGO liegen nicht vor.
Vormeier
Stengelhofen
Dr. Störmer
Dr. Häußler
Dr. Fleuß
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Entschädigungs-/Gerichtsverfassungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1
EMRK
Art. 6 Abs. 1 Satz 1
GVG
§ 198 Abs. 1, 2 und 3 Satz 5, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 und 6 Nr. 2,
§ 201 Abs. 1, 3 und 4
VwGO
§ 80 Abs. 1 Satz 1, § 80b Abs. 1 Satz 1, §§ 88, 124 Abs. 2 Nr. 1,
§ 124a Abs. 4 Satz 4
BGB
§ 288 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 291
Stichworte:
Entschädigung; angemessene -; Entschädigungsbegehren; -anspruch; -antrag;
Dispositionsbefugnis; Entschädigung bei überlanger Dauer eines Berufungszu-
lassungsverfahrens; Beschränkung des Entschädigungsbegehrens auf einen
Verfahrenszug; Begrenzung -; Beschränkung des Entschädigungsanspruchs;
Begrenzung -; Beschränkung des Entschädigungsantrags; Begrenzung -; Be-
deutung von Berufungszulassungsverfahren; Schwierigkeit von -; durchschnittli-
cher Fall; Prozessverhalten; Verfahrensführung; Verfahrensgestaltung; Gestal-
tungsspielraum; Verfahrensdauer; angemessene -; Einzelfallmaßstab für -;
überlange -; Verzögerung; Gesamtverfahrensdauer; Kompensation; Ausgleich;
Anrechnung; Nachteil; immaterieller -; materieller -; Nichtvermögensnachteil;
Vermögensnachteil; Vermögenseinbuße; Nachteilsausgleich; personenbezoge-
ner Anspruch; verfahrensbezogener -; Regelbetrag; Pauschalbetrag; Billigkeits-
entscheidung; Anwaltskosten; vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungs-
anspruchs; außerprozessuale -; Verzinsung; Anspruch auf Zinsen; Zinsan-
spruch; Verzugszinsen; Prozesszinsen; Rechtshängigkeitszinsen.
Leitsätze:
1. Die Begrenzung der Entschädigungsklage auf eine von mehreren Instanzen
(hier das Berufungszulassungsverfahren) ist prozessrechtlich zulässig. Mate-
riellrechtlicher Bezugsrahmen eines derart beschränkten Begehrens ist gleich-
wohl das gesamte (verwaltungs-)gerichtliche Verfahren.
2. Der Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils (§ 198 Abs. 2
GVG) ist ein personenbezogener Anspruch.
3. Die notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Ent-
schädigungsanspruchs stellen einen materiellen Nachteil im Sinne des § 198
Abs. 1 Satz 1 GVG dar.
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4. Eine Verzinsung des Entschädigungsbetrages kann im Verwaltungsprozess
nur unter dem Gesichtspunkt der Prozesszinsen verlangt werden.
Urteil des 5. Senats vom 27. Februar 2014 - BVerwG 5 C 1.13 D
I. OVG Berlin-Brandenburg vom 12.09.2012 - Az.: OVG 3 A 2.12 -