Urteil des BVerwG vom 26.09.2002

Sozialhilfe, Überschreitung, Beschränkung, Vorhersehbarkeit

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 1.02
OVG 2 L 63/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 26. September 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S ä c k e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l , Dr. F r a n k e
und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 28. November 2001 wird
aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwal-
tungsgerichts vom 14. August 2000 wird zurück-
gewiesen.
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Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs-
und des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten
werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung gemäß
§ 107 Abs. 1 BSHG, welche dieser unter Berufung auf § 111
Abs. 2 Satz 1 BSHG verweigert.
Der Kläger hatte dem Hilfeempfänger A. in der Zeit vom 1. No-
vember 1996 bis zum 28. Februar 1998 ergänzende Leistungen der
Sozialhilfe (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) gewährt. Der
Hilfeempfänger war zum 18. Oktober 1996 aus dem Zuständig-
keitsbereich des Beklagten in den Zuständigkeitsbereich des
Klägers verzogen. Die Leistungen wurden zum 28. Februar 1998
eingestellt.
Die Sozialhilfeaufwendungen für den Hilfeempfänger erreichten
für die Zeit vom 1. November 1996 bis 31. Oktober 1997 den Be-
trag von 5 000 DM nicht; für den Zeitraum vom 1. März 1997 bis
zum 28. Februar 1998 betrugen die bereinigten Aufwendungen
5 290,78 DM.
Der Kläger meldete unter dem 4. November 1996 bei dem Beklag-
ten seinen künftigen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 107
Abs. 1 BSHG an. Der Beklagte erkannte unter dem 21. Februar
1997 eine Kostenerstattungspflicht in den durch § 111 BSHG ge-
zogenen Grenzen für die Zeit vom 1. November 1996 bis längs-
tens 17. Oktober 1998 an und erbat unter Hinweis auf die Baga-
tellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG die jährliche Vorlage einer
detaillierten Kostenrechnung. Unter dem 25. Februar 1998 for-
derte der Kläger den Beklagten zur Erstattung von Kosten in
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Höhe von (zunächst) 6 375,44 DM für in der Zeit vom 1. März
1997 bis 28. Februar 1998 angefallene Sozialhilfekosten auf.
Der Beklagte lehnte dies unter Hinweis auf § 111 Abs. 2 Satz 1
BSHG ab, weil in den ersten zwölf Monaten der Leistungsgewäh-
rung die Sozialhilfeaufwendungen die Bagatellgrenze von
5 000 DM nicht überschritten hätten.
Das Verwaltungsgericht hat auf die am 1. März 2000 erhobene
Klage, die hinsichtlich eines Teilbetrages zurückgenommen wor-
den ist, den Beklagten verurteilt, dem Kläger die in der Zeit
vom 1. März 1997 bis zum 28. Februar 1998 an den Hilfeempfän-
ger erbrachte Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von
5 290,78 DM zu erstatten. Zur Begründung hat es im Wesentli-
chen ausgeführt: Der Kostenerstattung stehe nicht entgegen,
dass die Sozialhilfeaufwendungen in den ersten zwölf Monaten
nach Einsetzen der Hilfe den Betrag von 5 000 DM nicht über-
stiegen. Erforderlich, aber auch hinreichend sei, dass dieser
Betrag in einem Zeitraum von zwölf zusammenhängenden Monaten
überschritten worden sei, dessen Beginn der kostenerstattungs-
berechtigte Träger innerhalb des Zwei-Jahres-Zeitraumes des
§ 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG beliebig wählen könne.
Das Oberverwaltungsgericht hingegen hat auf die Berufung des
Beklagten das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die
Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausge-
führt: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(Urteil vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 -) beziehe
sich die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG auf ei-
nen objektiv feststellbaren Leistungszeitraum und nicht auf
vom Erstattungsberechtigten bestimmte, rechtlich selbständige
Abrechnungszeiträume. Es genüge, dass die Bagatellgrenze in
den ersten zwölf Monaten des Zeitraumes der Leistungsgewährung
erreicht werde; dies sei hier nicht der Fall. Mangels Regelun-
gen über ein Abrechnungsverfahren könne der Erstattungsberech-
tigte in den Fällen, in denen eine Erstattung wegen Über-
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schreitung der Bagatellgrenze überhaupt in Betracht komme,
zwar den jeweiligen Abrechnungszeitraum frei wählen; die Fest-
stellung des Leistungszeitraumes, der Grundlage für die Be-
rechnung des Über- oder Unterschreitens der Bagatellgrenze
sei, sei hingegen vom Willen des Erstattungsberechtigten unab-
hängig. Hierfür sei auf die ersten zwölf Monate des Leistungs-
bezuges abzustellen; das Alles- oder Nichts-Prinzip, das für
den Fall des Überschreitens der Bagatellgrenze in den ersten
zwölf Monaten anzuwenden sei, müsse gleichermaßen auch für den
Fall gelten, dass die Bagatellgrenze in diesem Zeitraum nicht
überschritten werde. Eine flexible Bestimmung des Zwölf-
Monats-Zeitraumes kompliziere das Erstattungsverfahren, statt
es zu vereinfachen, fördere in Grenzfällen Tendenzen der Mani-
pulation und setze voraus, dass ein Träger der Sozialhilfe den
Erstattungsfall kontinuierlich daraufhin zu überprüfen habe,
ob die Erstattungsvoraussetzungen erfüllt seien.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 111
Abs. 2 Satz 1 BSHG. Der Beklagte verteidigt das Berufungsur-
teil.
II.
Die Revision des Klägers, über die das Bundesverwaltungsge-
richt gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101
Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist
begründet. Die Verurteilung des Beklagten zur Kostenerstattung
durch das Verwaltungsgericht ist rechtens, das Berufungsurteil
ist mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht vereinbar
und unter Zurückweisung der Berufung aufzuheben (§ 144 Abs. 3
Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, § 111 Abs. 2
Satz 1 BSHG stehe einem Erstattungsanspruch für die Zeit vom
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1. März 1997 bis zum 28. Februar 1998, in welcher Kosten von
mehr als 5 000 DM erreicht wurden, entgegen, weil in den ers-
ten zwölf Monaten der Leistungsgewährung die Kosten 5 000 DM
nicht erreicht haben.
Nach § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG in der seit dem 1. Januar 1994
geltenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen
Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl I
S. 944) sind "Kosten unter 5 000 Deutsche Mark, bezogen auf
einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf Mona-
ten, ... nicht zu erstatten". Die in dem Urteil des Senats vom
19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 - (FEVS 52, 221 = Buch-
holz 436.0 § 111 BSHG Nr. 4) nicht entscheidungserhebliche
Frage, ob die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG ei-
nem Anspruch auf Erstattung der in einem zusammenhängenden
Zeitraum von bis zu zwölf Monaten der Leistungsgewährung auf-
gewendeten Kosten dann entgegensteht, wenn die erstattungsfä-
higen Kosten den Bagatellbetrag von 5 000 DM nicht - wie in
dem in jenem Urteil entschiedenen Fall - bereits in den ersten
zwölf Monaten des Leistungszeitraumes, sondern erst innerhalb
von zwölf späteren, aufeinanderfolgenden Monaten überschrei-
ten, ist entgegen der Vorinstanz zu verneinen.
Der Wortlaut des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG legt den Beginn des
Zwölf-Monats-Zeitraumes, in dem die Bagatellgrenze erreicht
sein muss, nicht fest. Der Gesetzgeber hat im Gegensatz zu der
Kostenerstattungsregelung des § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG auf ei-
ne Fixierung des Fristlaufes (etwa durch den Zusatz "..., be-
zogen auf die ersten zwölf Monate der Leistungsgewährung ..."
oder "..., bezogen auf einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten
seit Beginn der Leistungsgewährung ...") verzichtet und mit
der Verwendung des unbestimmten Artikels ("einen" Zeitraum)
zum Ausdruck gebracht, dass der maßgebliche Leistungszeitraum
nicht notwendig schon mit dem Einsetzen der Leistung beginnt.
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Die Festlegung des Beginns des für die Bagatellgrenzenregelung
maßgeblichen Zeitraums der Leistungsgewährung auf den tatsäch-
lichen Beginn der Leistungsgewährung folgt auch nicht aus dem
Regelungszusammenhang. Die Auslegung des § 111 Abs. 2 Satz 1
BSHG hat jedenfalls auch die Fälle zu berücksichtigen, in de-
nen der Zeitraum der Leistungsgewährung, für den ein Kostener-
stattungsanspruch ausgelöst wird, zwölf Monate übersteigt und
wegen Aufwendungen in wechselnder Höhe die Bagatellgrenze zwar
nicht in den ersten zwölf Monaten der Leistungsgewährung, wohl
aber während des erstattungsrelevanten Leistungszeitraumes in
einem beliebigen Zwölf-Monats-Zeitraum in der Folgezeit über-
schritten worden ist. Diesen Fällen wird eine Auslegung nicht
gerecht, die allein auf die ersten zwölf Monate der Leistungs-
gewährung abstellt. Der vom Berufungsgericht erwogene Ansatz,
dann zwölf Monate nach Beginn des tatsächlichen Leistungsbe-
ginns einen neuen, eigenständigen Zwölf-Monats-Zeitraum begin-
nen zu lassen, führte zur Bildung rechtlich je selbständiger
Bezugszeiträume, wofür sich im Wortlaut des § 111 Abs. 2
Satz 1 BSHG keine Stütze findet. § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG
stellt keine Regelungen für das Abrechnungsverfahren selbst
auf (BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C
30.99 -, FEVS 52, 221 = Buchholz 436.0 § 111 BSHG Nr. 4) und
enthält auch keine Anhaltspunkte für die Bildung rechtlich
selbständiger, getrennter Betrachtung zugänglicher Zeitab-
schnitte für die Berechnung der Überschreitung der Bagatell-
grenze.
Sinn und Zweck des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG gebieten ebenfalls
nicht, den Beginn des Zwölf-Monats-Zeitraumes auf den tatsäch-
lichen Beginn der Leistungsgewährung festzusetzen. Die Rege-
lung bezweckt eine Begrenzung der verwaltungsaufwändigen Kos-
tenerstattungsfälle sowie eine Vereinfachung des Kostenerstat-
tungsverfahrens unter Beachtung des Erfordernisses normativer
Klarheit und Vorhersehbarkeit (vgl. BTDrucks, 12/4401, S. 84
zu Nr. 17). Diesen Zwecken entspricht auch eine Auslegung,
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nach welcher die für die Erstattung notwendige Überschreitung
der Bagatellgrenze innerhalb eines Zeitraums von bis zu zwölf
Monaten sich in rückschauender Betrachtung ergibt. Die zeit-
raumbezogene Erhöhung der Bagatellgrenze durch das Gesetz zur
Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms bewirkt eine
deutliche Beschränkung der Zahl der Kostenerstattungsfälle. Da
der Gesetzgeber im Übrigen an tatbestandlich gebundenen Er-
stattungspflichten festgehalten und diese durch die Neurege-
lung des § 107 BSHG sogar erweitert hat, ist aus dem Gesetzes-
zweck eine weiter gehende Beschränkung von Kostenerstattungs-
ansprüchen, die aus einem mit der tatsächlichen Leistungs-
aufnahme zusammenfallenden Beginn des Zwölf-Monats-Zeitraumes
für die Überschreitung der Bagatellgrenze folgen würde, nicht
herzuleiten. Auch der Zweck einer Begrenzung des Verwaltungs-
aufwandes gebietet es nicht, den Beginn des Zwölf-Monats-Zeit-
raumes stets mit dem tatsächlichen Leistungsbeginn gleichzu-
setzen. Der Verwaltungsaufwand entsteht bei Kostenerstattungs-
fällen aus der Bearbeitung als solcher, namentlich der Prü-
fung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der in § 111
Abs. 2 Satz 1 BSHG vorausgesetzten Kostenerstattungsnorm er-
füllt sind, ob Leistungen, deren Erstattung begehrt wird
(§ 111 Abs. 1 Satz 1 BSHG), rechtmäßig gewährt worden sind und
im Rahmen des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG weiterhin aus der Prü-
fung, ob die hiernach berücksichtigungsfähigen Kosten inner-
halb eines Zeitraumes von (bis zu) zwölf Monaten den Betrag
von 5 000 DM erreichen. Der Berechnungsaufwand wird von der
Frage, in Bezug auf welchen Zwölf-Monats-Zeitraum diese Be-
rechnung vorzunehmen ist, nicht auslegungsrelevant berührt.
Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind für den erstat-
tungspflichtigen Träger der Sozialhilfe dadurch gesichert,
dass der Erstattungsberechtigte den Rahmen der zeitlichen Vor-
gabe aus § 111 SGB X zu beachten hat. Soweit der Beklagte eine
"Manipulation" des Zeitpunktes einer Leistungsgewährung, etwa
durch zeitliche Verlagerung der Gewährung einmaliger Leistun-
gen, befürchtet, bestünde eine solche Gefahr auch bei Beginn
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des Berechnungszeitraumes schon im Zeitpunkt des tatsächlichen
Leistungsbeginns.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Ge-
richtskostenfreiheit aus § 188 Satz 2 VwGO; § 188 Satz 2 Halb-
satz 2 VwGO in der ab dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung ist
nach § 194 Abs. 5 VwGO noch nicht anzuwenden, weil das Verfah-
ren vor dem 1. Januar 2002 bei dem Bundesverwaltungsgericht
anhängig geworden ist.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel
Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Sozialhilferecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
BSHG § 111 Abs. 2 Satz 1
Stichworte:
"Bagatellgrenze" bei der Kostenerstattung zwischen Trägern der
Sozialhilfe;
Kostenerstattung zwischen Trägern der Sozialhilfe,
Umfang der -; Bagatellgrenze
Sozialhilfe, Umfang der Kostenerstattung zwischen
Trägern der -.
Leitsatz:
Die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG steht einem
Anspruch auf Erstattung der in einem zusammenhängenden Zeit-
raum von bis zu zwölf Monaten der Leistungsgewährung aufgewen-
deten Kosten nicht entgegen, wenn erstattungsfähige Kosten von
5 000 DM oder mehr angefallen sind; es ist nicht erforderlich,
dass die Bagatellgrenze bereits in den ersten zwölf Monaten
der Leistungsgewährung überschritten worden ist (Fortführung
von BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 -
FEVS 52, 221 = Buchholz 436.0 § 111 BSHG Nr. 4).
Urteil des 5. Senats vom 26. September 2002 - BVerwG 5 C 1.02
I. VG Schleswig vom 14.08.2000 - Az.: VG 13 A 71/00 -
II. OVG Schleswig vom 28.11.2001 - Az.: OVG 2 L 63/01 -