Urteil des BVerwG vom 06.10.2003

Versorgung, Krankenversicherung, Behinderung, Rehabilitation

B
U
N
D
E
S
V
E
R
W
A
L
T
U
N
G
S
G
E
R
I
C
H
T
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 88.03 (5 PKH 75.03)
OVG 4 LB 546/02
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Oktober 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
beschlossen:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom
11. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
- 2 -
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens; Ge-
richtskosten werden nicht erhoben.
Mit dem Beschluss erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe.
G r ü n d e :
Die allein auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Mit dem Vorbringen, das Berufungsurteil
"ist rechtsfehlerhaft und missachtet den Grundsatz des Nachranges der
Sozialhilfe, einen tragenden Grundsatz des gesamten Sozialhilferechts,
der auch im Verhältnis der Leistungen aus Mitteln der Eingliederungshilfe
zu Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seine Ausformung
erhalten hat,"
wird eine grundsätzlicher Klärung bedürftige und zugängliche Rechtsfrage nicht in
einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise be-
zeichnet.
2. Soweit die Beschwerde als grundsätzlicher Klärung bedürftig sinngemäß die Fra-
ge hätte aufwerfen wollen,
ob für eine krankenversicherte, hilfebedürftige behinderte Person eine
Versorgung mit orthopädischen Schuhen als Maßnahme der Eingliede-
rungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz ausnahmslos dann aus-
scheidet, wenn die zuständige Krankenkasse nach ihren Richtlinien eine
medizinische Notwendigkeit für die Versorgung mit orthopädischen Schu-
hen (hier: wegen zu geringer Beinverkürzung) verneint und eine entspre-
chende Leistung abgelehnt hat,
rechtfertigte diese Frage die Zulassung der Revision nicht. Es ergibt sich ohne weite-
res aus dem Gesetz, dass diese Frage zu verneinen wäre.
2.1 Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 BSHG (in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 15
Nr. 9 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - vom 19. Juni 2001, BGBl I
- 3 -
S. 1046 <1111>) sind Leistungen der Eingliederungshilfe vor allem Leistungen zur
medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs. 2 und 3 des Neunten Buches Sozialge-
setzbuch (Nr. 1) und die Versorgung mit Körperersatzstücken sowie mit orthopädi-
schen oder anderen Hilfsmitteln (Nr. 2). Nach § 26 Abs. 2 Nr. 6 in Verbindung mit
§ 31 Abs. 1 SGB IX umfassen die "Hilfsmittel (Körperersatzstücke sowie orthopädi-
sche und andere Hilfsmittel) nach § 26 Abs. 2 Nr. 6 (…) die Hilfen, die von den Leis-
tungsempfängern getragen oder mitgeführt werden können und unter Berücksichti-
gung der Umstände des Einzelfalles erforderlich sind, um einer drohenden Behinde-
rung vorzubeugen, den Erfolg einer Heilbehandlung zu sichern oder eine Behinde-
rung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszuglei-
chen, soweit sie nicht allgemeine Gebrauchsgegenstände sind". Im Krankenversi-
cherungsrecht haben Versicherte nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Anspruch
auf Versorgung u.a. mit orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall
erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden
Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfs-
mittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen
oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
2.2 Für das Verhältnis der Leistungen bestimmt § 40 Abs. 1 Satz 2 BSHG, dass die
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben nach
dem Bundessozialhilfegesetz jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung oder der Bundesanstalt für Arbeit entsprechen. Der Gesetzge-
ber hat hiernach den Gleichklang der Leistungen der Eingliederungshilfe und jener
der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Leistungen zur medizinischen Rehabi-
litation (§ 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSHG) und zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 40
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BSHG) beschränkt und nach dem Wortlaut des § 40 Abs. 1
Satz 2 BSHG nicht auch auf die in § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG gesondert gere-
gelte Versorgung u.a. mit orthopädischen oder anderen Hilfsmitteln erstreckt. Der
Gesetzgeber hat damit in § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG an einer eigenständigen
sozialhilferechtlichen Sonderregelung für die Versorgung u.a. mit orthopädischen
Hilfsmitteln festgehalten und für diese Regelung von einer Bindung an den Leis-
tungsumfang der - nach den allgemeinen Grundsätzen des § 2 Abs. 1 BSHG aller-
dings vorrangig zur Leistung verpflichteten - gesetzlichen Krankenversicherung ab-
gesehen, obwohl die in § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSHG umschriebenen Leistungen
- 4 -
zur medizinischen Rehabilitation nach § 26 SGB IX auch die Versorgung u.a. mit
orthopädischen Hilfsmitteln erfassen. Damit hat er deutlich gemacht, dass der sozi-
alhilferechtliche Begriff der orthopädischen Hilfsmittel weiter gefasst ist als bei der
Krankenhilfe sowie nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung; im
Rahmen der Aufgabe der Eingliederungshilfe ist jede erforderliche Hilfe zu gewäh-
ren, und zwar bei der Versorgung mit orthopädischen und anderen Hilfsmitteln un-
abhängig davon, ob solche Hilfsmittel auch von nicht behinderten Personen benutzt
werden (s.a. Schellhorn/Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 40 Rn. 24).
Für den in § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG hervorgehobenen Bereich der Versorgung
u.a. mit orthopädischen Hilfsmitteln kann mithin die durch die Eingliederungshilfe
sicherzustellende Hilfe weiter reichen als nach dem Recht der gesetzlichen Kran-
kenversicherung. Die nach dem Krankenversicherungsrecht zu bestimmende medi-
zinische Notwendigkeit einer Leistung der Krankenversicherung im Bereich der Ver-
sorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln kann ungeachtet dessen, dass die Versi-
cherten auf diese Leistungen einen Anspruch u.a. dann haben, wenn sie im Einzel-
fall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen (§ 33 Abs. 1 Satz 1
SGB V), wegen der weitergehenden Aufgaben der Eingliederungshilfe, die nach § 39
Abs. 3 Satz 2 BSHG auch darauf gerichtet ist, den behinderten Menschen die Teil-
nahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, in Grenz-
bereichen nach strengeren Maßstäben zu beurteilen sein als in der Eingliederungs-
hilfe. Eine § 68 a BSHG vergleichbare Bestimmung zur Bindung an die Entscheidung
der Krankenkasse oder deren Beurteilung zur medizinischen Notwendigkeit einer
Leistung besteht im Bereich der Eingliederungshilfe für die Versorgung mit orthopä-
dischen Hilfsmitteln nicht; nach seiner systematischen Stellung ist auch § 38 Abs. 1
BSHG auf die spezielleren Leistungen der Eingliederungshilfe nicht unmittelbar oder
analog anzuwenden.
2.3 Soweit die Beschwerde sich gegen die tatsächliche Feststellung des Berufungs-
gerichts wendet, die Klägerin habe nachvollziehbar dargelegt, dass nur die Versor-
gung mit den begehrten orthopädischen Schuhen zu einer Minderung der vorhande-
nen Behinderung führe und ihr mit zugerichteten Konfektionsschuhen eine Teilnah-
me am öffentlichen Leben nicht hinreichend möglich sei, wendet sie sich, ohne inso-
weit eine Verfahrensrüge zu erheben, gegen die tatrichterliche Feststellung und Be-
- 5 -
wertung des Sachverhaltes; dies vermag einer auf den Zulassungsgrund des § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit
beruht auf § 188 Satz 2 VwGO.
4. Mit der Entscheidung über die Beschwerde erledigt sich mangels fortbestehenden
Sachbescheidungsinteresses der von der Klägerin gestellte Antrag auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe.
Dr. Säcker
Dr. Franke
Prof. Dr. Berlit