Urteil des BVerwG vom 24.03.2006

Richteramt, Nationalität, Pass, Zustellung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 86.05
OVG 2 A 3876/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. März 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt und Dr. Rothkegel
beschlossen:
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen über die Nichtzulassung der
Revision in seinem Beschluss vom 8. Juli 2005 wird auf-
gehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts ist wegen Abweichung dieser Entscheidung von der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO)
begründet.
Die ohne mündliche Verhandlung ergangene Berufungsentscheidung ist tra-
gend darauf gestützt, dass der Kläger nicht „auf vergleichbare Weise“ wie durch
eine Nationalitätenerklärung bei der Beantragung seines ersten Inlandspasses
(in den ihm nicht zurechenbar die russische Volkszugehörigkeit eingetragen
wurde) ein Bekenntnis (nur) zum deutschen Volkstum abgegeben habe. Nach
§ 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG in der Fassung des Spätaussiedlergesetzes vom
30. August 2001 (BGBl I S. 2266) wird ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum
unterstellt, wenn es - was die Vorinstanz hier offengelassen hat - unterblieben
ist, weil es mit schwerwiegenden beruflichen Nachteilen für den Kläger verbun-
den gewesen wäre, und wenn aufgrund der Gesamtumstände dessen Wille
unzweifelhaft ist, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören.
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Solche Gesamtumstände ersetzen in den Fällen des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG
somit das - unterbliebene - Bekenntnis (nur) zum deutschen Volkstum auch
dann, wenn im Rahmen des Passerteilungsverfahrens aufgrund einer entspre-
chenden Nationalitätenerklärung eine nichtdeutsche Nationalität in diesen Pass
eingetragen worden ist. Zu den darüber hinweghelfenden „Gesamtumständen“
gehören nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 13. November 2003
- BVerwG 5 C 40.03 - (BVerwGE 119, 192 <197>) nach außen tretende, von
einem entsprechenden (inneren) Volkstumsbewusstsein getragene Erklärungen
(in der Folgezeit). Der zuvor für das Vertriebenenrecht zuständig gewesene
9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat als Beispiel für die unmittelbare
Feststellung eines Bekenntnissachverhalts benannt, dass jemand bei Volkszäh-
lungen im Heimatstaat seine Volkszugehörigkeit mit deutsch angegeben hat
(Urteile vom 16. Februar 1993 - BVerwG 9 C 25.92 - BVerwGE 92, 70 <73 f.>
und vom 13. Juni 1995 - BVerwG 9 C 293.94 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG
Nr. 78; Beschluss vom 10. November 1995 - BVerwG 9 B 431.95 - Buchholz
412.3 § 6 BVFG Nr. 82).
Der Kläger hat behauptet, sich regelmäßig als Deutscher zu erkennen gegeben
zu haben, und hierzu Zeugen benannt. Er hat zur Darlegung seines Bekennt-
nisverhaltens zahlreiche Umstände bezeichnet, aus denen er herleiten will,
dass seine volksdeutsche Gesinnung nach außen getreten sei. U.a. hat er be-
hauptet, sich bei Volkszählungen immer als Deutscher eingetragen zu haben.
Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Vorbringen zwar als wahr unterstellt, es
zur Feststellung eines Bekenntnissachverhalts aber nicht genügen lassen: Zum
einen handele es sich um „einen völlig unsubstantiierten Vortrag, wann und
unter welchen Umständen dies (gemeint sind die Eintragungen bei Volkszäh-
lungen) in einer Zeit erfolgt sein soll, als der Kläger einen russischen Namen
und im Pass die russische Nationalität (getragen habe)“; hinsichtlich der bean-
tragten Zeugenvernehmung handele es sich „um einen unzulässigen auf Aus-
forschung gerichteten Beweisantrag“, zum anderen handele es sich bei dem
Verhalten bei Volkszählungen „allenfalls um ein punktuelles Ereignis ohne wei-
tergehende Außenwirkung, das auch im Zusammenhang mit dem sonstigen
Vortrag des Klägers einer Nationalitätenerklärung, die im Inlandspass ihren
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dauerhaften Niederschlag gefunden hat, in Bedeutung und Gewicht nicht
gleichkommt“.
Mit diesen Erwägungen hat sich das Oberverwaltungsgericht - was die Be-
schwerde dem Formerfordernis aus § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügend gel-
tend macht - in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts gesetzt. Wenn jemand bei Volkszählungen seine Volkszugehörigkeit mit
deutsch angegeben hat, ist dies vom 9. Senat in seinem von der Beschwerde
benannten Urteil vom 17. Oktober 1988 - BVerwG 9 C 18.89 - (Buchholz 412.3
§ 6 BVFG Nr. 62) als „ausdrückliches Bekenntnis“ gewertet worden. In einer
späteren Entscheidung hat der 9. Senat klargestellt, dass „anders als die äuße-
re Erklärung, dem deutschen Volk als national geprägter Kulturgemeinschaft
anzugehören, … das entsprechende innere Bewusstsein, das hinter der äuße-
ren Erklärung stehen muss, kein ‚punktuelles’ Ereignis (sei)“ (Urteil vom
12. November 1996 - BVerwG 9 C 8.96 - BVerwGE 102, 214 <218>). Das Ver-
halten bei einer Volkszählung kommt danach als ein ausdrückliches Nationalitä-
tenbekenntnis ungeachtet dessen in Betracht, dass es sich dabei um ein "punk-
tuelles Ereignis" handelt. Demgegenüber lässt die dem entgegenstehende Be-
rufungsentscheidung nicht erkennen, dass und in welchem Sinne Eintragungen
bei Volkszählungen als stets „punktuelle Ereignisse“ - wie im Übrigen die Ein-
tragungen der Volkszugehörigkeit im Nationalitätenpass - überhaupt jemals ei-
nen ihnen nach „Bedeutung und Gewicht“ gleichkommenden „dauerhaften Nie-
derschlag“ finden können, der über die Eintragung in die Volkszählungsliste hi-
nausgeht.
Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob die Zurückweisung der Be-
rufung nicht - wie dies von der Beschwerde gerügt worden ist - an einem Ver-
fahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) leidet. Darum ist hier nicht darüber zu
befinden, ob das Verfahrensrecht, insbesondere die anerkannten Regeln über
Sachverhaltswürdigung und Beweiserhebung, es dem Oberverwaltungsgericht
erlaubt haben, es einerseits als wahr zu unterstellen, dass der Kläger - wie es
im Tatbestand der Berufungsentscheidung (S. 6 unten) heißt - „sich auch bei
Volkszählungen gegenüber den staatlichen Bediensteten … als Deutscher zu
erkennen gegeben“ hat, andererseits diesen vom Kläger unter Beweis gestell-
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ten Sachvortrag gleichwohl als „völlig unsubstantiiert“ zu werten und die Beru-
fung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zurückzuweisen, ohne
zuvor aus Sicht des Gerichts etwa noch verbliebenen Unklarheiten hinsichtlich
des Zeitpunktes und sonstiger Umstände des Klägerverhaltens bei Volkszäh-
lungen nachgegangen zu sein. Anhaltspunkte dafür, dass es sich um Volkszäh-
lungen außerhalb des nach Ansicht des Berufungsgerichts entscheidungser-
heblichen Bekenntniszeitraums gehandelt haben könnte, hat der Sachvortrag
des Klägers nicht geboten.
Rechtsmittelbelehrung
Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen
BVerwG 5 C 9.06 fortgesetzt; der Einlegung einer Revision durch den Be-
schwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu
begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simson-
platz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom
26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für den Revisionskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Be-
gründung der Revision. Der Revisionskläger muss sich durch einen Rechtsan-
walt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des
Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtig-
ten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behör-
den können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum
Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften
ferner durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zu-
ständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes
des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben
Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.
Dr. Säcker
Schmidt
Dr. Rothkegel