Urteil des BVerwG vom 22.06.2006

Verbindlichkeit, Beweislast, Bemessungsgrundlage, Umkehrschluss

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 62.06
VG 5 A 222/04 HAL
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Juni 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Brunn und Prof. Dr. Berlit
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Halle
vom 8. März 2006 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 6 743,74 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die allein auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat
keinen Erfolg.
Die von der Beschwerde als klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
„welche Anforderungen an den Nachweis über das Beste-
hen von langfristigen Verbindlichkeiten gemäß § 3 Abs. 4
EntschG zu stellen sind, insbesondere wer den Nachweis
darüber zu führen hat, dass Tilgungsleistungen oder an-
dere Erlöschensgründe seitens des Berechtigten vorlie-
gen, wenn zwar bezogen auf den Zeitpunkt der Schädi-
gung selbst keine Unterlagen mehr vorhanden sind, sich
jedoch langfristige Verbindlichkeiten aus vor dem Schädi-
gungszeitpunkt erstellten Unterlagen ergeben“,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Soweit sie über die einzelfallbezo-
gene Würdigung des Sachverhalts hinausgehende, fallübergreifender Klärung
zugängliche Rechtsfragen erkennen lässt, die sich nach den nicht mit Verfah-
rensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts
stellen könnten, lassen sich diese ohne Durchführung eines Revisionsverfah-
rens unmittelbar aus dem Gesetz bzw. auf der Grundlage der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts beantworten.
1. § 3 Abs. 4 Satz 1 EntschG, dem gemäß von der Bemessungsgrundlage
langfristige Verbindlichkeiten, die im Zeitpunkt der Schädigung mit Vermögen im
Sinne des Absatzes 1 Satz 1 in wirtschaftlichem Zusammenhang standen oder
an solchen Vermögen dinglich gesichert waren, in Höhe ihres zu diesem
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Zeitpunkt valutierenden Betrages abzuziehen sind, bewirkt eine Einschränkung
der für die Berechnung der Höhe der Entschädigung maßgeblichen Bemes-
sungsgrundlage. Bereits aus dem Wortlaut des Satzes 1 folgt, dass die Ver-
bindlichkeiten im Schädigungszeitpunkt tatsächlich bestehen müssen und ledig-
lich mögliche, aber nicht nachgewiesene Verbindlichkeiten nicht ausreichen. Die
materielle Darlegungslast für das Bestehen von langfristigen Verbindlichkeiten
gehen dann aber zu Lasten der Entschädigungsbehörde, nicht des Berech-
tigten. Für diese Auslegung spricht auch die zu der ebenfalls auf eine Nettoent-
schädigung gerichteten und insoweit zweckgleichen Regelung des § 12 Abs. 3
FeststellungsG (Gesetz über die Feststellung von Vertreibungsschäden und
Kriegssachschäden - Feststellungsgesetz - vom 21. April 1952, BGBl I S. 237,
zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juli 2004, BGBl I S. 1742), an die § 3
Abs. 4 Satz 1 EntschG auch dem Wortlaut nach anknüpft, ergangene Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. etwa Urteil vom 6. Juli 1967
- BVerwG 3 C 77.65 - Buchholz 427.2 § 12 FG Nr. 37; Beschluss vom
1. Februar 1973 - BVerwG 3 B 30.72 - Buchholz 427.2 § 12 FG Nr. 52), nach
der die Ausgleichsbehörde die Beweislast für das Bestehen von langfristigen
Verbindlichkeiten trägt. Keine andere Beurteilung rechtfertigt der Einwand des
Beklagten, die zu § 12 Abs. 3 FeststellungsG ergangene Rechtsprechung kläre
die Beweislastfrage nicht abschließend, weil diese Norm keine § 3 Abs. 4
Satz 2 EntschG entsprechende besondere Regelung enthalte. Nach Wortlaut
und systematischer Stellung bezieht sich der Vorbehalt des „Nachweises von
Tilgungsleistungen oder anderer Erlöschungsgründe seitens des Berechtigten“
(§ 3 Abs. 4 Satz 2 EntschG) allein auf die an den Nennwert des früheren
Rechts anknüpfende Höhe des abzuziehenden Betrages und gerade nicht auf
das „Ob“ des Bestehens einer als bestehend nachgewiesenen langfristigen
Verbindlichkeit. Im Umkehrschluss bekräftigt diese punktuelle Überbürdung der
materiellen Beweislast auf den Berechtigten, dass die Darlegungs- und mate-
rielle Beweislast für das Bestehen einer langfristigen Verbindlichkeit nach Satz
1 die Entschädigungsbehörde trifft.
2. Nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf die Frage, ob aus § 3
Abs. 4 Satz 2 EntschG - in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung -
folgt, dass der Berechtigte die (teilweise) Tilgung langfristiger Verbindlichkeiten
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auch für den Fall regelt, dass das Bestehen langfristiger Verbindlichkeiten zwar
nicht für den Schädigungszeitpunkt, wohl aber für einen vor diesem gesetzlich
maßgeblichen Zeitpunkt liegenden Zeitpunkt nachgewiesen worden ist. Aus
Wortlaut und Systematik folgt - wie zutreffend auch das Verwaltungsgericht (Ur-
teil S. 8 f.) ausgeführt hat -, dass Satz 2 eine für den Zeitpunkt der Schädigung
nachgewiesene langfristige Verbindlichkeit voraussetzt, ohne sich auf die Vo-
raussetzungen und das Verfahren dieses Nachweises zu beziehen. Für diese
Feststellung verlagert Satz 2 die Darlegungs- und materielle Beweislast nicht
und enthält in Bezug auf das „Ob“ des Bestehens einer langfristigen Verbind-
lichkeit auch keine materiellrechtliche Einschränkung des prozessualen Über-
zeugungsgrundsatzes (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der auch insoweit
vergleichbaren Bestimmung des § 12 Abs. 3 Satz 1 FeststellungsG ist weiterhin
geklärt, dass die Verwaltungsgerichte von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 VwGO)
und im Rahmen freier Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zu entscheiden
haben, ob in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt langfristige Ver-
bindlichkeiten bestanden haben (Beschluss vom 1. Februar 1973 - BVerwG 3 B
30.72 - Buchholz 427.2 § 12 FG Nr. 52). In diesem Zusammenhang können
auch für einen vor dem maßgeblichen liegenden Zeitpunkt positiv festgestellte
langfristige Verbindlichkeiten erheblich sein. Hierzu hat das Bundesverwal-
tungsgericht (ebd.) ausgeführt:
„Sind langfristige Verbindlichkeiten für einen vor der Ver-
treibung liegenden Zeitpunkt festgestellt, ist auf Grund von
Urkunden oder anderen Beweismitteln bewiesen, dass die
Verbindlichkeiten nach den vertraglichen oder sonstigen
Bedingungen in einem bestimmten Zeitraum in bestimm-
ten Raten getilgt werden sollen und ergibt sich aus einer
Berechnung für den Fall vereinbarungsgemäßer Tilgungs-
zahlungen für den Zeitpunkt der Vertreibung noch eine
restliche Verbindlichkeit, so wird das Gericht daraus
ebenso wie die Ausgleichsbehörde den Schluss ziehen
können und müssen, auch bei der Vertreibung hätten
noch langfristige Verbindlichkeiten in der nach dem Til-
gungsplan errechneten Höhe bestanden“.
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Ob hiermit ein divergenzfähiger Rechtssatz formuliert worden ist, von dem das
Verwaltungsgericht abgewichen sein könnte, bedarf mangels einer entspre-
chenden Revisionsrüge ebenso wenig der Entscheidung wie - mangels Verfah-
rensrüge - die Frage, ob das Verwaltungsgericht Anlass gehabt hätte, Inhalt
und Reichweite der aus dem März 1933 stammenden Erklärung näher nachzu-
gehen. Unabhängig davon lässt sich den insoweit maßgeblichen, einzelfallbe-
zogenen tatsächlichen Feststellungen und Würdigungen des Sachverhalts
durch das Verwaltungsgericht zumindest keine ausdrückliche positive Feststel-
lung entnehmen, dass zu diesem Zeitpunkt langfristige Verbindlichkeiten, die
nach festem Tilgungsplan zu bedienen gewesen wären, in bestimmter Höhe
bestanden haben; das Verwaltungsgericht hat ausweislich des Tatbestandes
nicht einmal (positiv) feststellen können, ob die (komplexen) Vereinbarungen
und Erklärungen vom März 1933 im Grundbuch vollzogen worden sind.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfest-
setzung folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Säcker Dr. Brunn Prof. Dr. Berlit
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