Urteil des BVerwG vom 25.09.2007

Schiedsstelle, Vergütung, Emrk, Ermessen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 53.07
OVG 4 LB 306/06
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. September 2007
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt und Dr. Brunn
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2006 wird zu-
rückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist weder hinsichtlich des Zeitraums bis zum 31. Dezember
1998 noch hinsichtlich des Zeitraums ab 1. Januar 1999 begründet.
1. Die Revision kann nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO zugelassen werden. Den von der Beschwerde angeführten
Rechtsfragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
1.1 Bereits durch das Urteil des Senats vom 4. August 2006 - BVerwG 5 C
13.05 - (BVerwGE 126, 295) ist geklärt, dass Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2
BSHG F. 1994 rückwirkend abgeschlossen werden können und auch Schieds-
stellenentscheidungen Festsetzungen rückwirkend bis zum Tag des Antrags-
eingangs bei der Schiedsstelle treffen können. Als Grenze bestimmt § 93 Abs. 4
Satz 3 BSHG F. 1994 lediglich, dass ein jeweils vor den Zeitpunkt des
Antragseingangs bei der Schiedsstelle rückwirkendes Vereinbaren oder Fest-
setzen von Entgelten nicht zulässig ist.
Die Frage,
„ob § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG in den Fassungen 1994 und
1999 die Festsetzung eines Pflegesatzes/einer Vergütung
1
2
3
4
- 3 -
ohne Bestehen einer förmlichen Leistungs- und Prüfungs-
vereinbarung zulässt oder ob nur beim Bestehen förmli-
cher Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen für den ent-
sprechenden Vereinbarungszeitraum die Festsetzung ei-
nes Pflegesatzes/einer Vergütung in Betracht kommt",
bedarf im Streitfall um die Übernahme des höher vereinbarten Heimentgeltes
keiner Klärung, weil es nach derzeitigem Sachstand noch tatsächlich und recht-
lich möglich ist, dass bezogen auf die Vereinbarungszeiträume bis 1998 die
Parteien Vereinbarungen im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1994 über
Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung sowie über die dafür zu entrichtenden
Entgelte abschließen bzw. die Schiedsstelle rückwirkend Festsetzungen zu In-
halt, Umfang und Qualität der Leistungen trifft und bezogen auf die Vereinba-
rungszeiträume ab 1999 die Parteien Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen
im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1999 abschließen. Durch das Urteil
vom 4. August 2006 - a.a.O. - ist zudem der Sache nach geklärt, dass sich
§ 93b Abs. 2 Satz 3 BSHG allein auf die rückwirkende Vereinbarung einer Ver-
gütung bezieht und auch § 93b Abs. 1 Satz 1 BSHG einer rückwirkenden Leis-
tungsvereinbarung nicht entgegensteht (s.a. Senatsbeschluss vom 24. Sep-
tember 2007 - BVerwG 5 B 77.06 -).
Die Frage,
„ob die Festsetzung einer ‚isolierten Vergütung’ ohne
gleichzeitiges Bestehen einer förmlichen Leistungs- und
Prüfungsvereinbarung ausreicht, um für die Vereinba-
rungszeiträume 1995 bis 1998 zur Anwendung der ersten
Alternative von § 93 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbs. BSHG
F 1994 zu kommen und gleichzeitig die 2. Alternative, also
den ‚anderen Fall’, auszuschließen“,
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Denn zum einen ergibt sich
unmittelbar aus § 93 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BSHG F. 1994, dass eine isolierte
Entgeltfestsetzung ohne Vereinbarung über oder Festsetzung zu Inhalt, Umfang
und Qualität der Leistungen nicht ausreicht, weil diese Norm eine Vereinbarung
über bzw. eine vereinbarungsgestaltende Festsetzung zu „Inhalt, Umfang und
Qualität der Leistungen sowie die dafür zu entrichtenden Entgelte“ voraussetzt.
Zum anderen ist aber durch das Urteil des Senats vom 4. August 2006
5
- 4 -
- a.a.O. - auch geklärt, dass bereits vor dem Abschluss einer Vereinbarung mit
dem Antrag auf Abschluss einer Vereinbarung eine Sperrwirkung für eine
Sozialhilfegewährung ohne Bezug zu einer Vereinbarung (sog. „anderer Fall“ im
Sinne von § 93 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BSHG F. 1994) eintritt, die andauert,
solange der angestrebte Abschluss einer Vereinbarung bzw. eine ver-
einbarungsgestaltende Schiedsstellenentscheidung rechtlich und tatsächlich
möglich ist.
Die Frage,
„ob die vom Senat im Urteil vom 04.08.2006 angenom-
mene Sperrwirkung für die Durchsetzung von Ansprüchen
des Hilfeempfängers auf Übernahme der Unterbringungs-
kosten auch dann möglich ist, wenn feststeht, dass es für
bestimmte Vereinbarungszeiträume jedenfalls keine förm-
liche Leistungs- und Prüfungsvereinbarung geben wird“,
bedarf im Streitfall um die Übernahme des höher vereinbarten Heimentgeltes
keiner Klärung, weil es nach derzeitigem Sachstand noch tatsächlich und recht-
lich möglich ist, dass bezogen auf die Vereinbarungszeiträume bis 1998 die
Parteien Vereinbarungen im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1994 über
Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung sowie über die dafür zu entrichtenden
Entgelte abschließen bzw. die Schiedsstelle rückwirkend Festsetzungen zu In-
halt, Umfang und Qualität der Leistungen trifft und bezogen auf die Vereinba-
rungszeiträume ab 1999 die Parteien Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen
im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1999 abschließen.
1.2 Die Fragen,
„ob nach dem 01.01.1999 nur vereinbarte oder festgesetz-
te Vergütungen nach Ablauf des jeweiligen Vereinba-
rungszeitraumes weitergelten, die aufgrund der ab
01.01.1999 in Kraft getretenen Gesetzesfassung festge-
setzt oder vereinbart waren, oder ob § 93b Abs. 2 Satz 4
BSHG F. 1999 auch für Vergütungen anzuwenden ist, die
nach der am 31.12.1998 außer Kraft getretenen Fassung
1994 vereinbart oder festgesetzt worden war“,
„ob ab 01.01.1999 die Fortgeltung von Vergütungsverein-
barungen/-festsetzungen nur auf der Grundlage von § 93b
6
7
- 5 -
Abs. 2 Satz 4 BSHG F. 1999 in Betracht kommt oder auch
noch auf der Grundlage von § 93 Abs. 4 Satz 4 BSHG
F. 1994 möglich ist“,
„ob die Fortgeltungsregelung in § 93 Abs. 4 Satz 4 BSHG
F. 1994 und § 93b Abs. 2 Satz 4 F. 1999 nur für Vergü-
tungen anzuwenden ist oder ob sie auch für das gesamte
‚Vertragssystem’ des § 93 Abs. 2 BSHG F. 1994 und
F. 1999 gilt“,
stellten sich in einem Revisionsverfahren nicht. Denn das Berufungsgericht hat
die Sperrwirkung für eine Sozialhilfegewährung ohne Bezug zu einer Vereinba-
rung tragend nicht auf die Weiter- bzw. Fortgeltung von Entgeltvereinbarungen
oder -festsetzungen aus früheren Vereinbarungszeiträumen, sondern darauf
gestützt, dass der Abschluss von Vereinbarungen bzw. vereinbarungsgestal-
tenden Schiedsstellenfestsetzungen auch in rechtlicher Hinsicht noch möglich
ist (BA S. 13 Abs. 2). Dazu hat es in tatsächlicher Hinsicht von der Beschwerde
nicht angegriffen festgestellt, dass auch für die Zeit ab 1. Januar 1999 weder
das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben bzw. das seit
dem 1. Januar 2005 zuständige Niedersächsische Landesamt für Soziales, Ju-
gend und Familie noch die Klinikum Wahrendorff GmbH rechtswirksam erklärt
haben, vom Abschluss dieser Vereinbarungen endgültig abzusehen, und sie
dementsprechend auch die diesbezüglich beim Berufungsgericht anhängigen
Verfahren weiterbetreiben. Die rechtliche Möglichkeit des Abschlusses der einer
Vergütungsvereinbarung bzw. einer diese gestaltenden Schiedsstellenfest-
setzung vorgelagerten Leistungs- und Prüfungsvereinbarung folgt - wie bereits
oben ausgeführt - daraus, dass ein zurückwirkender Abschluss von Leistungs-
und Prüfungsvereinbarungen rechtlich und tatsächlich möglich und insbesonde-
re nicht durch § 93b BSHG ausgeschlossen ist.
1.3 Die Frage,
„ob die vom Senat im Urteil vom 04.08.2006 angenom-
mene Sperrwirkung von Vertragsverhandlungen für den
streitigen Vereinbarungszeitraum auch dann anzunehmen
ist, wenn für eine Zeit vor dem streitigen Zeitraum mit dem
Zustandekommen der Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2
Satz 1 BSHG zu rechnen ist“,
8
- 6 -
stellte sich vorliegend in einem Revisionsverfahren nicht. Denn wenn die Sperr-
wirkung schon dadurch eintritt, dass es - wie zu einer früheren Frage ausge-
führt - noch tatsächlich und rechtlich möglich ist, dass bezogen auf die Verein-
barungszeiträume bis 1998 die Parteien Vereinbarungen im Sinne des § 93
Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1994 über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung so-
wie über die dafür zu entrichtenden Entgelte abschließen bzw. die Schiedsstelle
rückwirkend Festsetzungen zu Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen trifft
und bezogen auf die Vereinbarungszeiträume ab 1999 die Parteien Leistungs-
und Prüfungsvereinbarungen im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1999
abschließen bzw. die Schiedsstelle rückwirkend Festsetzungen zur Vergütung
trifft, bedarf es keiner Klärung, ob auch, also zusätzlich Sperrwirkung eintritt,
wenn eine Vereinbarung für eine Zeit vor dem streitigen Zeitraum möglich ist.
Die weitere Frage,
„ob die Sperrwirkung nach dem Senatsurteil vom
04.08.2006 auch dann eintritt, wenn für den streitigen
Zeitraum oder einen Zeitraum davor nur mit der Vereinba-
rung/Festsetzung von Pflegesätzen/Vergütungen ohne
Leistungs- und Prüfungsvereinbarung zu rechnen ist“,
ist nicht in einem Revisionsverfahren klärungsbedürftig. Diese Frage fasst nur
die früheren Fragen zum streitigen Vereinbarungszeitraum und einen Zeitraum
davor zusammen und ist bereits mit den Ausführungen dazu beantwortet.
1.4 Auch soweit die Beschwerde Rechtsfragen zur Auslegung des Senatsurteils
vom 4. August 2006 - a.a.O. - durch das Berufungsgericht als von grundsätzli-
cher Bedeutung anführt, kann die Revision nicht wegen grundsätzlicher Bedeu-
tung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden.
Die Frage,
„ob der nach dem BSHG zu deckende Bedarf des Hilfe-
empfängers im Falle seiner Unterbringung daraus ent-
steht, dass er mit dem Einrichtungsträger in Befolgung von
§ 4 Abs. 1 Heimgesetz (a.F.) einen Heimvertrag mit
Regelung eines Heimentgeltes abschließt und damit For-
9
10
11
- 7 -
derungen des Einrichtungsträgers auf Erfüllung ein-
schließlich der Gefahr einer Kündigung des Heimvertrages
ausgesetzt ist“,
lässt sich ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten. Der Bedarf des Hilfe-
empfängers entsteht mit der erforderlichen Unterbringung und dem dafür erfor-
derlichen Heimentgelt; sozialhilferechtlich besteht aber ein Anspruch auf Über-
nahme von Aufwendungen in der streitgegenständlichen Zeit bis Ende 1998 nur
nach Maßgabe der §§ 93 f. BSHG F. 1994 und in der streitgegenständlichen
Zeit ab Anfang 1999 nur nach Maßgabe der §§ 93 ff. BSHG F. 1999 (siehe da-
zu § 5 Abs. 6 HeimG in der vom 1. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2004
geltenden Fassung). Durch das Urteil vom 4. August 2006 - a.a.O. - ist geklärt,
dass auch bei bestehendem Heimvertrag der sozialhilferechtliche Bedarfsde-
ckungsgrundsatz keinen Leistungsanspruch unabhängig von den in §§ 93 ff.
BSHG geregelten Voraussetzungen gewährt und der Hilfeempfänger auch
dann, wenn er die erforderliche Versorgung tatsächlich erhalten hat, nicht in
jedem Fall beanspruchen kann, das hierfür mit dem Einrichtungsträger verein-
barte Entgelt erstattet zu erhalten; insoweit ergibt sich aus der Begrenzung der
Leistungen auf das nach §§ 93 ff. BSHG eröffnete Maß auch, dass gegebenen-
falls lediglich ein Teil des vereinbarten Heimentgeltes zu übernehmen ist. Nach
den von der Beschwerde nicht bestrittenen tatsächlichen Feststellungen des
Berufungsgerichts hat zudem ebenso wie im vorliegenden Fall in keinem der
zahlreichen dem Berufungsgericht bekannten Parallelfälle dem Heimbewohner
die Kündigung im Hinblick darauf konkret gedroht, dass der Sozialhilfeträger
das vom Einrichtungsträger verlangte Heimentgelt nur in Höhe von Abschlags-
zahlungen übernommen und die Übernahme des darüber hinausgehenden
Heimentgeltes vom Ausgang der Verhandlungen zwischen Einrichtungsträger
und (überörtlichem) Sozialhilfeträger abhängig gemacht hat (BA S. 15 Abs. 1).
Die Frage,
„wie lange dem Hilfeempfänger/Bewohner wegen Ver-
tragsverhandlungen zwischen Einrichtungsträger und So-
zialhilfeträger zugemutet werden kann, auf die Durchset-
zung der ihm durch § 39 BSHG gegebenen Ansprüche auf
Übernahme der vollständigen Unterbringungskosten zu
verzichten, wie hoch seine Rückstände auf das verein-
12
- 8 -
barte Heimentgelt gegenüber dem Einrichtungsträger auf-
laufen müssen, bevor die Sperrwirkung von Verhandlun-
gen zwischen Einrichtungsträger und Sozialhilfeträger be-
endet ist“,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Denn mit ihr könnte keine auch für
die Zukunft richtungsweisende Klärung erreicht werden. Denn nach § 5 Abs. 6
HeimG in der ab 1. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fas-
sung müssen in Heimverträgen mit Personen, denen Hilfe in Einrichtungen
nach dem Bundessozialhilfegesetz gewährt wird, Art, Inhalt und Umfang der in
Absatz 3 genannten Leistungen sowie die jeweiligen Entgelte den aufgrund des
Abschnitts 7 des Bundessozialhilfegesetzes getroffenen Vereinbarungen ent-
sprechen und haben Hilfeempfänger dann, wenn Art, Inhalt oder Umfang der
Leistungen oder Entgelte nicht den aufgrund der §§ 93 ff. BSHG getroffenen
Vereinbarungen entsprechen, einen Anspruch auf entsprechende Anpassung
ihres Heimvertrages.
Die Frage,
„ob der vom Senat im Urteil vom 20.10.1994 (aaO, S. 682)
aufgestellte Grundsatz nicht mehr gilt, dass der
Bedarfsdeckungsgrundsatz nicht erfüllt werden kann,
wenn der Sozialhilfeträger die Unterbringungskosten nur
teilweise übernimmt, denn: ‚was der Hilfesuchende aus
sozialhilferechtlicher Sicht benötigt, ist ihm zu gewähren;
muss zur Behebung der Notlage die Hilfe eines bestimm-
ten Dritten in Anspruch genommen werden, so sind die
dadurch entstehenden Kosten im Rahmen der Sozialhilfe
zu übernehmen, wobei die tatsächlich entstehenden, not-
wendigen Kosten maßgeblich sind’“,
bedarf für den Streitfall keiner weiteren revisionsgerichtlichen Klärung. Vielmehr
ist mit dem Senatsurteil vom 4. August 2006 - a.a.O. - geklärt, dass nach
§§ 93 f. BSHG F. 1994 und §§ 93 ff. BSHG F. 1999 bereits vor dem Abschluss
einer Vereinbarung mit dem Antrag auf Abschluss einer Vereinbarung eine
Sperrwirkung für eine Sozialhilfegewährung ohne Bezug zu einer Vereinbarung
eintritt (BVerwGE 126, 295 <299>). Die herangezogenen Grundsätze sind
durch die Änderungen der §§ 93 ff. BSHG überholt.
13
- 9 -
2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels nach § 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
2.1 Zu Unrecht erblickt die Beschwerde einen Verfahrensmangel darin, dass
das Oberverwaltungsgericht über die Berufung gemäß § 130a VwGO entschie-
den hat.
Nach § 130a VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch
Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig
für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Von
weiteren Voraussetzungen ist die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
im vereinfachten Berufungsverfahren nicht abhängig. Die Möglichkeit, nach
§ 130a VwGO zu verfahren, wird dem Berufungsgericht nicht dadurch ge-
nommen, dass das Verwaltungsgericht im Einverständnis mit den Beteiligten
gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (Be-
schlüsse vom 26. Februar 1998 - BVerwG 9 B 169.98 - und vom 9. Juni 1999
- BVerwG 9 B 257.99 -; siehe für den Fall einer erstinstanzlichen Entscheidung
durch Gerichtsbescheid aber Urteil vom 14. März 2002 - BVerwG 1 C 15.01 -
BVerwGE 116, 123). Die Verfahrensbeteiligten sind in angemessener Weise
zur beabsichtigten Art der Entscheidung anzuhören, wobei das Oberverwal-
tungsgericht die Beteiligten regelmäßig nicht im Unklaren über das Ergebnis
des beabsichtigten Beschlusses lassen darf. Das Oberverwaltungsgericht ist
allerdings nicht gehalten, bereits bei der Anhörung gewissermaßen eine Kurz-
fassung der Gründe der beabsichtigten Entscheidung zu leisten (Beschluss
vom 19. Januar 2001 - BVerwG 3 B 113.00 -). Allein der Widerspruch eines
Verfahrensbeteiligten gegen eine beabsichtigte Entscheidung nach § 130a
VwGO macht diese noch nicht fehlerhaft (Beschluss vom 11. Dezember 1997
- BVerwG 2 B 117.97 -). Werden die Voraussetzungen des § 130a VwGO be-
achtet, kann das Berufungsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen über die
Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Bei seiner Ermessensent-
scheidung kann das Gericht unterschiedliche Gesichtspunkte erwägen. Dazu
gehört auch die rechtliche oder tatsächliche Komplexität des Streitfalles (vgl.
Beschlüsse vom 12. März 1999 - BVerwG 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a
VwGO Nr. 35 S. 5 und vom 11. Dezember 2003 - BVerwG 6 B 60.03 - Buchholz
14
15
16
- 10 -
442.066 § 43 TKG Nr. 3); das Berufungsgericht ist bei Ausübung seines Ermes-
sens nach § 130a VwGO verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den
die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) gefunden hat, vorrangig zu beachten (vgl. Urteil vom
16. Dezember 1999 - BVerwG 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <210 ff.>;
Beschlüsse vom 25. September 2003 - BVerwG 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6
EMRK Nr. 9 und vom 4. August 2005 - BVerwG 4 B 42.05 - Buchholz 140 Art. 6
EMRK Nr. 10). Das Ermessen des Oberverwaltungsgerichts, unter den
vorgenannten Voraussetzungen eine Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO
zu treffen, ist nur auf sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung
überprüfbar (Beschluss vom 3. Februar 1999 - BVerwG 4 B 4.99 - Buchholz
310 § 130a VwGO Nr. 33 S. 2 m.w.N.).
Nach diesen Grundsätzen lässt sich kein Verfahrensfehler des Berufungsge-
richts feststellen. Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu der beabsichtigten
Entscheidung durch Beschluss angehört und das Ergebnis des beabsichtigten
Beschlusses durch die Hinweise auf seine - dem Prozessbevollmächtigten des
beschwerdeführenden Beteiligten bekannten - Urteile vom 12. Juli 2006 in den
Verfahren 4 LC 309/02 und 4 LB 312/05 sowie das Urteil des Senats vom
4. August 2006 - BVerwG 5 C 13.05 - klar angekündigt. Selbst wenn das Beru-
fungsgericht mit seiner Gleichsetzung von vorläufigen und endgültigen Verein-
barungen in den Urteilen vom 12. Juli 2006 von dem Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 4. August 2006 - a.a.O. - abgewichen sein sollte, so war die-
se Gleichsetzung für den Ausschluss der Anwendung des § 93 Abs. 3 BSHG in
der Berufungsentscheidung nicht tragend (Beschluss vom 15. Februar 2007
- BVerwG 5 C 121.06 -), so dass der Hinweis auf beide Entscheidungen in der
Anhörung nicht zu der geltend gemachten „Verwirrung“ führen konnte.
Angesichts des entscheidungserheblichen Sach- und Streitstoffes und der hier-
zu ergangenen Entscheidungen des Berufungsgerichts und des Senats hat das
Berufungsgericht durch die Entscheidung im Beschlusswege auch nicht gegen
Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen. Nach der auch von dem Berufungsgericht er-
wogenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welche auf der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 6 EMRK gründet,
17
18
- 11 -
muss in Fällen einer erstinstanzlichen öffentlichen mündlichen Verhandlung (auf
welche die Beteiligten hier verzichtet hatten) nicht stets und unabhängig von der
Art der zu entscheidenden Fragen in der folgenden zweiten Instanz eine weitere
öffentliche mündliche Verhandlung stattfinden. Eine öffentliche mündliche
Verhandlung kann vielmehr entbehrlich sein, wenn die Tatsachen- und die
Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage angemessen entschieden werden
können. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall aufgrund der Vor-
entscheidungen des Berufungsgerichts und nach der Entscheidung des Senats
vom 4. August 2006 - a.a.O. - auch in Ansehung des Vorbringens der Be-
schwerdeführerin, welches dem Berufungsgericht der Sache nach weitgehend
bereits auf die Anhörung zur beabsichtigten Entscheidung nach § 130a VwGO
hin unterbreitet worden war, erfüllt. Die Ausführungen zur Schwierigkeit der
Sach- und Rechtslage greifen der Sache nach die rechtliche Bewertung des
Berufungsgerichts an, dass für die streitbefangenen Zeiträume der Abschluss
der erforderlichen Vereinbarungen rechtlich oder tatsächlich noch möglich ist,
welche im Einklang mit dem Urteil des Senats vom 4. August 2006 - a.a.O. -
steht; insoweit hat sich auch gegenüber diesem Urteil des Senats auch keine
entscheidungserhebliche Veränderung der Sachlage oder ein besonderer, zu-
sätzlicher Sachaufklärungsbedarf ergeben. Er wird auch nicht dadurch indiziert,
dass das Berufungsgericht letztlich offengelassen hat, welche der von ihm auf-
gezeigten Möglichkeiten für die - im Anschluss an den Senat getroffene - Be-
wertung maßgeblich ist, dass der angestrebte Abschluss einer Vereinbarung
bzw. einer vereinbarungsgestaltenden Schiedsstellenentscheidung rechtlich
noch möglich ist. Für das gefundene Ergebnis fortdauernder Sperrwirkung ist
entscheidungserheblich allein der Umstand, dass dies der Fall ist.
Mit Blick auf die durch die Rechtsprechung des Senats bewirkte Klärung der
Rechtslage erweist sich die Entscheidung des Berufungsgerichts für die Durch-
führung eines vereinfachten Berufungsverfahrens auch nicht deswegen als er-
messensfehlerhaft, weil die Rechtssache einen außergewöhnlich hohen
Schwierigkeitsgrad aufwiese (Urteil vom 30. Juni 2004 - BVerwG 6 C 28.03 -
BVerwGE 121, 211). Auch sonst ist nicht aus den Umständen des Einzelfalles
erkennbar, dass durch eine mündliche Verhandlung ein höheres Maß an Si-
cherheit in der Entscheidungsfindung erreichbar gewesen wäre (vgl. Beschluss
19
- 12 -
vom 12. März 1999 - BVerwG 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35
S. 8), weil der tatsächliche Streitstoff bereits durch das Urteil des Verwaltungs-
gerichts aufbereitet war und im Berufungsverfahren auf der genannten Grund-
lage lediglich noch über Rechtsfragen gestritten wurde.
Nicht festzustellen ist schließlich, dass das Berufungsgericht gänzlich verkannt
hätte, dass ihm auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des
§ 130a VwGO ein Ermessen eingeräumt ist, statt aufgrund mündlicher Ver-
handlung durch Beschluss zu entscheiden. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts muss das Berufungsgericht - was es hier zudem
getan hat - weder schon in der Anhörungsmitteilung noch in dem die Berufung
zurückweisenden Beschluss darlegen, dass und warum es die Voraussetzun-
gen für eine Entscheidung nach § 130a VwGO als erfüllt angesehen hat (Be-
schluss vom 16. Dezember 1994 - BVerwG 11 B 182.94 -). Dass die Ermes-
sensbetätigung, nach § 130a VwGO durch Beschluss zu entscheiden, nicht
unter detaillierter Mitteilung der Für und Wider streitenden Gesichtspunkte ge-
sondert begründet worden ist, weist hier auch deswegen nicht auf einen Er-
messensausfall hin oder darauf, dass das Berufungsgericht von seinem Er-
messen fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, weil das Berufungsgericht an dieser
Entscheidung in Ansehung des ausweislich der neuerlichen Anhörungsmittei-
lung vom 28. November 2006 ersichtlich zur Kenntnis genommenen Vorbrin-
gens der Beschwerdeführerin zur ersten Anhörungsmitteilung festgehalten hat.
Aus den Gründen zu 1. ergibt sich, dass der Entscheidung des Berufungsge-
richts auch keine grobe Fehleinschätzung der Rechtslage zugrunde lag.
2.2 Zu Unrecht macht die Beschwerde geltend, der Ergebnisfindung des Beru-
fungsgerichts liege eine verfahrensfehlerhafte Sachverhaltswertung zugrunde.
Dabei verkennt sie, dass das Berufungsgericht die Verpflichtung der Schieds-
stelle, „Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung sowie die dafür zu entrichten-
den Entgelte für die Jahre 1995 bis 1998 erneut festzusetzen“ (BA S. 10
Abs. 1), nicht den Urteilen des Verwaltungsgerichts und den Beschlüssen des
Oberverwaltungsgerichts zu den Aufhebungen der Schiedssprüche für die Jah-
re 1995 bis 1998 entnommen hat, sondern als Folge der rechtskräftigen Aufhe-
bungen (BA S. 10 Abs. 1 letzter Satz: „Daher“) unmittelbar auf das Gesetz
20
21
- 13 -
(BA a.a.O.: „nach § 93 Abs. 3 Satz 2 BSHG Fassung 1994“) gestützt hat. Auch
ist weder von der Beschwerde aufgezeigt noch sonst ersichtlich, dass der Beru-
fungsbeschluss auf dieser Aussage zur Verpflichtung der Schiedsstelle beruhen
kann. Im Übrigen geht das Beschwerdevorbringen von der für die Beurteilung
der Verfahrensrüge unerheblichen, weil von der vom Berufungsgericht nicht
geteilten Rechtsauffassung aus, dass es bereits für die Zeit bis zum
31. Dezember 1998 einer gesonderten, von der Vergütungsvereinbarung zu
trennenden Leistungs- und Prüfungsvereinbarung bedürfte, und dass eine
Schiedsstelle, die für diese Zeiträume (erstmals oder erneut) über eine Vergü-
tungsvereinbarung zu befinden hat, in der Entscheidungsformel verwaltungsge-
richtlicher Entscheidungen dazu verurteilt worden sein muss, neben der Vergü-
tung auch gesonderte Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen festzusetzen.
Diese Rechtsauffassung ist aber, was für die Zeit bis zum 31. Dezember 1998
unmittelbar aus dem Gesetz folgt (s.o. 1.), unzutreffend. Über welche Gegen-
stände und Entscheidungsdimensionen die Schiedsstelle - als Entscheidungs-
gegenstand oder Vorfrage - zu befinden hat, folgt unmittelbar aus § 93 Abs. 3
Satz 2 BSHG (in der für diese Zeiträume anzuwendenden Fassung).
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Hund Schmidt Dr. Brunn
22
23