Urteil des BVerwG vom 28.06.2010

Auskunft, Echtheit, Öffentliche Urkunde, Beweiswert

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 49.09
OVG 2 A 3946/06
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juni 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und Dr. Störmer
beschlossen:
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Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 19. Mai 2009 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit der Verfahrensrüge (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
Erfolg. Deshalb verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im In-
teresse der Verfahrensbeschleunigung unter Aufhebung des angefochtenen
Urteils an das Berufungsgericht zurück.
1. Dem angefochtenen Urteil haftet ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO an. Das Berufungsgericht hat gegen seine richterliche Auf-
klärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verstoßen. Die Beschwerde rügt insoweit zu
Recht, dass das Berufungsgericht es unterlassen hat, von Amts wegen die
Echtheit eines von der Beklagten vorgelegten Schriftstücks - nämlich der mit ei-
nem amtlichen Stempel versehenen Kopie des Antrags (sog. Forma Nr. 1) der
Klägerin auf Ausstellung eines Inlandspasses aus dem Jahr 1990 - etwa durch
die Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes zu klären.
Das Berufungsgericht hat die Frage der Echtheit des vorgelegten Schriftstücks,
aus dessen Inhalt sich ergibt, dass die Klägerin in dem Passantrag von 1990
die russische Nationalität angegeben hat, auf der Grundlage seiner Rechtsauf-
fassung zu der als entscheidungstragend herangezogenen Vorschrift des § 6
Abs. 2 Satz 1 BVFG als für die Klärung des geltend gemachten Anspruchs auf
Erteilung eines Aufnahmebescheids erheblich angesehen (UA S. 8 f., 11 f.).
Dem liegt ersichtlich die zutreffende rechtliche Annahme des Berufungsgerichts
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zugrunde, dass nur derjenige deutscher Volkszugehöriger im Sinne von § 6
Abs. 2 Satz 1 BVFG sein kann, der sich im Aussiedlungsgebiet von seiner - hier
bei der Klägerin im Jahr 1990 vorliegenden - Bekenntnisfähigkeit an aus-
schließlich und durchgängig zum deutschen Volkstum bekennt (vgl. etwa Urteile
vom 3. Mai 2007 - BVerwG 5 C 6.06 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 107 und
vom 13. September 2007 - BVerwG 5 C 25.06 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG
Nr. 110 m.w.N.). Das Berufungsgericht hat deshalb geprüft und Feststellungen
dazu getroffen, ob „die Klägerin nicht nur in ihrem Inlandspass aus dem Jahr
2001, sondern auch in ihren früheren Pässen mit deutscher Nationalität einge-
tragen gewesen ist“ und ob „diese Eintragung nach einer entsprechenden Er-
klärung zur deutschen Nationalität bei der Beantragung des ersten Inlandspas-
ses erfolgt ist“ (UA S. 8 f.). Darauf bezog sich auch der Beweisbeschluss des
Berufungsgerichts vom 29. Januar 2008. Es ist mithin davon ausgegangen,
dass sich die Klägerin nicht - wie nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG erforderlich -
ausschließlich und durchweg zum deutschen Volkstum bekannt hätte, wenn sie
anlässlich der Beantragung ihres ersten Inlandspasses im Jahre 1990 in der
Forma Nr. 1 ihre Nationalität mit russisch angegeben hätte (vgl. Urteil vom
3. Mai 2007 a.a.O.). Dann hätte sich dem Berufungsgericht aber die Klärung, ob
die von der Beklagten vorgelegte Kopie der Forma Nr. 1 aus dem Jahre 1990
echt ist, d.h. die Beglaubigung echt ist und die Kopie eine echte Urkunde
abbildet, - etwa durch die Einholung einer entsprechenden Auskunft des Aus-
wärtigen Amtes - aufdrängen müssen. Die Ausführungen des Berufungsgerichts
dazu, warum es von der Klärung der Echtheit des vorgelegten Schriftstücks
abgesehen hat, tragen nicht.
1.1 Das gilt zunächst, soweit das Berufungsgericht darauf verweist, das Bun-
desamt der Beklagten habe „keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, die die
Echtheit der vorgelegten Urkunden belegen könnten“ (UA S. 11 f.) bzw. es habe
nicht vorgetragen und es sei auch nicht ersichtlich, „dass diese Urkunden die an
eine ausländische Urkunde zu stellenden besonderen Anforderungen eines
Urkundenbeweises erfüllen“ (UA S. 12). Diese Begründung geht - auch vor dem
Hintergrund, dass das Berufungsgericht dies in die Prüfung einbettet, ob die
inhaltliche Richtigkeit der von ihm im Wege eines förmlichen Beweisverfahrens
eingeholten amtlichen Auskunft in Frage gestellt ist - fehl. Damit bürdet das
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Berufungsgericht - unter Ausklammerung seiner Pflicht zur Amtsaufklärung -
der Sache nach der Beklagten die Darlegungs- und Beweisführungslast für den
Echtheitsnachweis auf, ohne dass dies im materiellen oder im Verfahrensrecht
eine Rechtfertigung findet. Vielmehr hat das Tatsachengericht gemäß §§ 173,
98 VwGO in Verbindung mit § 438 Abs. 1 ZPO nach den Umständen des Falles
selbst zu ermessen, ob eine Urkunde, die als von einer ausländischen Behörde
oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person des Auslands
errichtet sich darstellt, (auch) ohne näheren Nachweis als echt anzusehen ist.
Zwar genügt zum Beweis der Echtheit einer solchen Urkunde die Legalisation
durch einen Konsul oder Gesandten des Bundes (§ 438 Abs. 2 ZPO) oder,
soweit - was hier nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Bezug auf
Kirgisistan nicht der Fall ist - in Staatsverträgen eine Legalisation für entbehrlich
erklärt wird, die sog. Apostille (vgl. dazu etwa Beschluss vom 15. Mai 2008
- BVerwG 8 B 17.08 - ZOV 2008, 172). Sind - wie das Berufungsgericht hier
weiter festgestellt hat - die Anforderungen an solche Beglaubigungs- und
Legalisationsformen für ausländische Urkunden (noch) nicht erfüllt, ist damit
aber noch nicht von der Unechtheit der Urkunden auszugehen. Vielmehr hat
das Gericht dann im Wege freier Beweiswürdigung darüber zu entscheiden, ob
die vorgelegte Urkunde echt ist (Beschluss vom 15. Mai 2008 a.a.O.). Dabei
darf es auch berücksichtigen, ob derjenige, von dem die in der Urkunde verkör-
perte Gedankenerklärung ursprünglich herrühren soll - wie hier die Klägerin -
deren Echtheit überhaupt in Abrede stellt bzw. (substantiiert) bestreitet, die in
der Urkunde verkörperte Gedankenerklärung (hier die Angabe der russischen
Nationalität in der Forma Nr. 1 von 1990) abgegeben zu haben. Hat das Gericht
- wie hier offenbar das Berufungsgericht - Zweifel an der Echtheit, so muss es
sich durch weitere Ermittlungen, wie etwa durch Einschaltung der zuständigen
deutschen Auslandsvertretung, die erforderliche Überzeugungsgewissheit in
dem einen oder anderen Sinne verschaffen (vgl. Urteil vom 15. Juli 1986
- BVerwG 9 C 8.86 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 45). Soweit das Berufungs-
gericht darauf abstellt, ob „die von der Rechtsanwältin aufgrund ihrer Tätigkeit
beschafften Urkunden hinsichtlich der Frage ihrer Echtheit denselben Stellen-
wert besitzen wie eine amtliche Auskunft“, vermischt dies Fragen der inhaltli-
chen Richtigkeit der Auskunft des Auswärtigen Amtes und der ihr zugrunde
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liegenden Auskünfte der kirgisischen Stellen mit der Frage der Echtheit der Ur-
kunden.
1.2 Die unterlassene Aufklärung wird auch nicht durch die Ausführungen des
Berufungsgerichts gerechtfertigt, aus der Ablichtung der Forma Nr. 1 aus dem
Jahre 1990 ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die zuvor vom Ge-
richt auf der Grundlage seines Beweisbeschlusses vom 29. Januar 2008 ein-
geholte Auskunft des Auswärtigen Amtes „unter Verstoß gegen die einschlägi-
gen internationalen konsularischen Regeln und Gepflogenheiten erteilt worden“
bzw. dass diese Auskunft „inhaltlich unzutreffend oder unvollständig“ sei (UA
S. 11 f.). Die Erwägungen des Berufungsgerichts zum abgestuften Beweiswert
der eingeholten Beweise bzw. vorgelegten Urkunden unterstreichen, dass - bei
unterstellter Echtheit - die von der Beklagten vorgelegten Dokumente geeignet
gewesen wären, Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der vom Aus-
wärtigen Amt erteilten Auskunft darzutun. Jedenfalls dann, wenn sich nach wei-
terer Aufklärung zur Überzeugung des Berufungsgerichts ergeben sollte, dass
die von der Beklagten vorgelegten ausländischen Urkunden (insbesondere die
Forma Nr. 1 aus dem Jahre 1990) echt sind, hat es auf dieser Tatsachengrund-
lage auch den Beweiswert der von ihm bisher eingeholten amtlichen Auskunft
neu zu bewerten. Amtliche Auskünfte sind zulässige und selbständige Beweis-
mittel, die ohne förmliches Beweisverfahren im Wege des Freibeweises verwer-
tet werden können (§ 99 Abs. 1 Satz 1, § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwGO i.V.m.
§ 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) und die das Gericht frei zu würdigen hat (stRspr, vgl.
Beschluss vom 8. Dezember 1986 - BVerwG 9 B 144.86 - Buchholz 412.3 § 6
BVFG Nr. 48 m.w.N.). Eine Beweisregel, dass eine zuvor eingeholte amtliche
Auskunft nicht durch die Vorlage einer (beglaubigten) Ablichtung einer auslän-
dischen öffentlichen Urkunde (hier der genannten Forma von 1990) in ihrem
Beweiswert erschüttert werden kann, gibt es nicht. Das gilt erst recht, wenn sich
- wie hier - die bisherige amtliche Auskunft nicht (unmittelbar) zum Inhalt der
genannten Urkunde verhält. Ausländischen öffentlichen Urkunden kommt im
Falle ihrer Echtheit dieselbe Beweiskraft (vgl. §§ 415, 418 ZPO) wie deutschen
öffentlichen Urkunden zu (Beschluss vom 15. Juli 1986 a.a.O.; Urteil vom
20. April 1994 - BVerwG 11 C 60.92 - Buchholz 442.16 § 15 StVZO Nr. 4).
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2. Da die Beschwerde schon wegen des Verstoßes gegen § 86 Abs. 1 VwGO
zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache
führt, bedarf es keiner Entscheidung über die weiteren von der Beklagten gel-
tend gemachten Revisionszulassungsgründe. Insoweit wird von einer weiteren
Begründung abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Die
von der Klägerin begehrte Erteilung eines Aufnahmebescheids wird mit 5 000 €
in Ansatz gebracht (vgl. bereits Urteil vom 13. September 2007 a.a.O.;
Beschlüsse vom 7. Februar 2007 - BVerwG 5 B 178.06 - Buchholz 360 § 52
GKG Nr. 4 und vom 28. April 2008 - BVerwG 5 B 31.08 - juris Rn. 3 m.w.N.).
Hund
Prof. Dr. Berlit
Dr. Störmer
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Vertriebenenrecht,
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
BVFG
§ 6 Abs. 2 Satz 1
VwGO
§ 86 Abs. 1, § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 98, § 99 Abs. 1 Satz 1,
§ 173
ZPO
§ 273 Abs. 2 Nr. 2, § 438 Abs. 1 und 2
Stichworte:
Amtliche Auskunft; Amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes; Amtsaufklärung;
Aufklärung; Aufklärungsmangel; Aufklärungspflicht des Gerichts; Aufnahmebe-
scheid; Auskunft, amtliche; ausländische Urkunde; ausländische öffentliche
Urkunde; Beglaubigung; Beglaubigungsformen; Bekenntnis zum deutschen
Volkstum; Bekenntnisfähigkeit; Beweiskraft; Beweismittel; Beweisregel; Be-
weisverfahren, förmliches; Beweiswert; Beweiswürdigung; Deutsche Volkszu-
gehörigkeit; Echtheit von Urkunden; Freibeweis; Forma; Kopie; Legalisation;
Urkunde; Urkundenbeweis.
Leitsätze:
1. Hat das Tatsachengericht anderweitig nicht behobene Zweifel an der (ent-
scheidungserheblichen) Echtheit einer ausländischen öffentlichen Urkunde
(hier: der mit einem amtlichen Stempel versehenen Fotokopie eines sowjeti-
schen Passantrags - sog. Forma Nr. 1), muss sich ihm eine weitere Aufklärung
- etwa durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes - re-
gelmäßig aufdrängen.
2. Eine Beweisregel, dass eine zuvor eingeholte amtliche Auskunft in ihrem
Beweiswert durch die Vorlage einer beglaubigten Ablichtung einer ausländi-
schen öffentlichen Urkunde nicht erschüttert werden kann, gibt es nicht.
Beschluss des 5. Senats vom 28. Juni 2010 - BVerwG 5 B 49.09
I. VG Minden vom 05.09.2006 - Az.: VG 6 K 1339/06 -
II. OVG Münster vom 19.05.2009 - Az.: OVG 2 A 3946/06 -