Urteil des BVerwG vom 29.08.2005

Sprachkurs, Anhörung, Gespräch, Aussiedlung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 47.05
OVG 2 A 3871/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. August 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t und Dr. F r a n k e
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für
das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2005 wird zu-
rückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Behauptung grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde der Klägerin zu 1 gegen die Nicht-
zulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts hat keinen
Erfolg.
1. Der Senat geht entsprechend der ausdrücklichen Benennung nur der
Klägerin zu 1, nicht aber ihrer beiden minderjährigen Kinder, der Kläger zu 3 und 4,
als Beschwerdeführer(in) sowohl in der Beschwerde wie in der Beschwerdebegrün-
dungsschrift sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass im Betreff der Be-
schwerde - "Erteilung eines Aufnahmebescheides" - die von den Klägern zu 3 und 4
erstrebten Einbeziehung nicht angeführt ist, davon aus, dass die Beschwerde nur für
die Klägerin zu 1 eingelegt ist. Daraus entstehen für die Kläger zu 3 und 4 im Ergeb-
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nis keine Nachteile, die dem Senat Anlass zu einer weiteren Klärung durch Rückfra-
ge beim Prozessbevollmächtigten gegeben hätten.
2. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin zu 1 gegen
die Abweisung ihrer auf Erteilung eines Aufnahmebescheids gerichteten Klage im
Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, sie erfülle nicht die Vorausset-
zungen als Spätaussiedlerin nach § 4 Abs. 1 BVFG, weil ihr jedenfalls die nach § 6
Abs. 2 Satz 2 BVFG für eine deutsche Volkszugehörigkeit notwendige familiäre
Vermittlung der deutschen Sprache fehle. Die gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG erfor-
derliche Fähigkeit, im Zeitpunkt der Aussiedlung "aufgrund familiärer Vermittlung"
zumindest ein einfaches Gespräch in Deutsch führen zu können, erfordere die Fest-
stellung, dass während der Kindheit und Jugend im familiären Bereich eine Vermitt-
lung des Deutschen in nicht unerheblichem Umfang stattgefunden habe; ein Auffri-
schen oder Vertiefen der Deutschkenntnisse etwa durch einen Sprachkurs sei dann
unerheblich. Habe aber bis zur Selbständigkeit im familiären Bereich eine Vermittlung
des Deutschen nicht oder jedenfalls nicht in nennenswertem Umfang stattgefunden,
dann beruhten die im Zeitpunkt der Aussiedlung vorhandenen Deutschkenntnisse
ganz überwiegend auf einem fremdsprachlichen Erwerb und könnten nicht
hinreichend auf eine in der Familie erfolgte Sprachvermittlung zurückgeführt werden.
Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin zu 1 selbst dann nicht, wenn
man unterstelle, dass sie im Zeitpunkt der Aussiedlung in der Lage sei, ein einfaches
Gespräch auf Deutsch zu führen, denn diese Deutschkenntnisse seien fremdsprach-
lich erworben und beruhten nicht auf einer familiären Vermittlung. Nach dem von den
Klägern nicht angegriffenen Ergebnis der Anhörung der Klägerin zu 1 im Erörte-
rungstermin vor der Berichterstatterin stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass
die von der Klägerin zu 1 bei Ihrer Anhörung durch das Verwaltungsgericht gezeigten
Kenntnisse ganz überwiegend durch einen Sprachkurs im Jahr 1997 oder 1998,
durch Selbststudium und während des längeren Aufenthalts in Deutschland vor der
Anhörung durch das Verwaltungsgericht erworben worden seien und nicht auf famili-
ärer Vermittlung beruhten. Denn nach ihren Angaben bei ihrer Anhörung vor dem Be-
rufungsgericht wie vor dem Verwaltungsgericht habe sie in ihrer Kindheit nur sehr
wenig Deutsch mit ihrer Großmutter und ihrem Vater gesprochen. Soweit sie Ferien
und Wochenenden bei der Großmutter verbracht habe, welche Russisch verstanden,
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aber schlecht gesprochen habe, habe sie eingeräumt, dass sie der Großmutter auf
Russisch geantwortet und auch in der Zeit, in der sie länger bei ihr gewohnt habe,
ganz überwiegend Russisch gesprochen habe. Andere deutsche Sätze als "Oma, ich
habe Hunger, Oma ich habe Durst." und "Gib mir 50 Kopeken. Ich möchte Eis." seien
ihr auch auf nochmalige Anfrage nicht erinnerlich gewesen. Auch gegenüber ihrem
Vater, der auch Deutsch gesprochen habe, habe sie fast nur die russische Sprache
gebraucht. Bei ihrer Anhörung vor dem Verwaltungsgericht habe sie erklärt, sie habe
im Alter von 16 bis 18 Jahren sehr wenig Deutsch gesprochen und viel weniger
Deutsch gekonnt als heute. Aus den Angaben ergebe sich, dass sie im Alter von
16 bis 18 Jahren zwar auf Deutsch wohl einiges verstanden habe, aber kaum
Deutsch habe sprechen können; sie habe lediglich einzelne Wörter und ganz kurze
Sätze beherrscht, die sich auf Essen und Trinken bezogen. Dieser Wortschatz reiche
für ein einfaches Gespräch im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG offensichtlich nicht
aus.
3. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt nicht die Zulassung der Revi-
sion wegen grundsätzlicher Bedeutung nach §§ 133, 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Soweit die Beschwerde zunächst (S. 1 - 3 der Beschwerdebegründung)
den Feststellungen der Vorinstanz einzelfallbezogen insbesondere unter Hinweis auf
die schwierigen Lebensumstände der Klägerin entgegentritt, ergeben sich daraus
keine Hinweise auf Rechtsfragen von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung.
Die von der Beschwerde als über den Einzelfall hinaus klärungsbedürftig
aufgeworfene Frage,
"wie intensiv die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache in der
Familie gewesen sein muss, um hinreichend im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2
BVFG zu sein",
ist auf der Grundlage des Urteils des Senats vom 4. September 2003
- BVerwG 5 C 33.02 - (BVerwGE 119, 6 ff.; vgl. auch das am gleichen Tage ergan-
genen Urteil im Verfahren - BVerwG 5 C 11.03 - ) ohne weiteres
dahingehend zu beantworten, dass es nicht auf eine bestimmte, in zeitlicher oder
sonstiger Hinsicht quantifizierbare Intensität der familiären Sprachvermittlung an-
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kommt, sondern auf das Resultat, nämlich die Fähigkeit zu einem "einigermaßen
flüssigen Austausch in Rede und Gegenrede" (a.a.O. S. 10). Soweit die Beschwerde
mit der weiteren Frage,
"ob aus ausreichendem Sprachvermögen zum Zeitpunkt der Aus-
siedlung auf eine hinreichende familiäre Vermittlung geschlossen werden kann,
wenn jedenfalls ein erheblicher fremdsprachlicher Erwerb nicht gegeben ist",
den rechtlichen Klärungsbedarf damit begründet, dass andere als fami-
liäre Sprachvermittlungsinstanzen im Falle der Klägerin praktisch auszuschließen
seien, stimmt dies mit den - nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen - Feststellungen
der Vorinstanz nicht überein, wonach die Kenntnisse auf Sprachkursen, Selbst-
studium und dem Deutschland-Aufenthalt der Klägerin beruhen (S. 5 des Urteils).
Auch die "Frage nach der Grenzziehung",
"Wie viel an Sprache muss familiär vermittelt worden sein und wie
viel an Sprache darf unschädlich aufgefrischt oder fremdsprachlich erworben
worden sein",
stellt sich für das vorliegende Verfahren nicht als klärungsbedürftige
Frage von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung, denn jedenfalls hätte die Klägerin nach
den Feststellungen der Vorinstanz die unterstellte Fähigkeit, ein einfaches Gespräch
auf Deutsch zu führen, nicht aufgrund familiärer Vermittlung, sondern später durch
einen Sprachkurs, Selbststudium oder einen längeren Deutschland-Aufenthalt er-
worben. Davon abgesehen beantwortet sich die Frage nach dem genannten Urteil
des Senats vom 4. September 2003 ohne weiteres dahingehend, dass die familiäre
Vermittlung ursächlich für die Gesprächsfähigkeit sein muss.
Die Fragen schließlich
"Wie genau müssen die Feststellungen zu den Erwerbsvorgängen
sein? Reicht es aus, wenn sich jemand vor Durchführung des Sprachtests eini-
ge Tage oder wenige Monate im Bundesgebiet aufgehalten und erklärt hat, er
habe einen Sprachkurs besucht?"
führen ebenfalls nicht auf einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf.
Es versteht sich, dass das Gericht die vorhandenen Erkenntnisquellen mit Blick auf
das Erfordernis einer familiären Sprachvermittlung auszuschöpfen und zu bewerten
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hat; wie genau diese Feststellungen im Einzelfall sein können oder müssen, hängt
von den Erkenntnisquellen ab und entzieht sich genereller Feststellung. Der Um-
stand, dass jemand vor dem Sprachtest seine Deutschkenntnisse durch einen
Deutschlandbesuch oder einen Sprachkurs verbessert hat, ist im Einzelfall von den
Tatsacheninstanzen zu bewerten, wirft aber mit Blick auf den vorliegenden Fall keine
Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwert-
festsetzung auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2, § 72 Nr. 1 GKG in der Fassung des Kos-
tenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl I S. 718).
Dr. Säcker Schmidt Dr. Franke