Urteil des BVerwG vom 15.02.2007

Aufschiebende Wirkung, Sozialhilfe, Schiedsstelle, Unterbringung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 45.06
OVG 6 B 26.03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Februar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt und Dr. Franke
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulas-
sung der Revision in dem Urteil des Oberverwal-
tungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Dezember
2005 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist nicht begründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe
der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO)
und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegen nicht vor.
1. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Beschwerde beigemessene grund-
sätzliche Bedeutung. Die als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Rechts-
fragen
„1.1
Liegen Vergütungsvereinbarungen i.S.d. § 93 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 BSHG (Fassung 1999) zwischen dem Einrich-
tungsträger und dem Träger der Sozialhilfe vor, die eine
Anwendbarkeit der Grundsätze aus dem Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 20.10.1994 (BVerwGE 97,
53) bzw. des § 93 Abs. 3 BSHG (Fassung 1999) aus-
schließen, wenn die Schiedsstelle entsprechend der Ver-
pflichtung in einer einstweiligen Anordnung einen vorläufi-
gen Abschlag auf eine noch zu erwartende Vergütungs-
vereinbarung hin festgesetzt hat und dieser Verpflichtung
auch nachkommt bzw. stehen diese Schiedsstellenent-
scheidungen zur Umsetzung der einstweiligen Anordnung
einer Vergütungsvereinbarung i.S. § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
BSHG (Fassung 1999) gleich?
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1.2
Liegen Vergütungsvereinbarungen i.S.d. § 93 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 BSHG (Fassung 1999) zwischen dem Einrich-
tungsträger und dem Träger der Sozialhilfe vor, die eine
Anwendbarkeit der Grundsätze aus dem Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 20.10.1994 bzw. des § 93
Abs. 3 BSHG (Fassung 1999) ausschließen, wenn der
Einrichtungsträger und der Sozialhilfeträger entsprechend
der Verpflichtung in einer einstweiligen Anordnung einen
vorläufigen Abschlag auf eine noch zu erwartende Vergü-
tungsvereinbarung hin vereinbaren bzw. stehen diese vor-
läufigen Vereinbarungen den Vergütungsvereinbarungen
nach § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BSHG (Fassung 1999)
gleich?
1.3
Gilt die Vorschrift des § 93 b Abs. 2 Satz 4 BSHG (Fas-
sung 1999) auch für vor dem 01.01.1999 ergangene vor-
läufige Festsetzungen der Schiedsstelle aufgrund einst-
weiliger Anordnungen?
1.4
Sind die Grundsätze aus dem Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 20.10.1994 bzw. § 93 Abs. 3 BSHG
(Fassung 1999) anwendbar, wenn der Träger der Einrich-
tung, in der sich der Hilfesuchende befindet, aktuell keine
Vergütungsvereinbarungen nach § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
BSHG (Fassung 1999) besitzt, den Abschluss solcher
Vereinbarungen aber immer noch begehrt?
2.1
Erlangt eine Klage gegen einen Verwaltungsakt aufschie-
bende Wirkung, wenn die aufschiebende Wirkung bei Er-
hebung der Klage gesetzlich ausgeschlossen ist, zu einem
späteren Zeitpunkt während der Anhängigkeit des Verfah-
rens die Regel des § 80 Abs. 1 VwGO jedoch gesetzlich
wiederhergestellt wird?
2.2
Wirkt die aufschiebende Wirkung der Klage für den Fall,
dass sie während des anhängigen Klageverfahrens ge-
setzlich wiederhergestellt wird, auf den Zeitpunkt des Er-
lasses des Verwaltungsaktes zurück mit der Folge, dass
der Klage von Anfang an aufschiebende Wirkung zu-
kommt?
2.3
Haben Klagen gegen Schiedssprüche, die vor Inkrafttreten
des § 93 b BSHG in seiner ab dem 01.01.1999 geltenden
Fassung erhoben worden und nach dem 01.01.1999 noch
anhängig sind, aufschiebende Wirkung?
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2.4
Wirkt die ab dem 01.01.1999 geltende Regelung des
§ 93 b Abs. 1 Satz 3 und 4 BSHG, nach der der Aus-
schluss der aufschiebenden Wirkung von Klagen gegen
Schiedssprüche nicht mehr vorgeschrieben ist, auf die Zeit
vor dem 01.01.1999 zurück mit der Folge, dass Klagen
gegen Schiedssprüche auch für die Zeit bis zum
31.12.1998 aufschiebende Wirkung haben?
2.5
Liegen Vergütungsvereinbarungen i.S.d. § 93 Abs. 2
Satz 1 HS 1 BSHG (Fassung 1994) zwischen dem Einrich-
tungsträger und dem Träger der Sozialhilfe vor, die eine
Anwendbarkeit der Grundsätze des Bundesverwaltungs-
gerichts aus seinem Urteil vom 20.10.1994 (Az.: 5 C
28.91, BVerwGE 97, 53) bzw. die Regelung des § 93
Abs. 3 BSHG (Fassung 1999) ausschließen, wenn die
Schiedsstelle § 94 BSHG Entscheidungen über die Vergü-
tung für die Zeiträume von 1995 bis 1998 getroffen hat,
diese Schiedssprüche jedoch von beiden Vertragsparteien
angefochten worden sind und die Verfahren über diese
Schiedsstellenentscheidungen über den 01.01.1999 hin-
aus noch nicht rechtskräftig beendet sind?
2.6
Gilt die Vorschrift des § 93 b Abs. 2 Satz 4 BSHG (Fas-
sung 1999) auch für Schiedssprüche, die vor dem
01.01.1999 ergangen und mit der Klage angefochten wor-
den sind?
3.1
Schließt die Regelung des § 93 Abs. 3 BSHG (Fassung
1999) die Anwendbarkeit der Grundsätze aus dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.10.1994 auf Fälle
aus, in denen die Übernahme des heimvertraglich verein-
barten Entgelts für die Zeit ab dem 01.01.1999 für die Un-
terbringung in einer Einrichtung begehrt wird, für die keine
Vergütungsvereinbarung vorliegt?
3.2
Für den Fall, dass es am Ort der Unterbringung oder in der
nächsten Umgebung keine Einrichtungen gibt, die ver-
gleichbare Leistungen erbringen und mit denen der Sozi-
alhilfeträger Vereinbarungen abgeschlossen hat: Begrenzt
§ 93 Abs. 3 BSHG (Fassung 1999) den Sozialhilfean-
spruch des Hilfeempfängers in einem solchen Fall mit der
Folge, dass die Unterbringungskosten nicht in der vollen,
tatsächlich anfallenden Höhe übernommen werden?
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4.1
Bindet der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages
zwischen einer natürlichen oder juristischen Person und
einer Behörde auch andere Behörden in gleicher Weise
wie die den Vertrag abschließende Behörde?
4.2
Darf ein Dritter, der nicht Vertragspartner eines öffentlich-
rechtlichen Vertrages ist, dessen eigene Rechte jedoch
durch das Bestehen des öffentlich-rechtlichen Vertrages
begrenzt werden, sich auf die Unwirksamkeit des öffent-
lich-rechtlichen Vertrages berufen, wenn das Berufen auf
die Unwirksamkeit des Vertrages für einen Vertragspartner
treuwidrig wäre?
4.3
Wirkt eine zwischen einem Einrichtungsträger und einem
Träger der Sozialhilfe abgeschlossene Vergütungsverein-
barung auch gegenüber anderen Sozialhilfeträgern ande-
rer Bundesländer?
4.4
Darf sich der Bewohner einer Einrichtung auf die Unwirk-
samkeit einer Vergütungsvereinbarung nach § 93 Abs. 2
BSHG berufen und daraus Rechte für die Höhe seines
Sozialhilfeanspruchs herleiten, wenn es für den Einrich-
tungsträger treuwidrig wäre, sich auf die Unwirksamkeit
der mit dem Sozialhilfeträger geschlossenen Vergütungs-
vereinbarung zu berufen?“
sind nach dem Urteil des Senats vom 4. August 2006 - BVerwG 5 C 13.05 -
juris (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgese-
hen) nicht (mehr) klärungsbedürftig oder stellen sich auf der Grundlage dieses
Urteils nicht (mehr) in entscheidungserheblicher Weise.
Wie der Senat in diesem Urteil näher ausgeführt hat, liegt - auch im Verhältnis
zu ortsfremden Sozialhilfeträgern - ein „anderer Fall“ i.S.d
F. 1994 bzw. ein Fall desF. 1999
nicht vor, solange gemF. 1994 bzw.
F. 1999 eine Vereinbarung bzw. eine sie gestaltende Schiedsstel-
lenentscheidung zwischen einer Einrichtung und dem örtlich zuständigen Träger
der Sozialhilfe tatsächlich und rechtlich möglich ist. Vorläufig festgesetzte oder
vereinbarte Entgelte bzw. Vergütungen stehen zwar den endgültig vereinbarten
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oder festgesetzten Entgelten bzw. Vergütungen nicht gleich. Die Gewährung
von Sozialhilfe ohne Bezug zu einer Vereinbarung ist aber „gesperrt“, solange
der angestrebte Abschluss einer Vereinbarung bzw. eine vereinbarungs-
gestaltende Schiedsstellenentscheidung rechtlich und tatsächlich möglich ist
(Urteil vom 4. August 2006 a.a.O. Rn. 23).
Durch das Urteil des Senats vom 4. August 2006 (a.a.O.) ist - wie bereits das
Berufungsgericht erkannt hat - weiter geklärt, dass die Bemühungen des Ein-
richtungsträgers und des für den Sitz der Einrichtung örtlich zuständigen Sozi-
alhilfeträgers um den Abschluss von Vereinbarungen auch in Bezug auf einen
selbst nicht vertragschließenden Sozialhilfeträger wirken, weil die Abschlusszu-
ständigkeit bei dem Sozialhilfeträger liegt, in dessen Bereich die Einrichtung
gelegen ist; bei dieser Sachlage stellen sich Fragen einer treuwidrigen Berufung
auf die Unwirksamkeit eines Vertrages bereits im Ansatz nicht.
Unter diesen Umständen bedarf ferner keiner weiteren Erörterung, inwieweit die
Erwägungen in dem Beschluss des Senats vom 22. März 2005 - BVerwG 5 B
55.04 - im vorliegenden Fall hätten Geltung beanspruchen können.
Die Revision ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Ab-
weichung von dem Urteil des Senats vom 4. August 2006 (a.a.O.) zuzulassen.
Das Berufungsgericht ist von den in diesem Urteil aufgestellten Rechtssätzen
schon nicht in entscheidungserheblicher Weise abgewichen. Es hat im Einklang
mit der Entscheidung des Senats vom 4. August 2006 (a.a.O.) angenommen,
dass „ein Anspruch auf höhere Leistungen (nicht besteht), solange eine
Entscheidung über die endgültige Vergütung (Tagespflegesatz) (im Verhältnis
Einrichtungsträger und örtlich zuständigem Sozialhilfeträger) aussteht“ (UA
S. 11 Abs. 1), und damit auch entschieden, dass ein Sozialhilfeträger die
zwischen einem Heimbewohner und dem Einrichtungsträger vereinbarten höhe-
ren Tagespflegesätze nicht übernehmen müsse, „solange eine endgültige Ver-
einbarung bzw. der vom Klinikum und … (dem örtlich zuständigen Sozialhilfe-
träger) erstrebte, eine solche Vereinbarung (...) ersetzende Schiedsstellenent-
scheid im Sinne von § 93b Abs. 1 Satz 2 BSHG fehlt“ (UA S. 17 und S. 18) und
eine Einigungsbereitschaft fortbesteht (s.a. UA S. 19 Abs. 2). Insoweit hat das
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Berufungsgericht auch eine „fortbestehende Einigungsbereitschaft“ festgestellt
(UA S. 18). Es hat weiterhin erkannt, dass ein Anspruch auf höhere Leistungen
lediglich derzeit nicht besteht und damit für den Fall der noch ausstehenden
Entscheidung über das endgültig geschuldete Entgelt eine weitere Leistung
noch in Betracht kommt; daraus ergibt sich für den umgekehrten Fall, dass eine
Vereinbarung bzw. eine sie gestaltende Schiedsstellenentscheidung zwischen
einer Einrichtung und dem örtlich zuständigen Träger der Sozialhilfe tatsächlich
und rechtlich nicht mehr möglich ist, dass ein „anderer Fall“ i.S.d. § 93 Abs. 2
Satz 1 Halbs. 2 BSHG (F. 1994) bzw. ein Fall des § 93 Abs. 3 Satz 1 BSHG
(F. 1999) vorliegt, aufgrund dessen eine weitere Leistung in Betracht kommen
kann.
Jedenfalls steht die Ergebnisrichtigkeit des Berufungsurteils der Zulassung der
Revision in entsprechender Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO (stRspr; vgl.
etwa Beschluss vom 17. März 1998 - BVerwG 4 B 25.98 - Buchholz 406.17
Bauordnungsrecht Nr. 66 und vom 22. August 1996 - BVerwG 8 B 100.96 -
Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 62 m.w.N.) entgegen.
2. Die Revision ist schließlich nicht wegen Divergenz zu früheren Entscheidun-
gen des Bundesverwaltungsgerichts (vom 28. Februar 2002 - BVerwG 5 C
25.01 - BVerwGE 116, 78; vom 4. Oktober 1962 - BVerwG 1 C 145.58 -
BVerwGE 15, 48; vom 27. Oktober 1987 - BVerwG 1 C 19.85 - BVerwGE 78,
192) oder des Bundesverfassungsgerichts (vom 31. Mai 1960 - 2 BvL 4/59 -
BVerfGE 11, 139) zuzulassen.
Nach dem Urteil des Senats vom 4. August 2006 (a.a.O.) kommt es nicht darauf
an, ob einer Klage gegen eine Schiedsstellenentscheidung aufschiebende
Wirkung zukommt oder nicht. Die Sperrwirkung für eine endgültige Sozialhilfe-
gewährung ohne Bezug zu einer Vereinbarung tritt unabhängig davon mit der
Aufnahme von Verhandlungen zum Vereinbarungsabschluss ein und dauert an,
solange der angestrebte Abschluss einer Vereinbarung bzw. eine vereinba-
rungsgestaltende Schiedsstellenentscheidung rechtlich und tatsächlich möglich
ist. Es kann daher in entsprechender Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO of-
fenbleiben, ob dem Berufungsurteil, wie der Kläger meint, der Rechtssatz ent-
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nommen werden kann, dass neue „Prozessvorschriften nur eingeschränkt auf
bereits anhängige Streitsachen anwendbar sind, sich insbesondere für eine
prozessuale Rückwirkung neuer Verfahrensvorschriften aus dem Sinn und
Zweck der Neuregelung entnehmen lassen muss, dass der neuen Regelung
rückwirkende Wirkung zukommen soll“, und ob ein solcher Rechtssatz von den
benannten Entscheidungen abweicht. Ebenso kann offenbleiben, ob der aus
der Sicht des Klägers im Berufungsurteil aufgestellte Rechtssatz, „dass eine
Rückwirkung einer während des anhängigen Klageverfahrens entstehenden
aufschiebenden Wirkung einer Klage nur ausnahmsweise erfolgen kann, wenn
der Sinn und Zweck der Norm dies erfordert“, von dem Urteil des Bundesver-
waltungsgerichts vom 27. Oktober 1987 (a.a.O.) abweicht.
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Hund Schmidt Dr. Franke
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