Urteil des BVerwG vom 30.01.2009

Hund, Fürsorgepflicht, Ermessensausübung, Klagebegehren

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 44.08
OVG 2 A 3971/06
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Januar 2009
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und Dr. Störmer
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2008 wird aufgeho-
ben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 13 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit der Verfahrensrüge (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
Erfolg. Mit ihren diesbezüglichen Ausführungen beanstandet sie der Sache
nach die fehlerhafte Auslegung und Anwendung des § 124a Abs. 6 Satz 3,
Abs. 3 Satz 4 VwGO in einer Weise, welche den Anforderungen an die Be-
zeichnung eines Verfahrensmangels noch genügt (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der
Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochte-
nen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
Der gerügte Verfahrensfehler liegt vor. Das Berufungsgericht hat überzogene
Anforderungen an den Inhalt der nach § 124a Abs. 6 VwGO erforderlichen Be-
rufungsbegründung gestellt und hätte deshalb die Berufung nicht als unzulässig
verwerfen dürfen. Nach § 124a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO muss die
Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzufüh-
renden Berufungsgründe enthalten. Welche Mindestanforderungen an die Be-
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rufungsbegründung zu stellen sind, hängt dabei wesentlich von den Umständen
des konkreten Einzelfalls ab. Das gesetzliche Erfordernis der Einreichung eines
Schriftsatzes zur Berufungsbegründung kann grundsätzlich auch eine auf die
erfolgreiche Begründung des Zulassungsantrags verweisende Begründung er-
füllen, wenn damit hinreichend zum Ausdruck gebracht werden kann, dass und
weshalb das erstinstanzliche Urteil weiterhin angefochten wird (vgl. Beschluss
vom 23. September 1999 - BVerwG 9 B 372.99 - Buchholz 310 § 124a VwGO
Nr. 12, Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243
Rn. 10). Unabhängig davon, ob das Oberverwaltungsgericht im Ausgangspunkt
bereits diesen Maßstab verkannt hat, meint es jedenfalls in der Sache zu Un-
recht, dass die Berufungsbegründung der Klägerin vom 1. Oktober 2007 den
gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht werde.
Das gilt zunächst, soweit das Oberverwaltungsgericht anführt, die Berufungs-
begründung der Klägerin sei nicht hinreichend bestimmt, weil sich daraus nicht
mit der gebotenen Eindeutigkeit entnehmen lasse, wer Berufungsführer sein
solle. Dies trifft nicht zu. Zunächst wird nämlich aus der Berufungsbegründung
hinreichend deutlich, dass diese sich in der Sache auf die erfolgreiche Begrün-
dung des Zulassungsantrags bezieht. Aus dieser wiederum, und zwar sowohl
aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 16. Oktober 2006 (Zulassungsantrag) als
auch aus dem Schriftsatz vom 26. Oktober 2006, mit dem der Zulassungsan-
trag begründet wird, geht unzweifelhaft hervor, dass allein die Klägerin das Zu-
lassungsverfahren betrieben hat und daher notwendig auch Berufungsführerin
sein sollte. Denn sowohl im „Rubrum“ als auch im Text dieser Schriftsätze ist
lediglich von der Klägerin als der Antragstellerin die Rede.
Zweifel an der alleinigen Antragstellung der Klägerin hat das Oberverwaltungs-
gericht allenfalls selbst verursacht, indem es - entgegen dem insoweit klaren
Antrag der Klägerin - in seinem Zulassungsbeschluss vom 5. September 2007
auch die früheren Kläger zu 2 bis 5 in das Rubrum aufgenommen hat. Soweit
dies dazu geführt hat, dass auch die Klägerin eingangs ihrer Berufungsbegrün-
dungsschrift vom 1. Oktober 2007 auf „die Kläger“ Bezug genommen hat, kann
ihr dies nicht vorgeworfen werden, sondern hätte allenfalls das Oberverwal-
tungsgericht dazu veranlassen müssen, etwaigen Zweifeln durch eine klärende
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Rückfrage nachzugehen. Dass allein die Klägerin Berufungsführerin war, ging
im Übrigen aus der Berufungsbegründung auch insofern hervor, als diese an-
sonsten nur unter Bezugnahme auf „die Klägerin“ und ihre Rechtsauffassung
verfasst ist. Unabhängig davon folgten aus etwaigen Zweifeln daran, ob auch
die früheren Kläger zu 2 bis 5 Rechtsmittelführer sein sollten, keine durchgrei-
fenden Zweifel daran, dass jedenfalls die Klägerin Rechtsmittelführerin war.
Dem Oberverwaltungsgericht kann auch nicht gefolgt werden, soweit es der
Klägerin vorwirft, ihre Berufungsbegründungsschrift vom 1. Oktober 2007 habe
nicht mit der gebotenen Klarheit erkennen lassen, in welchem Umfang das Ur-
teil des Verwaltungsgerichts im Berufungsverfahren zur Überprüfung gestellt
werden sollte. Vielmehr hätte das Oberverwaltungsgericht, das von Amts we-
gen das Klagebegehren im Sinne des wahren Rechtsschutzziels zu ermitteln
hat (vgl. § 88 VwGO), aus der Berufungsbegründung und der damit in Bezug
genommenen erfolgreichen Begründung des Zulassungsantrags wie auch vor
dem Hintergrund seines Zulassungsbeschlusses das Klageziel der Klägerin
dahin bestimmen können und müssen, dass diese im Berufungsverfahren je-
denfalls die Verurteilung der Beklagten zur erneuten (Ermessens-)Entscheidung
über das Wiederaufgreifen des Verfahrens erstrebte. Die Klägerin hat nämlich
bereits in der Begründung des Zulassungsantrags einen entsprechenden
Ermessensausfall der Beklagten moniert. Das Oberverwaltungsgericht hat auf
dieses Vorbringen mit Beschluss vom 5. September 2007 die Berufung gemäß
§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen und zur Begründung angeführt, es
bestünden ernstliche Zweifel an der Feststellung des Verwaltungsgerichts, die
Entscheidung der Beklagten, das Verfahren nicht nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48
oder § 49 VwVfG wiederaufzugreifen, lasse keinen Ermessensfehler erkennen.
Wenn sich dann die Berufungsbegründungsschrift der Klägerin vom 1. Oktober
2007 - wie auch das Oberverwaltungsgericht einräumt - im Wesentlichen auf
Angriffe zur mangelnden Ermessensausübung in der Entscheidung der Beklag-
ten, das Verfahren nicht wiederaufzugreifen, beschränkt, durfte das Oberver-
waltungsgericht an dem hierauf bezogenen Rechtsmittelbegehren der Klägerin
keine durchgreifenden Zweifel hegen. Andernfalls hätte es, seiner prozessualen
Fürsorgepflicht Rechnung tragend, derartige Zweifel innerhalb der bei Eingang
der Berufungsbegründung noch laufenden Begründungsfrist aufklären müssen.
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Stattdessen hat es in einem Anhörungsschreiben gemäß § 130a VwGO vom
9. Oktober 2007 die Position der Klägerin noch bekräftigt, indem es darauf hin-
gewiesen hat, dass es die Berufung im Hinblick auf den Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens
nach allgemeinen Grundsätzen (§ 51 Abs. 5 VwVfG) einstimmig für begründet
halte.
Da die Beschwerde schon wegen des Verstoßes gegen § 124a Abs. 3 Satz 4
VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverwei-
sung der Sache führt, bedarf es keiner Entscheidung über die weiteren von der
Klägerin geltend gemachten Revisionszulassungsgründe. Insoweit wird von
einer weiteren Begründung abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG. Die von der
Klägerin begehrte Erteilung eines Aufnahmebescheides wird mit 5 000 € und
die begehrte Einbeziehung in diesen Aufnahmebescheid mit 2 000 € je einzu-
beziehender Person in Ansatz gebracht (vgl. bereits Urteil vom 13. September
2007 - BVerwG 5 C 25.06 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 110, Beschlüsse vom
7. Februar 2007 - BVerwG 5 B 178.06 - Buchholz 360 § 52 GKG Nr. 4 und vom
28. April 2008 - BVerwG 5 B 31.08 - juris Rn. 3 m.w.N.).
Hund Prof. Dr. Berlit Dr. Störmer
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