Urteil des BVerwG vom 24.05.2012

Bvo, Verfügung, Verfahrensmangel, Rüge

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 4.12
VGH 2 S 1082/11
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Mai 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 28. September 2011 wird zu-
rückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 1 051,22 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Die auf die Zulassungsgründe eines Verfahrensmangels (a) und der grund-
sätzlichen Bedeutung der Rechtssache (b) gestützte Beschwerde hat keinen
Erfolg.
a) Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen. Nach
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrens-
mangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen
kann. Die von dem Beklagten erhobenen Verfahrenrügen verhelfen der Be-
schwerde nicht zum Erfolg.
aa) Der geltend gemachte Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtli-
chen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) liegt nicht vor.
Der Beklagte bezieht sich insoweit auf die von ihm als Annahme einer „fehlen-
den Wahlmöglichkeit“ bezeichnete Erwägung des Verwaltungsgerichtshofs (UA
S. 12), es sei lebensfremd anzunehmen, der Beihilfeberechtigte könne im Ver-
handlungswege gegenüber der Einrichtung, in die er sich zur Behandlung be-
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geben wolle, durchsetzen, dass in Abweichung von der von der Einrichtung
vorgesehenen Vertragsgestaltung neben dem Tagessatz nicht noch weitere
Leistungen mit der Folge berechnet würden, dass der nach § 7 Abs. 7 Satz 4
der Verordnung des Finanz- und Wirtschaftsministeriums über die Gewährung
von Beihilfe in Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen (Beihilfeverord-
nung - BVO BW) vom 28. Juli 1995 (GBl S. 561) beihilfefähige Betrag nicht
überschritten werde (UA S. 12). Er ist der Auffassung, die Vorinstanz habe des-
halb gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen, weil
die Frage der Möglichkeit der Durchsetzung einer anderen Vertragsgestaltung
weder im erst- noch im zweitinstanzlichen Verfahren erörtert worden sei, so-
dass er keine Möglichkeit gehabt habe, die Annahme des Verwaltungsgerichts-
hofs zu widerlegen. Damit beanstandet der Beklagte, die angegriffene Ent-
scheidung erweise sich als Überraschungsurteil. Dies ist nicht der Fall.
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Aus-
führung der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu
ziehen. Die Beteiligten müssen demgemäß auch Gelegenheit erhalten, sich zu
allen entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen sachgemäß,
zweckentsprechend und erschöpfend erklären zu können. Hier war der Beklag-
te nicht gehindert, während des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens auch
zu der hier in Rede stehenden Frage vorzutragen. Der Verwaltungsgerichtshof
war nicht verpflichtet, den Beklagten vorab darauf hinzuweisen, dass er in sei-
nem Urteil die von dem Beklagten beanstandete Auffassung vertreten werde.
Die Hinweispflicht des Gerichts nach § 86 Abs. 3 VwGO konkretisiert den An-
spruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbe-
sondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (vgl. Urteil
vom 11. November 1970 - BVerwG 6 C 49.68 - BVerwGE 36, 264 <266 f.> und
Beschluss vom 10. Mai 2011 - BVerwG 8 B 87.10 - juris Rn. 5 m.w.N.). Nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgt aus dem An-
spruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch in der Ausprägung, den er in
§ 86 Abs. 3 VwGO gefunden hat, keine Pflicht des Gerichts zur umfassenden
Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte. Das Tatsachenge-
richt ist nicht verpflichtet, die Beteiligten schon in der mündlichen Verhandlung
auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstof-
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fes hinzuweisen und offenzulegen, wie es seine Entscheidung im Einzelnen zu
begründen beabsichtigt. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt
sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (vgl. z.B. Be-
schluss vom 27. November 2008 - BVerwG 5 B 54.08 - Buchholz 310 § 86
Abs. 3 VwGO Nr. 60 Rn. 8 m.w.N.). Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn
das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt oder
auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellen will, mit dem auch
ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Pro-
zessverlauf nicht zu rechnen braucht (stRspr, vgl. z.B. Beschluss vom
27. November 2008 a.a.O. Rn. 8; BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 1992
- 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144> und vom 7. Oktober 2003 - 1 BvR
10/99 - BVerfGE 108, 341 <345 f.>). Das war hier nicht der Fall. Bereits im erst-
instanzlichen Urteil wurde - wenn auch nicht entscheidungstragend - die Frage
erörtert, ob es dem Beihilfeberechtigten möglich ist, mit der Einrichtung eine
Preisvereinbarung zu treffen, die der zwischen dieser Einrichtung und dem
Sozialversicherungsträger getroffenen Vereinbarung im Sinne von § 7 Abs. 7
Satz 4 BVO BW entspricht (UA S. 8). Es lag deshalb nicht fern, dass diese Fra-
ge auch im Berufungsverfahren Bedeutung erlangt.
bb) Auch die Rüge der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach
§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO lässt die Zulassung der Revision nicht zu.
Nach Ansicht des Beklagten hat das Berufungsgericht seine Pflicht zur Aufklä-
rung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es sich im Zusammenhang mit
der Annahme, es sei lebensfremd, dass der Beihilfeberechtigte im Verhand-
lungswege eine ihm günstige Preisgestaltung erzielen könne, einer eigenen
Sachkunde berühmt habe, die es offensichtlich nicht besitze. Diese Rüge ist
nicht in einer dem Substantiierungsgebot des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genü-
genden Weise begründet.
Es steht im tatrichterlichen Ermessen des Berufungsgerichts darüber zu befin-
den, ob es zur Entscheidung des Rechtsstreits die Hilfe eines Sachverständi-
gen benötigt. Die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens kann nur
dann als verfahrensfehlerhaft beanstandet werden, wenn das Gericht für sich
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eine ihm unmöglich zur Verfügung stehende Sachkunde in Anspruch nimmt
oder wenn es sich in einer Frage für sachkundig hält, in der seine Sachkunde
ernstlich zweifelhaft ist, ohne dass es für die Beteiligten und für das zur Nach-
prüfung berufene Revisionsgericht überzeugend darlegt, dass ihm das erforder-
liche Fachwissen in genügendem Maße zur Verfügung steht (stRspr, vgl. z.B.
Beschlüsse vom 14. September 1992 - BVerwG 7 B 130.92 - Buchholz 406.401
§ 31 BNatSchG Nr. 2 = NVwZ 1993, 583 und vom 24. November 1997
- BVerwG 1 B 224.97 - juris Rn. 6, jeweils m.w.N.). Die Beschwerde legt nicht
substantiiert dar, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.
Die von ihr beanstandete Annahme stellt (auch) eine Tatsachenfeststellung dar.
Der Verwaltungsgerichtshof leitet sie aus mehreren Indizien ab. Aus seiner
Sicht spricht gegen das Bestehen einer relevanten Verhandlungsmacht des
Beihilfeberechtigten, dass es selbst dem Land nicht gelungen sei, entsprechen-
de Vereinbarungen mit den Verbänden der betroffenen Einrichtungen abzu-
schließen. Es sei deshalb nicht ersichtlich, weshalb dies dem einzelnen Beihil-
feberechtigten gelingen könne. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass es für
einzelne Rehabilitationsmaßnahmen oft nur wenige in Betracht kommende spe-
zialisierte Einrichtungen gebe und sich der Betroffene in einer Notlage befinde,
die seine Verhandlungsposition weiter schwäche. Schließlich sei dem Beihilfe-
berechtigten oftmals nicht einmal bewusst, dass er erhebliche Aufwendungen
selbst tragen müsse. Die von dem Verwaltungsgerichtshof angeführten Indizien
sind geeignet, den aus ihnen gezogenen Schluss zu tragen. Deshalb wäre der
Beklagte gehalten gewesen, sich mit den vom Verwaltungsgerichtshof ange-
führten Hilfstatsachen substantiiert auseinanderzusetzen. Er beschränkt sich
hingegen darauf, die Richtigkeit des aus ihnen gezogenen Schlusses in Frage
zu stellen. Damit ist aber ein Verfahrensmangel wegen einer eigenständigen
Feststellung des Gerichts trotz fehlender oder jedenfalls zweifelhafter Sachkun-
de nicht ausreichend dargetan.
b) Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssa-
che nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
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Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für
die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts
aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisions-
gerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO verlangt die Bezeichnung einer konkreten Rechtsfrage, die für die
Revisionsentscheidung erheblich sein wird, und einen Hinweis auf den Grund,
der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll. Die Be-
schwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung
zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergrei-
fenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (vgl. Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 26 S. 15). Das Begründungserfordernis gebietet auch, dass sich die Be-
schwerde substantiiert mit den die angebliche Frage von grundsätzlicher Be-
deutung betreffenden Erwägungen in der angefochtenen Entscheidung ausei-
nandersetzt (vgl. Beschluss vom 11. November 2011 - BVerwG 5 B 45.11 - juris
Rn. 3). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Beklagte möchte die Frage geklärt wissen:
„Verstößt die Regelung des § 7 Abs. 7 S. 4 BVO, nach der
die Höhe der beihilfefähigen Leistungen einer Heilbehand-
lung auf den für Sozialversicherte vereinbarten Pauschal-
tagessatz begrenzt wird, gegen Art. 33 Abs. 5 GG i.V.m.
Art. 3 Abs. 1 GG und die hierzu entwickelten höchstrich-
terlichen Rechtssätze der alimentations- bzw. beamten-
rechtlichen Fürsorgepflicht, sowie den im Beihilferecht an-
gelegten Grundsatz der Sachgesetzlichkeit?“
Diese Frage bezieht sich (auch) auf den vom Verwaltungsgerichtshof ange-
nommenen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG).
In dem angefochtenen Urteil wird die Gleichheitswidrigkeit insbesondere damit
begründet, es sei lebensfremd anzunehmen, der Beihilfeberechtigte besitze die
Möglichkeit, im Verhandlungswege mit der Einrichtung eine bestimmte Preis-
gestaltung durchzusetzen. Von dieser Feststellung wäre in einem Revisionsver-
fahren wegen § 137 Abs. 2 VwGO auszugehen, weil sie - wie aufgezeigt - nicht
mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen ist. Die
Grundsatzrüge genügte deshalb nur dann dem Substantiierungsgebot, wenn
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der Beklagte (vorsorglich) dargelegt hätte, dass auch bei Nichtbestehen einer
relevanten Verhandlungsmacht des Beihilfeberechtigten eine Verletzung des
Art. 3 Abs. 1GG nicht zu besorgen wäre. An einer solchen Darlegung fehlt es.
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.
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