Urteil des BVerwG vom 29.01.2010

Rechtliches Gehör, Faires Verfahren, Trustee, Beratung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 37.09
VG 7 K 903/07
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Januar 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen
beschlossen:
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 24. März
2009 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 25 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Er-
folg. Sie rügt im Ergebnis zu Recht, dass das Verwaltungsgericht den Anspruch
des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO)
verletzt hat und die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann. Der Se-
nat macht wegen dieses Verfahrensfehlers von der Möglichkeit Gebrauch, den
Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Verwaltungsgericht zurückzu-
verweisen.
1. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbietet, dass ein Beteiligter durch
die angegriffene Entscheidung im Rechtssinne überrascht wird. Eine gerichtli-
che Entscheidung stellt sich auch dann als unzulässige Überraschungsent-
scheidung dar, wenn ein Gericht in einem aufgrund einer mündlichen Verhand-
lung ergangenen gerichtlichen Vergleichsvorschlag (vgl. § 106 Satz 2 VwGO)
auf seine (vorläufige) Rechtsauffassung und/oder auf die beabsichtigte Würdi-
gung des Prozessstoffs hinweist, aber in dem nach Nichtannahme des Ver-
gleichsvorschlags - durch eine andere Kammer - erlassenen Urteil einen ge-
genteiligen Rechtsstandpunkt einnimmt und/oder den Prozessstoff abweichend
würdigt, ohne die Beteiligten vorab darauf hinzuweisen, dass es möglicherweise
anders entscheiden werde und ihnen damit Gelegenheit zu weiterem Vortrag
und gegebenenfalls Beweisanträgen zu geben (vgl. Beschluss vom 4. April
2008 - BVerwG 8 B 108.07 - ZOV 208, 112; s. auch BVerfG, NJW 1996, 3202).
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Zwar sind die im Zuge der Erörterung des Sach- und Streitstandes in einer
mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsansichten grundsätzlich unverbind-
lich. Auch ist ein Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet, die Beteiligten vorab
auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozess-
stoffs hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regel-
mäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr, siehe etwa
Beschluss vom 7. Januar 2010 - BVerwG 5 B 67.09 - juris Rn. 15 m.w.N.). Teilt
ein Gericht aber - wie hier - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung
und förmlichen Beratung den Beteiligten seine (vorläufige) Rechtsauffassung zu
einer entscheidungserheblichen Frage schriftlich mit und knüpft hieran einen
Vorschlag zur sachgerechten Lösung und prozessualen Behandlung des Falles,
erweckt es einen bestimmten Eindruck. Um dem Rechtsstreit keine Wendung
zu geben, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens
bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt nicht zu rechnen
brauchten, muss es in diesem Fall die Beteiligten vor einer gegenteiligen Ent-
scheidung davon unterrichten, dass es möglicherweise an der geäußerten
Rechtsauffassung und/oder Sachverhaltswürdigung nicht festhalten wird. An-
dernfalls erweisen sich die im Rahmen des schriftlichen Vergleichsvorschlags
unterbreiteten Hinweise als irreführend und kommen der Verhinderung eines
Vortrages zur Sach- und Rechtslage gleich.
Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluss aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 15. Oktober 2008 darauf hingewiesen, „es spricht einiges
dafür, dass die Rechtsprechung zu den Befugnissen eines Testamentsvollstre-
ckers bei der Anmeldung von Ansprüchen nach dem Vermögensgesetz bzw.
dem Ausgleichsleistungsgesetz auf den Kläger in seiner Funktion als execu-
tor/trustee entsprechend anzuwenden sein könnte“ (BA S. 8). Nach dieser
Rechtsprechung (Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG 7 C 63.02 - Buchholz 428
§ 30a VermG Nr. 27) unterliege der vermögensrechtliche Anspruch auf Rück-
übertragung der Verwaltung durch den Testamentsvollstrecker auch dann,
wenn der Geschädigte vor dem In-Kraft-Treten des Vermögensgesetzes ver-
storben sei und demzufolge der Anspruch auf Rückübertragung nach den erb-
rechtlichen Regeln weder bei gesetzlicher noch bei testamentarischer Erbfolge
dem Nachlass angehöre, sondern erstmals in der Person des Rechtsnachfol-
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gers des Geschädigten entstehe. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht
darauf hingewiesen, „nach der wohl entsprechend heranzuziehenden Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Antragstellung bei Miterben
(Beschluss vom 30. November 2000 - BVerwG 8 B 206.00 - [Buchholz 428
§ 30a VermG Nr. 22, ergänzt]) dürfte die Klarstellung, dass die Leistung an den
Kläger in seiner Funktion als trustee erfolgen soll, bis zum Schluss der mündli-
chen Verhandlung erforderlich aber auch ausreichend sein“ (BA S. 8). In die-
sem Zusammenhang hat es ferner festgehalten, dass „der Kläger […] im Ter-
min zur mündlichen Verhandlung zudem klar gestellt [hat], dass ein etwa zu
stellender Klageantrag allein für den Kläger als trustee gestellt werden würde“
(BA S. 7). Schließlich hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass es
für es - das Gericht - nicht ohne Weiteres ersichtlich sei, ob der Kläger nach
kalifornischem Recht als executor/trustee auch noch angesehen werden könne,
nachdem die Erben nach Frau K. V. jeweils das 25. Lebensjahr bereits erreicht
hätten und zur Beantwortung dieser Frage, die Einholung eines weiteren
Rechtsgutachtens in Betracht komme (BA S. 8).
In seinem Urteil vom 24. März 2009 hat das Verwaltungsgericht - nach Ände-
rung der Geschäftsverteilung durch eine andere Kammer - zu allen vorstehen-
den Punkten eine gegenteilige Rechtsauffassung vertreten. Es hat sich der
Rechtsprechung der Zivilgerichte (zitiert werden: OLG Brandenburg, Beschluss
vom 2. April 2001 - 8 Wx 165/00 - juris, vgl. auch die gegenüber dem Kläger
ergangene Hinweisverfügung des OLG Dresden vom 5. März 2007 - 3 W
0171/07 -) angeschlossen, wonach aus dem Umstand, dass der vermögens-
rechtliche Anspruch originär in der Person des Erben entstehe, folge, dass der
Erbe insoweit den Beschränkungen einer testamentarisch angeordneten Tes-
tamentsvollstreckung nicht unterliege (UA S. 11). Ferner hat es die Auffassung
vertreten, dass eine wirksame fristgerechte Anmeldung etwaiger Rechte nach
dem Ausgleichsleistungsgesetz nicht vorliege, weil der Kläger innerhalb der
Antragsfrist nicht zu erkennen gegeben habe, dass er als Testamentsvollstre-
cker handele (UA S. 9 f.), ohne sich - wie noch im Beschluss vom 15. Oktober
2008 - mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Antragstel-
lung bei Miterben auseinanderzusetzen. Schließlich hat das Gericht ohne Ein-
holung eines weiteren Rechtsgutachtens festgestellt, dass der Kläger im Zeit-
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punkt der Anmeldung nicht mehr als Testamentsvollstrecker anzusehen sei, da
die Testamentsvollstreckung bis zum Erreichen des 25. Lebensjahres befristet
gewesen sei (UA S. 10 f.).
Unter Berücksichtigung dieser Umstände stellt sich das angefochtene Urteil als
eine gegen das rechtliche Gehör verstoßende Überraschungsentscheidung dar.
Mit seiner Verfahrensgestaltung verletzt das Verwaltungsgericht zugleich den
Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaats-
prinzip). Es ist nicht auszuschließen, dass ein Hinweis auf den Wechsel der
tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung infolge des dem Kläger möglichen
ergänzenden Vortrags zur Sach- und Rechtslage nach kalifornischem Recht zu
einer anderen Entscheidung - gegebenenfalls nach Einholung eines weiteren
Rechtsgutachtens zur Stellung des Klägers als executor bzw. trustee nach Er-
reichung des 25. Lebensjahres der Erben sowie des Handelns in eigenem oder
fremden Namen - geführt hätte.
Das Berufungsurteil beruht insoweit auf einer Verletzung von Bundesrecht
(§ 138 Nr. 3 VwGO).
2. Auf die darüber hinaus erhobenen Verfahrensrügen kommt es demnach nicht
an. Der Senat weist allerdings daraufhin, dass unter den gegebenen Umstän-
den eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO)
wohl nicht hätte ergehen dürfen, ohne eine erneute Einverständniserklärung der
Beteiligten einzuholen (vgl. Beschlüsse vom 29. Dezember 1995 - BVerwG 9 B
199.95 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 21 und vom 25. Februar 1980
- BVerwG 7 B 27.80 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 10).
3. Die geltend gemachte Divergenz müsste hingegen allerdings bereits daran
scheitern, dass die insoweit in Bezug genommenen Entscheidungen des Bun-
desverwaltungsgerichts (Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG 7 C 63.02 - a.a.O.
und Beschluss vom 30. November 2000 - BVerwG 8 B 206.00 - a.a.O.) nicht zu
einem executor bzw. trustee nach kalifornischem Recht ergangen sind, auch
wenn ihre entsprechende Anwendung unter Berücksichtigung der Besonderhei-
ten des ausländischen Rechts naheliegen dürfte.
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4. Die Entscheidung zur Streitwertbemessung ergibt sich aus § 47 Abs. 1
Satz 1, Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Hund Prof. Dr. Berlit Stengelhofen
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