Urteil des BVerwG vom 18.06.2009

Rehabilitation, Behinderung, Hund, Heilmittel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 36.09
VGH 12 B 06.2837
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Juni 2009
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 24. März 2009 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Revision ist nicht wegen der geltend
gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
1. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist schon nicht in einer den
Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargelegt
worden.
1.1 Der Beklagte macht geltend, dass das Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 24. März 2009 vom Urteil des Bundessozialgerichts vom
3. September 2003 (B 1 KR 34/01 R - SozR 4-2500 § 18 Nr. 1) abweiche und
auf dieser Abweichung beruhe. Er verweist zutreffend darauf, dass das Bun-
dessozialgericht nicht in der Aufzählung des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannt
ist, so dass die Divergenzrüge verschlossen und daher auf die Grundsatzrüge
zurückzugreifen ist (s.a. Beschluss vom 22. Juni 1984 - BVerwG 8 B 121.83 -
Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 225). Der Grundsatz, dass die Abweichung des
angefochtenen Urteils von einer Entscheidung eines (anderen) obersten Bun-
desgerichts in der Regel die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache rechtfertigt, greift jedoch nicht, wenn eine solche
Abweichung tatsächlich nicht besteht. So liegt es hier.
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1.2 Die Abweichung sieht der Beklagte darin begründet, dass nach dem heran-
gezogenen Urteil des Bundessozialgerichts (a.a.O.) der Nachranggrundsatz
des Sozialhilferechts (§ 2 BSHG, § 2 SGB XII) und die daran anknüpfende vor-
rangige Zuständigkeit der Krankenkassen im Rehabilitationsrecht es erforder-
ten, dass eine Therapie anhand der Vorgaben der §§ 11 Abs. 2, 27 SGB V ge-
prüft werde, um den medizinischen bzw. heilpädagogischen Charakter der
Maßnahme festzustellen; dabei seien auch bei Maßnahmen für noch nicht ein-
geschulte Kinder die Zielsetzung der Maßnahme und deren unmittelbarer
Krankheitsbezug ausschlaggebend und eine Einordnung anhand äußerer
Merkmale nicht genügend. Das Bundessozialgericht gehe von einer vorrangi-
gen Zuständigkeit der Krankenkassen im Recht der Eingliederungshilfe aus und
genüge damit dem im Sozialhilferecht geltenden Nachranggrundsatz.
Demgegenüber bestehe nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts-
hofs bei noch nicht eingeschulten Kindern für den Sozialhilfeträger eine Auf-
fangzuständigkeit. Als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gälten heil-
pädagogische Leistungen nur, soweit sie unter ärztlicher Verantwortung er-
bracht würden (§ 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) und erforderlich seien, um einen indi-
viduellen Förder- und Behandlungsplan aufzustellen (§ 7 FrühV) sowie u.a.
heilpädagogische Leistungen durch interdisziplinäre Frühförderstellen im Sinne
von § 3 FrühV. Dabei sei entsprechend der Definition in § 6 FrühV eine Auf-
fangzuständigkeit des Sozialhilfeträgers festgelegt, so dass es nicht einer Ein-
ordnung der Therapie anhand der Merkmale der §§ 11 Abs. 2, 27 SGB V be-
dürfe. Der Verwaltungsgerichtshof stelle den Nachranggrundsatz hintan, da
§ 30 SGB IX hier als vorrangig zu werten sei.
1.3 Diese Gegenüberstellung genügt nicht den Anforderungen an die Darlegung
der grundsätzlichen Bedeutung in Form einer die Revision gem. § 132 Abs. 2
Nr. 2 VwGO eröffnenden Divergenz (dazu siehe Beschluss vom 19. August
1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Hierfür muss die Beschwerde
einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden
abstrakten Rechtssatz benennen, mit dem die Vorinstanz einem ebensolchen
Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Es
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muss sich um „Rechtssätze“ handeln, die von dem jeweiligen Gericht auch
tatsächlich aufgestellt worden sind. Dies ist hier nicht der Fall. Die Gegenüber-
stellung erschöpft sich in wertenden Interpretationen und in der Zusammenfas-
sung von Ausführungen der jeweiligen Gerichte, die teils aus ihrem für das Ver-
ständnis erforderlichen Kontext herausgelöst werden, ohne einander wider-
sprechende Rechtssätze herauszuarbeiten. Ein rechtsgrundsätzlicher Wider-
spruch liegt auch nicht vor.
Namentlich ist das Bundessozialgericht nicht allgemein von einer „vorrangigen
Zuständigkeit der Krankenkassen im Recht der Eingliederungshilfe“ ausgegan-
gen. Es hat vielmehr - in Bezug auf die konduktive Förderung nach der Petö-
Methode - die Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung für medizini-
sche Maßnahmen geprüft und in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass es
für die Abgrenzung zwischen medizinischen und nichtmedizinischen Maßnah-
men und damit für die Zuständigkeit der Krankenversicherung in erster Linie auf
die Zielsetzung der Maßnahme ankomme, auch wenn deren Charakter unter
Umständen diesbezügliche Rückschlüsse zulasse. In Fällen, in denen eine Me-
thode eines der in den § 27 oder § 11 Abs. 2 SGB V genannten Ziele (Erkennen
oder Heilen einer Krankheit, Verhütung der Krankheitsverschlimmerung,
Linderung von Krankheitsbeschwerden, Vermeidung, Beseitigung oder Besse-
rung einer Behinderung) verfolge und dabei an der Krankheit selbst bzw. an
ihren Ursachen ansetze, verliere der Umstand an Bedeutung, dass für die Be-
handlung vorwiegend pädagogische Mittel eingesetzt würden. Das Bundesso-
zialgericht hat weiter ausgeführt, dass sich medizinische und nichtmedizinische
Behandlungszwecke gerade bei komplexen Rehabilitationsangeboten oft nur
schwer oder gar nicht voneinander abgrenzen ließen, und hervorgehoben, dass
dann, wenn die krankheitsbedingte Behinderung selber gebessert werden solle
und es nicht darum gehe, lediglich Auswirkungen der Behinderung auf die Le-
bensgestaltung aufzufangen oder abzumildern, und auch nach den Erwartun-
gen der Leistungserbringer - wie bei der konduktiven Förderung nach der Petö-
Methode - sogar physiologische und anatomische Veränderungen im Zentral-
nervensystem angestrebt würden, der medizinische Charakter der Fördermaß-
nahmen anzunehmen sei. Zu nach Zielsetzung und Ausgestaltung heilpädago-
gischen Maßnahmen verhalten sich diese Ausführungen nicht; das Verhältnis
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von § 55 Abs. 2 Nr. 2, § 56 SGB IX zu §§ 26 ff. SGB IX wird ebenfalls nicht be-
handelt.
Der Beklagte überinterpretiert auch das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs. Bei
seiner Bewertung der hier zu beurteilenden Maßnahme des „Heilpädagogischen
Reitens“ hat der Verwaltungsgerichtshof auch nicht (zumindest für nicht
eingeschulte Kinder) eine generelle „Auffangzuständigkeit des Sozialhilfeträ-
gers“ postuliert. Er hat vielmehr auf der Grundlage des § 55 Abs. 2 Nr. 2
SGB IX (jeweils i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG bzw. § 54 Abs. 1 SGB XII) ge-
prüft, ob die Voraussetzungen für heilpädagogische Maßnahmen nach § 56
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IX vorliegen, das „heilpädagogische Reiten“ nach sei-
ner heilpädagogischen Zielsetzungen gegen die sog. „Hippotherapie“ abge-
grenzt, die als Heilmittel nicht unter die vertragsärztliche Versorgung falle (s.a.
BSG, Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 36/00 R - SozR 3-2500 § 138 Nr. 29;
s.a. Müller-Fehling RdLH 2006, 114). Der Verwaltungsgerichtshof hat ausdrück-
lich festgestellt, dass das „heilpädagogische Reiten“ hier keine medizinische
Leistung zur Früherkennung und Frühförderung im Sinne von § 26 Abs. 2 Nr. 2,
§ 30 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB IX sei. Dass der Verwaltungsgerichtshof für die
Einordnung als heilpädagogische Maßnahme im rechtlichen Ansatz - ausdrück-
lich oder sinngemäß - von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ab-
gewichen wäre, ist nicht erkennbar. Er hat dabei nicht verkannt, dass zu den
Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSHG bzw.
§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auch Leistungen der medizinischen Rehabilitation
und somit auch medizinische Leistungen der Früherkennung und Frühförderung
gehören, auf die in den vorgenannten Vorschriften verwiesen wird, und diese
auch bestimmte heilpädagogische Leistungen umfassen (vgl. § 30 Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 2 SGB IX). Der Verwaltungsgerichtshof hat indes - in dem für die
Grundsatz- und Divergenzrüge entscheidenden rechtlichen Ansatz zutreffend -
darauf abgestellt, dass diese von den heilpädagogischen Leistungen nach § 55
Abs. 2 Nr. 2, § 56 Abs. 1 SGB IX für Kinder, die noch nicht eingeschult sind,
abzugrenzen sind, die erbracht werden, um eine drohende Behinderung abzu-
wenden, deren fortschreitenden Verlauf zu verlangsamen, ihre Folgen zu besei-
tigen oder zu mildern. Entgegen der Auffassung des Beklagten hat das Beru-
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fungsgericht nicht dahin erkannt, dass heilpädagogische Maßnahmen „per se“
in den Leistungsbereich des Sozialhilfeträgers fallen.
2. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache folgt auch nicht daraus,
dass der Beklagte auf der Grundlage seiner Ausdeutung der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts die Einordnung des „heilpädagogischen Reitens“ als
nichtmedizinische, heilpädagogische Leistung - im Anschluss an verwaltungs-
gerichtliche Rechtsprechung (s. etwa VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2006
- 6 K 103/04 -; der weiterhin herangezogene Beschluss des Berufungsgerichts
[Beschluss vom 25. November 2004 - 12 CE 04.2263 - FEVS 56, 282] betrifft
die Kostenübernahme für die konduktive Förderung nach Petö) für unzutreffend
hält und hierin nach der Zielrichtung überwiegend eine Leistung zur medizini-
schen Rehabilitation i.S.d. § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSHG und bei ärztlicher
Verordnung ein Heilmittel nach § 26 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX sieht. Dies richtet sich
gegen die einzelfallbezogene Feststellung und Würdigung des Sachverhaltes,
in Bezug auf die der Beklagte eine Verfahrensrüge nicht erhoben hat. Derartige
Fragen tatsächlicher Art können auch unter dem Gesichtspunkt der Klärungs-
bedürftigkeit so genannter allgemeiner (genereller) Tatsachen von nicht norma-
tiver Qualität nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeu-
tung führen (s. BSG, Beschluss vom 7. Oktober 2005 - B 1 KR 107/04 B -
SozR 4-1500 § 160a Nr. 9).
3. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist auch nicht in Bezug auf
das Verhältnis von § 26 Abs. 2 Nr. 2, § 30 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 3 SGB IX zu
den heilpädagogischen Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind,
nach § 55 Abs. 2 Nr. 2, § 56 Abs. 1 SGB IX dargelegt. Soweit der Beklagte mit
seinem Hinweis auf § 26 Abs. 2, 3 SGB IX, nach dem Leistungen zur medizini-
schen Rehabilitation auch medizinische, psychologische und pädagogische
Hilfen umfassten, geltend machen wollte, dass mit letztgenannten alle heilpä-
dagogischen Maßnahmen und Leistungen erfasst seien und zu Leistungen der
medizinischen Rehabilitation würden, folgt unmittelbar aus dem Gesetz, dass
dies unzutreffend ist. Das Gesetz unterscheidet offenkundig zwischen medizini-
schen Leistungen der Rehabilitation und hiervon nicht umfassten heilpädagogi-
schen Maßnahmen; eine Zuordnung aller heilpädagogischen Maßnahmen zu
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den medizinischen Leistungen nähme § 55 Abs. 2 Nr. 2, § 56 Abs. 1 SGB IX
jeden Anwendungsbereich. Die weitergehenden Ausführungen, die u.a. an die
Stellungnahme der Reitpädagogin S. anknüpfen, betreffen die aus Sicht des
Beklagten gebotene Einordnung als medizinische Maßnahme und bezeichnen
nicht eine klärungsfähige oder -bedürftige Frage im Verhältnis von §§ 26, 30
SGB IX zu §§ 55, 56 SGB IX.
4. Von einer weitergehenden Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2
VwGO).
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.
Hund Prof. Dr. Berlit Stengelhofen
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