Urteil des BVerwG vom 02.09.2004

Ermessen, Deckung, Geldleistung, Vergleich

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 30.04 (5 PKH 26.04)
VGH 7 S 267/03
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. September 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. R o t h k e g e l und
Prof. Dr. B e r l i t
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 3. Februar 2004 wird zurückgewie-
sen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Ver-
waltungsgerichtshofs ist nicht begründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe
(§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) liegen nicht vor.
1. Die Rechtssache hat nicht die ihr vom Beklagten beigemessene grundsätzliche
Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Der Beklagte hat folgende Fragen aufgeworfen, die er für revisionsgerichtlich klä-
rungsbedürftig hält:
"(1) In welchem Maße wird das Ermessen des Sozialhilfeträgers betreffend die Form
der Leistungsgewährung gemäß §§ 4 Abs. 2 und 8 Abs. 1 BSHG durch §§ 1 Abs. 2
Satz 1 und 3 Abs. 2 BSHG reduziert?
(2) Sind im Rahmen der Abwägung zwischen den angemessenen Wünschen des
Hilfeempfängers und etwaigen unverhältnismäßigen Mehrkosten nach § 3 Abs. 2
BSHG ähnliche Grundsätze zur Zumutbarkeit zugrunde zu legen, wie dies im Rah-
men der Auslegung des § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG (Menschenwürde) der Fall ist?
(3) Welche Umstände oder Voraussetzungen müssen vorliegen, damit das Ermes-
sen des Sozialhilfeträgers gemäß §§ 4 Abs. 2 und 8 Abs. 1 BSHG im Hinblick auf die
einmaligen Bekleidungshilfen nach § 21 Abs. 1a Nr. 1 BSHG zugunsten einer Sach-
leistung statt Geldleistung ausgeübt werden darf?
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(4) Hat der VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 03.11.2003 die Grenzen
der richterlichen Überprüfung des eingeräumten Ermessens überschritten und unzu-
lässig sein eigenes Ermessen an die Stelle des Behördenermessens gesetzt?"
Diese Fragen (die teilweise auf ein in einer Parallelsache ergangenes Urteil des
Verwaltungsgerichtshofs bezogen sind, der Sache nach allerdings in gleichem Sinne
das vorliegende Verfahren betreffen) sind jedoch nicht von grundsätzlicher Bedeu-
tung; denn sie betreffen im Rahmen einer einzelfallbezogenen Rechtsanwendung zu
beantwortende Fragen, die einer fallübergreifenden, rechtsgrundsätzlichen Klärung
weder zugänglich sind noch bedürfen. Letztlich wären sie aber ausgehend von den
für das Bundesverwaltungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO verbindlichen Tatsa-
chenfeststellungen der Vorinstanz in einem Revisionsverfahren im Hinblick auf die
Regelung des § 144 Abs. 4 VwGO ohnehin nicht zu entscheiden. Danach muss die
angegriffene Berufungsentscheidung selbst dann Bestand haben, wenn seine Grün-
de zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, die Entscheidung sich
aber aus anderen Gründen als richtig darstellt. So liegen die Dinge hier:
Der Verwaltungsgerichtshof hat in den Gründen seines Beschlusses auf sein in ei-
nem Parallelverfahren ergangenes Urteil vom 3. November 2003 - 7 S 1162/01 -
verwiesen; dort ist er im Zusammenhang mit seinen Erwägungen zu entstehenden
Mehrkosten (§ 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG) "nach dem Ergebnis der mündlichen Verhand-
lung und des vom Verwaltungsgericht (in der vorliegenden Sache) durchgeführten
Augenscheins" zu der Feststellung gelangt, dass "eine durchgängige Versorgung mit
'Amtspreisartikeln' nicht sichergestellt" und "der objektive Bekleidungsbedarf der Hil-
feempfänger - insgesamt gesehen - durch das Verfahren des Beklagten nicht ge-
deckt werden" kann (S. 16 des Berufungsurteils in der Sache 7 S 1162/01). Ist dies
der Fall, besteht aber weder ein Auswahlermessen des Beklagten nach § 4 Abs. 2
BSHG, die Deckung einmaligen Bekleidungsbedarfs pauschal auf die hier in Rede
stehende Weise zu decken, noch ist dann für die Anwendung von § 3 Abs. 2 BSHG
Raum, der ein Wahl- und Wunschrecht des Hilfesuchenden zwischen verschiedenen,
zur Deckung des Hilfebedarfs gleichermaßen geeigneten Alternativen voraussetzt
(vgl. BVerwGE 94, 127 <133 f.>; 101, 194 <201>). Dies gilt auch für den Mehrkos-
tenvorbehalt aus § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG: Die Höhe von Mehrkosten der von ihm
gewünschten Leistung muss der Hilfesuchende sich nur im Vergleich zu Alternativen
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entgegenhalten lassen, durch die ihm gegenwärtig und tatsächlich geholfen, sein
Hilfebedarf im sozialhilferechtlich anzuerkennenden und gebotenen Umfang voll-
ständig gedeckt wird. Das Wahl- und Wunschrecht des Hilfesuchenden wie das
Auswahlermessen des Sozialhilfeträgers sind daher nur auf solche Hilfealternativen
bezogen, bei denen kein sozialhilferechtlicher Bedarf offen bleibt. Treffen die tatsäch-
lichen Feststellungen der Vorinstanz zu, ist eine volle bzw. zumindest teilweise Geld-
leistung aber die zur Deckung des sozialhilferechtlich anzuerkennenden Beklei-
dungsbedarfs einzige geeignete - also alternativlose - Hilfemaßnahme.
2. Allerdings sind die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zu Qualität und
Umfang der vom Beklagten unter Beauftragung der Lebenshilfe H. in G. organisier-
ten Leistungserbringung mit der Beschwerde angegriffen: Der Verwaltungsgerichts-
hof habe gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verstoßen, indem er
zwei Gutachten eines anerkannten Textilsachverständigen "übergangen" und "(kei-
ner) Beweiswürdigung unterzogen", sondern seine hiervon "abweichende Bewertung
... aufgrund (eines vom Verwaltungsgericht in einem Parallelverfahren eingenomme-
nen) Augenscheins" vorgenommen habe (S. 4 Mitte der Beschwerdebegründung).
Mit dieser Verfahrensrüge macht die Beschwerde einen Verstoß gegen § 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO und eine Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO gel-
tend. Die Rüge greift jedoch nicht durch, so dass die Revision auch nicht wegen ei-
nes Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zugelassen werden kann.
Dass das Berufungsgericht die ihm in dem Verfahren 7 S 1162/01 vorgelegten Un-
tersuchungsberichte des Ingenieurbüros für Textilprüfungen vom 9. November 1998
und 25. Mai 1999 (auch) in dem vorliegenden Verfahren keiner Beweiswürdigung
unterzogen hat, lässt nicht darauf schließen, dass das Gericht diese Berichte entge-
gen dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht zur Kenntnis genommen und bei
seiner Entscheidung erwogen hat. Im Tatbestand des Berufungsurteils jenes Verfah-
rens (S. 6 Mitte des Urteils vom 3. November 2003 - 7 S 1162/01 -) sind diese Er-
kenntnismittel ausdrücklich erwähnt. Über die Berufung in der vorliegenden Sache ist
am 3. Februar 2004 entschieden worden, nachdem das Oberverwaltungsgericht der
gleichlautend wie hier begründeten Nichtzulassungsbeschwerde unter dem
29. Januar 2004 nicht abgeholfen hatte. Auch deswegen ist davon auszugehen, dass
das Berufungsgericht zur Kenntnis genommen und erwogen hat, dass der Beklagte
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sich auf jene Untersuchungsberichte stützt. Eine Verletzung von Beweiswürdigungs-
grundsätzen ist im Fehlen einer - ausdrücklichen - Würdigung in den Entscheidungs-
gründen sei es jenes Urteils, sei es des vorliegend angegriffenen Beschlusses schon
deshalb nicht zu erblicken, weil die Untersuchungsberichte keine Sachverständigen-
gutachten im Sinne eines zum Gegenstand einer Beweisaufnahme gemachten Be-
weismittels sind, sondern für den Beklagten als Partei erstellt waren und von ihm in
den Parallelprozess eingeführt wurden. Der Beklagte hat weder dort noch im vorlie-
genden Verfahren versucht, sie durch Stellung eines förmlichen Beweisantrags (vgl.
§ 86 Abs. 2 VwGO) zum Gegenstand einer Beweisaufnahme zu machen. Es ist auch
nicht ersichtlich, dass letzteres sich dem Berufungsgericht hätte aufdrängen müssen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die angegriffene Berufungsentscheidung auf sein
Urteil vom 3. November 2003 gestützt, dem tatsächliche Feststellungen unter Be-
zugnahme auf die vom Verwaltungsgericht in der vorliegenden Sache vorgenomme-
ne Augenscheinseinnahme zugrunde liegen, deren protokolliertes Ergebnis in das
Berufungsverfahren 7 S 1162/01 durch Verlesung einzuführen das Berufungsgericht
aufgrund entsprechenden Verzichts der Beteiligten (s. S. 2 Mitte der Sitzungsnieder-
schrift über die Berufungsverhandlung vom 3. November 2003) unterlassen durfte.
Das Berufungsurteil vom 3. November 2003 ist dem Beklagten am 28. November
2003 zugestellt worden. Er musste seitdem damit rechnen, dass das Berufungsge-
richt seine dort wiedergegebenen Erkenntnisse auch im vorliegenden Verfahren ver-
werten würde. Dem hätte der Beklagte durch sein Verhalten im Prozess Rechnung
tragen können und müssen, indem er darauf hingewirkt hätte, dass das vom Verwal-
tungsgerichtshof übernommene Ergebnis des vom Verwaltungsgericht im vorliegen-
den Verfahren genommenen Augenscheins den aus Stichproben in dem Kleidershop
gewonnenen Erkenntnissen des Sachverständigen gegenüber gestellt würden. Statt-
dessen hat der Beklagte in Kenntnis des Urteils vom 3. November 2003 seinen unter
dem 27. November 2003 "im Hinblick auf die mündliche Verhandlung (in dem Verfah-
ren 7 S 1162/01) am 3. November 2003" erklärten Verzicht auf mündliche Verhand-
lung in vorliegender Sache aufrechterhalten.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist darum zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit
auf § 188 Satz 2 VwGO.
Dr. Säcker Dr. Rothkegel Prof. Dr. Berlit