Urteil des BVerwG vom 06.10.2005

Überprüfung, Bereinigung, Verwaltungsprozess, Zustellung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 26.05
VGH 10 UE 2253/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Oktober 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. R o t h k e g e l und
Prof. Dr. B e r l i t
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungs-ge-
richtshofs vom 7. Dezember 2004 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 72 650,62 €
(entspricht 142 092,26 DM) festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Be-
schluss des Verwaltungsgerichtshofs ist nicht begründet. Die geltend gemachten
Zulassungsgründe liegen nicht vor.
1. Die Revision kann nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zugelassen werden.
Die Beschwerde will die rechtsgrundsätzliche Bedeutung daraus herlei-
ten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs "eine Berufung bereits
vor der Zulassungsentscheidung des Berufungsgerichts begründet werden kann". Es
kann auf sich beruhen, ob allein damit der Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO in einer dem Formerfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden
Weise dargelegt ist; denn die Voraussetzungen einer Revisionszulassung wegen
grundsätzlicher Bedeutung sind hier jedenfalls der Sache nach nicht erfüllt.
Der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat bereits durch Urteil
vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - (BVerwGE 107, 117 <121 f.>) unter aus-
drücklicher Aufgabe seiner im Beschluss vom 25. August 1997 - BVerwG 9 B
690.97 - (DVBl 1997, 1325) geäußerten gegenteiligen Auffassung entschieden, dass
der Rechtsmittelführer nach Zulassung der Berufung in jedem Fall einen gesonderten
Schriftsatz zur Berufungsbegründung einreichen muss und dass es deshalb nicht
schon genügt, wenn sich die Begründung und der Antrag dem Vorbringen im Zulas-
sungsverfahren entnehmen lassen. Dem ist der 4. Senat des Bundesverwaltungsge-
richts in seinem Urteil vom 8. März 2004 - BVerwG 4 C 6.03 - (Buchholz 310 § 124a
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VwGO Nr. 26) gefolgt; er hat hierbei im Anschluss an das Urteil des 9. Senats aus-
drücklich klargestellt, dass zwar eine Bezugnahme auf das Zulassungsvorbringen im
Begründungsschriftsatz zulässig ist und - je nach den Umständen des Einzelfalles -
für eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung ausreichen kann, sofern der Beru-
fungsführer innerhalb der Berufungsbegründungsfrist durch einen gesonderten
Schriftsatz erkennbar zum Ausdruck bringt, dass er die Berufung durchführen will
und weshalb er sie für begründet hält. Damit ist revisionsgerichtlich geklärt, dass "ei-
ne Berufung bereits vor der Zulassungsentscheidung des Berufungsgerichts begrün-
det werden kann" und dies unter bestimmten, auch einzelfallabhängigen Vorausset-
zungen zur Erfüllung des Begründungserfordernisses aus § 124a Abs. 6 i.V.m.
Abs. 3 VwGO ausreicht. Dass und worin ein weiterer revisionsgerichtlicher Klärungs-
bedarf bestehe, wird von der Beschwerde nicht dargelegt.
Allerdings ist einzuräumen, dass in dem von der Beschwerde in Bezug
genommenen Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Juli 2004 - IV ZR 140/03 -
(FamRZ 2004, 1567 = NJW 2004, 2981) keine derartigen zusätzlichen Vorausset-
zungen - insbesondere nicht das Erfordernis einer rechtzeitigen Bezugnahme in ei-
nem gesonderten Schriftsatz - erwähnt sind. Die Beschwerde belässt es jedoch bei
dem Hinweis auf jenes Urteil, ohne darzulegen, ob und gegebenenfalls in welcher
Hinsicht es zu einer erneuten Befassung des Bundesverwaltungsgerichts mit den
hier in Rede stehenden Fragen Veranlassung geben könnte. Aus einer Divergenz
zwischen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwal-
tungsgerichts, die nach dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtspre-
chung der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Vorlage an den Gemeinsamen
Senat der obersten Gerichtshöfe rechtfertigte oder erlaubte, folgte dies schon wegen
der im Einzelnen unterschiedlichen gesetzlichen Ausgestaltung nicht; namentlich ist
§ 551 Abs. 2 Satz 1 ZPO für die Einreichung der Revisionsbegründung offener for-
muliert als § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO für die Begründung der nach Absatz 5 zuge-
lassenen Berufung. Eine Rechtsgrundsätzlichkeit begründende Rechtsprechungsdi-
vergenz besteht im Übrigen auch deswegen nicht, weil der Bundesgerichtshof einen
Schriftsatz zu beurteilen hatte, der die Überschrift trug "Begründung der Nichtzulas-
sungsbeschwerde und der Revision", während in den vom Bundesverwaltungsgericht
entschiedenen Fällen die Rechtsmittelführer mit dem Schriftsatz zur Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde nicht zugleich auch schon ihr Rechtsmittel in der
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Hauptsache begründet hatten (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998, a.a.O., S. 118,
122, Urteil vom 8. März 2004, a.a.O.). So liegt der Fall auch hier: Der Beklagte hatte
zugleich mit der Beantragung der Berufungszulassung zwar einen Berufungsantrag
gestellt (Schriftsatz vom 23. Januar 2003), bis zum Ablauf der Beru-
fungsbegründungsfrist (und vor der Berufungszulassung) jedoch nur den Antrag auf
Zulassung der Berufung begründet (Schriftsatz vom 26. Februar 2003).
2. Die Revision kann auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zugelassen werden. Insbesondere trifft die Verwerfung der Be-
rufung des Beklagten wegen Fehlens einer rechtzeitigen Berufungsbegründung ihn
nicht als Überraschungsentscheidung. Zwar beruft die Beschwerde sich auf Recht-
sprechung des Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 17. März 1998 - 13 UE
3558/97.A -), wonach eine im Zulassungsantrag enthaltene hinreichende Berufungs-
begründung dem Begründungserfordernis des § 124a Abs. 3 VwGO genüge. Diese
Rechtsprechung war jedoch nicht geeignet, ein Vertrauen des Beklagten darauf zu
begründen, dass er auch im vorliegenden Rechtsstreit mit der Begründung des Zu-
lassungsantrags zugleich dem Begründungszwang für die Berufung genügt habe.
Zum einen enthält die Rechtsmittelbelehrung des Zulassungsbeschlusses den Hin-
weis, dass die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses
zu begründen sei. Zum anderen war die genannte Rechtsprechung des Verwal-
tungsgerichtshofs infolge der entgegengesetzten Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts überholt. Aus denselben Gründen folgt auch, dass dem Beklagten
nicht verfahrensfehlerhaft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwehrt worden
ist; angesichts der auch in der Kommentarliteratur nachgewiesenen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts, aber auch anderer Oberverwaltungsgerichte sowie
der ausdrücklichen Belehrung durfte sich der Beklagte jedenfalls nicht ohne weitere
Überprüfung auf die von ihm herangezogene Entscheidung stützen; dies gilt umso
mehr, als die Regelungen zur Berufungszulassung und -begründung durch das Ge-
setz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (vom
20. Dezember 2001, BGBl I S. 3987) nochmals im Detail umgestaltet worden waren.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO,
die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG.
Dr. Säcker Dr. Rothkegel Prof. Dr. Berlit