Urteil des BVerwG vom 09.06.2008

Rechtliches Gehör, Rüge, Vertretung, Hund

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 204.07 (5 PKH 30.07)
OVG 4 LB 314/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Juni 2008
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Brunn und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen
beschlossen:
Den Klägerinnen wird für das Beschwerdeverfahren Pro-
zesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt …, …, beige-
ordnet.
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsge-
richts vom 25. Juli 2007 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsge-
richt zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
1. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Be-
schwerdeverfahren liegen vor (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 115, 121 Abs. 1
ZPO).
2. Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat mit der Rüge eines Ver-
fahrensfehlers durch Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3,
§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) Erfolg. Im Interesse der Verfahrens-
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beschleunigung macht der Senat von seinem ihm in § 133 Abs. 6 VwGO einge-
räumten Ermessen Gebrauch, das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sa-
che zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
3. Die Beschwerde rügt in zulässiger Weise und im Ergebnis zu Recht eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerinnen durch die Ablehnung eines
Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss des Oberverwal-
tungsgerichts vom 3. Juli 2007 für das nach Zurückverweisung der Sache durch
das Revisionsurteil des Senats vom 11. August 2005 - BVerwG 5 C 18.04 -
(BVerwGE 124, 83) erneut durchzuführende Berufungsverfahren und ihre da-
durch bedingte mangelnde Vertretung im Berufungstermin am 25. Juli 2007.
a) Die Klägerinnen haben den Verfahrensmangel in der Beschwerdebegrün-
dung hinreichend dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Zwar erfordert die
Rüge, das rechtliche Gehör sei verletzt, regelmäßig auch die substanziierte
Darlegung, was die Prozesspartei bei ausreichender Gewährung des vermiss-
ten Gehörs im Einzelnen noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vor-
trag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre
(Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 26). Betrifft der Gehörsverstoß aber nicht einzelne Feststellungen,
sondern das Gesamtergebnis des Verfahrens, wie etwa bei der verfahrensfeh-
lerhaften Durchführung einer mündlichen Verhandlung, an der nicht alle Betei-
ligten teilnehmen konnten, oder - wie hier - die verfahrensfehlerhafte Hinderung,
sich im Termin anwaltlich vertreten zu lassen, bedarf es eines solchen
hypothetischen Vortrags zur Sache nicht (vgl. Urteil vom 3. Juli 1992 - BVerwG
8 C 58.90 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 248; Beschluss vom 8. März 1999
- BVerwG 6 B 121.98 - NVwZ-RR 1999, 587).
b) Das Oberverwaltungsgericht hat den Anspruch der Klägerinnen auf rechtli-
ches Gehör dadurch verletzt, dass es ihnen durch den Beschluss vom 3. Juli
2007 rechtswidrig Prozesskostenhilfe vorenthalten und sie damit um die Mög-
lichkeit anwaltlicher Vertretung in der mündlichen Berufungsverhandlung ge-
bracht hat.
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aa) An der Überprüfung dieses Beschlusses ist der Senat nicht etwa gemäß
§ 173 VwGO, § 557 Abs. 2 ZPO deswegen gehindert, weil er nach § 152 Abs. 1
VwGO unanfechtbar ist. Durch die entsprechende Anwendung des § 557 Abs. 2
ZPO wird die Rüge von solchen Verfahrensmängeln nicht ausgeschlossen, die
als Folgen der beanstandeten Vorentscheidung weiterwirkend der an-
gefochtenen Sachentscheidung anhaften (vgl. Beschluss vom 8. März 1999
a.a.O.; Urteil vom 10. November 1999 - BVerwG 6 C 30.98 - BVerwGE 110,
40). So verhält es sich hier: Die Versagung von Prozesskostenhilfe durch den
unanfechtbaren Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 3. Juli 2007 haftet
als Gehörsverstoß dem angefochtenen Urteil an (vgl. BVerwG a.a.O.).
bb) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 3. Juli 2007 ist rechtswid-
rig, weil er die nach § 166 VwGO i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO für die ge-
samte Berufungsinstanz geltende Bewilligung von Prozesskostenhilfe in dem
- vor der Zurückverweisung der Sache ergangenen - Beschluss des Oberver-
waltungsgerichts vom 23. Juli 2002 - OVG 4 LB 111/02 nicht beachtet und den
Klägerinnen damit im Ergebnis die bereits gewährte Prozesskostenhilfe ohne
Vorliegen eines gesetzlichen Aufhebungsgrundes nach § 166 VwGO i.V.m.
§ 124 Nr. 1 bis 4 ZPO entzogen hat.
Nach § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfolgt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
für jeden Rechtszug besonders; sie wirkt grundsätzlich für den ganzen Rechts-
zug. Der Begriff des Rechtszuges ist kostenrechtlich zu verstehen und erfasst
jeden Verfahrensabschnitt, der besondere Kosten verursacht (vgl. BGH, Be-
schluss vom 25. April 2007 - XII ZB 179/06 - FamRZ 2007, 1088 unter Hinweis
auf Zöller/Philippi, ZPO, 26. Aufl. § 119 Rn. 1 und Beschluss vom 8. Juli 2004
- IX ZB 565/02 - FamRZ 2004, 1707 <1708>). Stehen mehrere Verfahrensab-
schnitte jedoch in einem notwendigen inneren Zusammenhang, so bilden sie
auch dann einen einheitlichen Rechtszug, wenn sie jeweils mit Kosten verbun-
den sind. Maßgebend ist, ob diese Verfahrensabschnitte bei der Gewährung
von Prozesskostenhilfe nach deren Sinn und Zweck voneinander getrennt wer-
den können oder nicht (vgl. Beschluss vom 29. November 1994 - BVerwG
11 KSt 1.94 - NVwZ-RR 1995, 545). Bei einer Zurückverweisung - wie hier vom
Bundesverwaltungsgericht an das Berufungsgericht - wird das ursprüngliche
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(hier: Berufungs-)Verfahren in der Vorinstanz wieder anhängig und ist fortzu-
setzen. Beide Verfahrensabschnitte bilden mit anderen Worten - auch kosten-
rechtlich - eine Einheit. Dementsprechend bestimmt § 37 GKG für den Fall der
Zurückverweisung an das Gericht des unteren Rechtszugs, dass „das weitere
Verfahren mit dem früheren Verfahren vor diesem Gericht im Sinne des § 35
GKG einen Rechtszug“ bildet (vgl. aber für die Anwaltsgebühren § 15 Abs. 1
BRAGO bzw. § 21 Abs. 1 RVG). Nach § 35 GKG werden die Gebühr für das
Verfahren im Allgemeinen und die Gebühr für eine Entscheidung in jedem
Rechtszug hinsichtlich eines jeden Teils des Streitgegenstands nur einmal er-
hoben. Durch die Zurückverweisung der Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 VwGO ist mithin kein neuer Rechtszug im Sinne des § 119 Abs. 1 Satz 1
ZPO eröffnet worden (vgl. auch OVG Münster, Beschluss vom 29. Januar 1992
- 21 E 429/92.A - JurBüro 1994, 176; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Ja-
nuar 1987 - 10 W 3/87 - AnwBl 1988, 422; Motzer, in: Münchner Kommentar,
3. Aufl. 2008, § 119 ZPO Rn. 32). Da das Oberverwaltungsgericht für den ge-
samten Berufungsrechtszug mit Beschluss vom 23. Juli 2002 bereits Prozess-
kostenhilfe (unter Beiordnung des 2004 verstorbenen Rechtsanwalts S.) bewil-
ligt hatte, hätte es das Begehren des neuen Prozessbevollmächtigten (Rechts-
anwalt M.), „über die beantragte Prozesskostenhilfe“ noch vor der erneuten Be-
rufungsverhandlung zu entscheiden (ein neuer Prozesskostenhilfeantrag ist den
vorgelegten Akten nicht zu entnehmen), als Antrag auf seine Beiordnung
auslegen und hierüber nach § 166 VwGO i.V.m. § 121 ZPO (vgl. den im Revi-
sionsverfahren ergangenen Beschluss des Senats vom 14. September 2004
- BVerwG 5 C 18.04 -) entscheiden müssen. Es hätte diesen Antrag nur ableh-
nend bescheiden dürfen, wenn Gründe für eine nur ausnahmsweise mögliche
Aufhebung der Prozesskostenhilfe bewilligenden Entscheidung gemäß § 124
ZPO vorgelegen hätten. Dafür ist indessen nichts festgestellt oder ersichtlich.
Das Oberverwaltungsgericht hat vielmehr offensichtlich in Verkennung der aus
§ 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO folgenden Rechtslage so entschieden. Ob es bei sei-
ner verfahrensrechtsfehlerhaften Entscheidung durch die Verneinung der Er-
folgsaussichten der Berufung zugleich die Anorderungen an die Voraussetzun-
gen der Gewährung von Prozesskostenhilfe überspannt und auch dadurch das
rechtliche Gehör verletzt hat, kann offenbleiben.
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cc) Aufgrund der rechtswidrigen Vorenthaltung von Prozesskostenhilfe wurde
den Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung des Oberverwaltungsgerichts
rechtliches Gehör versagt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst auch
die Befugnis, sich in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertreten zu lassen
(Urteil vom 3. Juli 1992 - BVerwG 8 C 58.90 - Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 248). Den Klägerinnen und ihrem Prozessbevollmächtigten konnte nicht
angesonnen werden, entgegen dem Rechtsschein des unanfechtbaren PKH-
Ablehnungsbeschlusses auf eigenes Kostenrisiko an der mündlichen Verhand-
lung teilzunehmen.
dd) Die Klägerinnen haben auch alles Zumutbare getan, um sich das entzogene
rechtliche Gehör zu verschaffen. Sie haben gegen die Versagung von Pro-
zesskostenhilfe durch das Oberverwaltungsgericht am 13. Juli 2007 erfolglos
eine Gehörsrüge gemäß § 152a VwGO erhoben.
4. Obwohl es danach nicht mehr darauf ankommt, weist der Senat darauf hin,
dass die weiteren Zulassungsrügen voraussichtlich erfolglos geblieben wären.
Die von den Klägerinnen für klärungsbedürftig gehaltene Frage,
„ob die Jugendhilfebehörde hier als Sozialhilfeträger ent-
sprechend § 6 SGB IX anzusehen ist und sich hierdurch
ihre Zuständigkeit gemäß § 14 SGB IX begründet“,
hat der Senat mit dem Urteil vom 11. August 2005 a.a.O. bereits abschließend
- verneinend - entschieden.
Die grundsätzliche Bedeutung der weiter angesprochenen Frage,
„ob die Schulpflicht dazu führen kann, dass eine Hilfe-
maßnahme im Sinne des Rehabilitationsrechts, die an-
sonsten geboten erscheint, allein dadurch, dass dieser
untergeordneten Frage, wo eine solche schulische Bildung
abläuft, die Hilfemaßnahme für ungeeignet qualifizieren
kann“,
ist schon nicht ordnungsgemäß dargelegt. Sie wäre hier außerdem bereits
mangels Entscheidungserheblichkeit nicht klärungsbedürftig, da das Beru-
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fungsurteil insoweit auf eine weitere selbständig tragende und nicht angegriffe-
ne Begründung gestützt ist, nämlich die fehlende sachliche Zuständigkeit der
Beklagten als örtlicher Träger der Jugendhilfe sowie die fehlende Befreiung von
der Schulpflicht bzw. die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für die Be-
schulung im Ausland.
Hund
Dr. Brunn
Stengelhofen
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Jugendhilferecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
VwGO § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 166
ZPO
§ 119 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 1, § 124 Nr. 1 bis 4
Stichworte:
Prozesskostenhilfe, Bewilligung für den gesamten Rechtszug, Zurückverwei-
sung an das Gericht unterer Instanz, Fortsetzung des ursprünglichen Verfah-
rens, Verfahrensabschnitt, innerer Zusammenhang, Fortwirken der Bewilligung
von Prozesskostenhilfe, mangelnde Vertretung im Termin infolge rechtswidriger
Versagung von Prozesskostenhilfe, Verletzung rechtlichen Gehörs
Leitsatz:
Die für die gesamte Instanz (hier: Berufungsinstanz) ausgesprochene Bewilli-
gung von Prozesskostenhilfe wirkt bei einer Zurückverweisung der Sache durch
das Rechtsmittelgericht an das Gericht des unteren Rechtszugs fort.
Beschluss des 5. Senats vom 9. Juni 2008 - BVerwG 5 B 204.07
I. VG Hannover vom 29.08.2001 - Az.: VG 9 A 4148.00 -
II. OVG Lüneburg vom 25.07.2007 - Az.: OVG 4 LB 314.05 -