Urteil des BVerwG vom 27.01.2012

Rechtliches Gehör, Beweisantrag, Rüge, Verfügung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 2.12
VGH 2 S 1214/11
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Januar 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Häußler
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 11. August 2011 wird zurückge-
wiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 1 428,90 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe der Grundsatzbedeutung, der Divergenz und des
Verfahrensmangels gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeu-
tung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Eine ausreichende Darlegung (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) der rechtsgrund-
sätzlichen Bedeutung einer Rechtssache setzt die Formulierung einer bestimm-
ten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung er-
heblichen Frage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin
die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll
(vgl. z.B. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310
§ 133 VwGO Nr. 26 = NJW 1997, 3328). Diesen Anforderungen wird die
Beschwerde nicht gerecht.
Die von ihr aufgeworfene Frage,
„inwiefern das Gericht ohne ärztliche Stellungnahme die
Gleichwertigkeit von medizinischen Methoden entschei-
dend bestätigen kann“ (Beschwerdebegründung S. 2),
ist in dieser Form einer rechtsgrundsätzlichen Klärung bereits nicht zugänglich,
weil es dabei ausschlaggebend auf die Würdigung der konkreten Gegebenhei-
ten des Einzelfalles ankommt. Überdies legt die Beschwerde nicht dar, in An-
wendung welcher Rechtsnorm des revisiblen Rechts sich die Frage stellen soll,
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ob und welche Rechtsmeinungen hierzu vertreten werden und warum die Frage
einer höchstrichterlichen Klärung bedürfen soll.
2. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten Divergenz zuzulassen
(§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
a) Eine Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinrei-
chend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die ange-
fochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die
Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (bzw.
eines der anderen in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte) aufgestell-
ten ebensolchen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden
Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (Be-
schluss vom 19. August 1997 a.a.O. m.w.N.). Diese Darlegungsanforderungen
erfüllt die Beschwerde nicht.
Sie bringt vor, dass das Wesen eines Sachverständigengutachtens darin be-
stehe, „Wertungen zu treffen, Schlussfolgerungen zu ziehen und Hypothesen
aufzustellen, wozu das Gericht mangels Sachkunde nicht in der Lage“ sei, und
dass „die Pflicht zur Einschaltung eines Sachverständigen“ von den obersten
Gerichten - insoweit zitiert die Beschwerde neben Entscheidungen des Bun-
desgerichtshofs auch solche des Bundesverwaltungsgerichts (Beschlüsse vom
30. August 1993 - BVerwG 2 B 106.93 - juris Rn. 2 und vom 15. Juni 2009
- BVerwG 2 B 38.09 - juris Rn. 7) - mehrfach bestätigt worden sei (Beschwer-
debegründung S. 2).
Soweit die Beschwerde dabei auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
Bezug nimmt, geht dies im Hinblick auf die Aufzählung der Gerichte in § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO fehl. Soweit sie sich auf die Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts bezieht, zeigt sie bereits nicht hinreichend auf, im Hinblick
auf welche revisible Rechtsnorm das Bundesverwaltungsgericht welchen abs-
trakten Rechtssatz aufgestellt haben soll, von dem das Berufungsgericht abge-
wichen sein soll. Überdies legt die Beschwerde nicht dar, dass das Berufungs-
gericht in der angegriffenen Entscheidung einen von der Rechtsprechung des
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Bundesverwaltungsgerichts abweichenden (abstrakten) Rechtssatz aufgestellt
hat. Sie beschränkt sich vielmehr auf die sinngemäße Behauptung, das Beru-
fungsgericht habe es im konkreten Fall fehlerhaft unterlassen, ein Sachverstän-
digengutachten einzuholen. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebe-
nen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner
Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt jedoch den Zulässigkeitsanforderungen
einer Divergenzrüge nicht (Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O. m.w.N.).
3. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Ver-
fahrensfehlers zuzulassen. Der von der Beschwerde behauptete Verfahrens-
mangel lässt sich nicht feststellen.
Die Beschwerde macht geltend, die Nichteinholung eines Sachverständigen-
gutachtens durch das Berufungsgericht verletze „das Gebot eines fairen Pro-
zesses und des rechtlichen Gehörs als Verfahrensgrundrechte“, weil „die medi-
zinische Wertung des Gerichts zur Gleichwertigkeit zweier unterschiedlicher
Operationsmethoden“ entscheidend gewesen sei. Das Berufungsgericht habe
auch nicht ausgeführt, wie es zur eigenen Sachkunde komme (Beschwerdebe-
gründung S. 3).
Damit legt die Beschwerde weder eine Verletzung des im Rechtsstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnden Grundsatzes des fairen Verfahrens, der nur
eingreift, soweit keine speziellere verfassungsrechtliche Gewährleistung exis-
tiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 - juris
Rn. 116 m.w.N.), noch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1
GG, § 108 Abs. 2 VwGO) dar. Der Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtli-
ches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten
zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Der Kläger hätte dement-
sprechend, um eine Verletzung dieses Grundsatzes darzutun, schlüssig darle-
gen müssen, dass sein Vorbringen vom Berufungsgericht entweder überhaupt
nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht
erwogen worden ist (vgl. Beschluss vom 8. Juni 2010 - BVerwG 5 B 53.09 - juris;
BVerfG, u.a. Beschlüsse vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133
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<146> und vom 1. Februar 1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 <187 f.>).
Dies hat er jedoch nicht ansatzweise dargetan.
Auch wenn die Beschwerde im Hinblick auf ihre Rüge der Verletzung eines fai-
ren Verfahrens dahin verstanden wird, dass sie insoweit einen - hier allein in
Betracht kommenden - Verstoß gegen den Aufklärungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1
VwGO) geltend machen will, genügt sie damit nicht den Darlegungsanforderun-
gen. Wer die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht erhebt, obwohl er
- durch eine nach § 67 Abs. 1 VwGO postulationsfähige Person sachkundig
vertreten - in der Vorinstanz keinen förmlichen Beweisantrag gestellt hat (vgl.
§ 86 Abs. 2 VwGO), muss, um den gerügten Verfahrensmangel prozessord-
nungsgemäß zu bezeichnen, substanziiert darlegen, warum sich dem Tatsa-
chengericht aus seiner für den Umfang der verfahrensrechtlichen Sachaufklä-
rung maßgebenden materiellrechtlichen Sicht die Notwendigkeit einer weiteren
Sachaufklärung in der aufgezeigten Richtung hätte aufdrängen müssen (vgl.
Beschlüsse vom 2. März 1978 - BVerwG 6 B 24.78 - Buchholz 310 § 132
VwGO Nr. 164 S. 43 f., vom 19. August 1997 a.a.O. sowie vom 3. November
2006 - BVerwG 5 B 40.06 - juris); die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um
- vermeintliche - Versäumnisse eines Prozessbeteiligten in der Tatsachenin-
stanz, vor allem das Unterlassen von förmlichen Beweisanträgen, zu kompen-
sieren (vgl. Beschlüsse vom 6. März 1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310
§ 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 und vom 10. Oktober 2001 - BVerwG 9 BN 2.01 -
Buchholz 401.65 Hundesteuer Nr. 7).
Zwar behauptet die Beschwerde, das Berufungsgericht habe die Bewertung, ob
die beiden unterschiedlichen Operationsmethoden des Kniegelenks gleichwer-
tig seien, nicht aus eigener Sachkunde heraus beurteilen können (Beschwerde-
schrift S. 3). Ihre Ausführungen erschöpfen sich jedoch darin, der rechtlichen
und tatsächlichen Würdigung durch das Berufungsgericht (UA S. 10) eine da-
von abweichende Bewertung entgegenzusetzen. Damit ist aber nicht dargetan,
dass und warum, d.h. aufgrund welchen Vortrags im erst- oder zweitinstanzli-
chen Verfahren oder sonstigen Akteninhalts, das Berufungsgericht auch ohne
förmlichen Beweisantrag zu der Erkenntnis hätte kommen müssen, dass die
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genannte Frage derart schwierig zu beurteilen war, dass es hierüber nicht auf-
grund eigener Sachkunde entscheiden konnte.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat das Tat-
sachengericht nämlich grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen darüber
zu entscheiden, ob es sich selbst die für die Aufklärung und Würdigung des
Sachverhalts erforderliche Sachkunde zutraut. Dieses Ermessen überschreitet
das Gericht erst dann, wenn es sich eine ihm nicht zur Verfügung stehende
Sachkunde zuschreibt und sich nicht mehr in den Lebens- und Erkenntnisberei-
chen bewegt, die den ihm angehörenden Richtern allgemein zugänglich sind
(vgl. Urteil vom 6. November 1986 - BVerwG 3 C 27.85 - BVerwGE 75, 119
<126 f.>; Beschlüsse vom 5. Januar 2006 - BVerwG 10 B 85.05- juris Rn. 6
und vom 13. Januar 2009 - BVerwG 9 B 64.08 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1
Nr. 372 m.w.N.). Für diese Annahme legt die Beschwerde nichts Substanzielles
dar. Sie setzt sich nicht hinreichend damit auseinander, dass das Berufungsge-
richt sowohl die medizinischen Aussagen in der vom Kläger vorgelegten
„Ergänzung zur Honorarvereinbarung bei Durchführung einer Abrasions-
arthroplastik“, welche der die Operation durchführende Arzt verfasst hat, als
auch das ebenfalls vom Kläger vorgelegte fachorthopädische Gutachten vom
23. Juli 2004 ausgewertet hat. Allein aus dem pauschalen und nicht weiter sub-
stanziierten Vorbringen der Beschwerde, eine „Bezugnahme auf die Abrech-
nung des Operateurs“ sei nicht zulässig (Beschwerdebegründung S. 3), lässt
sich nicht folgern, dass sich das Berufungsgericht eine ihm nicht zur Verfügung
stehende Sachkunde zugeschrieben hat. Die Ausführungen der Beschwerde
erschöpfen sich der Sache nach in einer Kritik der tatrichterlichen Sachver-
haltswürdigung durch das Berufungsgericht im Einzelfall. Damit ist ein Verfah-
rensfehler nicht dargetan.
4. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfest-
setzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
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