Urteil des BVerwG vom 02.09.2004

Ermessen, Deckung, Geldleistung, Sachleistung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 18.04 (5 PKH 14.04)
VGH 7 S 1162/01
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. September 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. R o t h k e g e l und
Prof. Dr. B e r l i t
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 3. November 2003 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Ge-
richtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs ist nicht begründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe
(§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) liegen nicht vor.
1. Die Rechtssache hat nicht die ihr vom Beklagten beigemessene grundsätzliche
Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Der Beklagte hat folgende Fragen aufgeworfen, die er für revisionsgerichtlich klä-
rungsbedürftig hält:
"(1) In welchem Maße wird das Ermessen des Sozialhilfeträgers betreffend die Form
der Leistungsgewährung gemäß § 4 Abs. 2 und § 8 Abs. 1 BSHG durch § 1 Abs. 2
Satz 1 und § 3 Abs. 2 BSHG reduziert?
(2) Sind im Rahmen der Abwägung zwischen den angemessenen Wünschen des
Hilfeempfängers und etwaigen unverhältnismäßigen Mehrkosten nach § 3 Abs. 2
BSHG ähnliche Grundsätze zur Zumutbarkeit zugrunde zu legen, wie dies im Rah-
men der Auslegung des § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG (Menschenwürde) der Fall ist?
(3) Welche Umstände oder Voraussetzungen müssen vorliegen, damit das Ermessen
des Sozialhilfeträgers gemäß § 4 Abs. 2 und § 8 Abs. 1 BSHG im Hinblick auf die
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einmaligen Bekleidungshilfen nach § 21 Abs. 1a Nr. 1 BSHG zugunsten einer Sach-
leistung statt Geldleistung ausgeübt werden darf?
(4) Hat der VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 3. November 2003 die
Grenzen der richterlichen Überprüfung des eingeräumten Ermessens überschritten
und unzulässig sein eigenes Ermessen an die Stelle des Behördenermessens ge-
setzt?"
Diese Fragen sind jedoch nicht von grundsätzlicher Bedeutung, denn sie betreffen im
Rahmen einer einzelfallbezogenen Rechtsanwendung zu beantwortende Fragen, die
einer fallübergreifenden, rechtsgrundsätzlichen Klärung weder zugänglich sind noch
bedürfen. Letztlich wären sie aber ausgehend von den für das Bundesverwal-
tungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO verbindlichen Tatsachenfeststellungen der
Vorinstanz in einem Revisionsverfahren im Hinblick auf die Regelung des § 144
Abs. 4 VwGO ohnehin nicht zu entscheiden. Danach muss das angegriffene Urteil
selbst dann Bestand haben, wenn seine Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung
des bestehenden Rechts ergeben, die Entscheidung sich aber aus anderen Gründen
als richtig darstellt. So liegen die Dinge hier:
Werden die im Zusammenhang mit seinen Erwägungen zu entstehenden Mehrkos-
ten (§ 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG) getroffenen tatsächlichen Feststellungen des Verwal-
tungsgerichtshofs zugrunde gelegt, kann "eine durchgängige Versorgung mit
'Amtspreisartikeln' nicht sichergestellt" und "der objektive Bekleidungsbedarf der Hil-
feempfänger - insgesamt gesehen - durch das Verfahren des Beklagten nicht ge-
deckt werden" (S. 16 des Berufungsurteils). Ist dies der Fall, besteht aber weder ein
Auswahlermessen des Beklagten nach § 4 Abs. 2 BSHG, die Deckung einmaligen
Bekleidungsbedarfs pauschal auf die hier in Rede stehende Weise zu decken, noch
ist dann für die Anwendung von § 3 Abs. 2 BSHG Raum, der ein Wahl- und Wunsch-
recht des Hilfesuchenden zwischen verschiedenen, zur Deckung des Hilfebedarfs
gleichermaßen geeigneten Alternativen voraussetzt (vgl. BVerwGE 94, 127 <133 f.>;
101, 194 <201>). Dies gilt auch für den Mehrkostenvorbehalt aus § 3 Abs. 2 Satz 3
BSHG: Die Höhe von Mehrkosten der von ihm gewünschten Leistung muss der Hil-
fesuchende sich nur im Vergleich zu Alternativen entgegenhalten lassen, durch die
ihm gegenwärtig und tatsächlich geholfen, sein Hilfebedarf im sozialhilferechtlich an-
zuerkennenden und gebotenen Umfang vollständig gedeckt wird. Das Wahl- und
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Wunschrecht des Hilfesuchenden wie das Auswahlermessen des Sozialhilfeträgers
sind daher nur auf solche Hilfealternativen bezogen, bei denen kein sozialhilferecht-
licher Bedarf offen bleibt. Treffen die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zu,
ist eine volle bzw. zumindest teilweise Geldleistung aber die zur Deckung des sozial-
hilferechtlich anzuerkennenden Bekleidungsbedarfs einzige geeignete - also alterna-
tivlose - Hilfemaßnahme. Auch wenn die Kläger vom Beklagten auf der Grundlage
der vorinstanzlichen Urteile keine Geldleistung verlangen können, weil ihr auf eine
Bekleidungsbeihilfe in bar gerichtetes Begehren vom Verwaltungsgericht in vollem
Umfang abgewiesen worden ist und nur der Beklagte, nicht aber auch die Kläger
- hinsichtlich der Teilabweisung ihrer Klage - gegen das erstinstanzliche Urteil vorge-
gangen sind, wäre eine Revision des Beklagten gegen das Berufungsurteil, durch
das seine Verpflichtung zur Neubescheidung der Kläger bestätigt worden ist, nach
§ 144 Abs. 4 VwGO zurückzuweisen, wenn im Revisionsverfahren davon ausgegan-
gen werden muss, dass das Warenangebot des Bekleidungsshops der Lebenshilfe
H. in G. minderwertig und unzureichend ist; denn dann behält die tragende Feststel-
lung des Verwaltungsgerichtshofs im Ergebnis seine Richtigkeit, dass das Sachleis-
tungsangebot des Beklagten ermessensfehlerhaft ist, weil "die konkrete Form der
Sachleistung rechtswidrig ist" (vgl. S. 11 oben des Berufungsurteils).
2. Allerdings sind die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zu Qualität und
Umfang der vom Beklagten unter Beauftragung der Lebenshilfe H. in G. organisierten
Leistungserbringung mit der Beschwerde angegriffen: Der Verwaltungsgerichtshof
habe gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verstoßen, indem er zwei
Gutachten eines anerkannten Textilsachverständigen "übergangen" und "(keiner)
Beweiswürdigung unterzogen", sondern seine hiervon "abweichende Bewertung ...
aufgrund (eines vom Verwaltungsgericht in einem Parallelverfahren eingenomme-
nen) Augenscheins" vorgenommen habe (S. 4 Mitte der Beschwerdebegründung).
Mit dieser Verfahrensrüge macht die Beschwerde einen Verstoß gegen § 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO und eine Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO gel-
tend. Die Rüge greift jedoch nicht durch, so dass die Revision auch nicht wegen ei-
nes Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zugelassen werden kann.
Dass das Berufungsgericht die ihm mit der Berufungsbegründung vom 5. Juli 2001
(Bl. 85 ff. der Akten) vorgelegten Untersuchungsberichte des Ingenieurbüros für Tex-
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tilprüfungen vom 9. November 1998 und 25. Mai 1999 keiner Beweiswürdigung un-
terzogen hat, lässt nicht darauf schließen, dass das Gericht diese Berichte entgegen
dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner
Entscheidung erwogen hat. Im Urteilstatbestand (S. 6 Mitte des Berufungsurteils)
sind diese Erkenntnismittel ausdrücklich erwähnt. Eine Verletzung von Beweiswürdi-
gungsgrundsätzen ist im Fehlen einer - ausdrücklichen - Würdigung in den Entschei-
dungsgründen schon deshalb nicht zu erblicken, weil die Untersuchungsberichte kei-
ne Sachverständigengutachten im Sinne eines zum Gegenstand einer Beweisauf-
nahme gemachten Beweismittels sind, sondern für den Beklagten als Partei erstellt
waren und von ihm in den Prozess eingeführt wurden. Der Beklagte hat insbesonde-
re nicht versucht, sie durch Stellung eines förmlichen Beweisantrags (vgl. § 86 Abs. 2
VwGO) zum Gegenstand einer Beweisaufnahme zu machen. Es ist auch nicht
ersichtlich, dass letzteres sich dem Berufungsgericht hätte aufdrängen müssen. Der
Verwaltungsgerichtshof hat seine tatsächlichen Feststellungen unter Bezugnahme
auf eine vom Verwaltungsgericht in anderer Sache vorgenommene Augen-
scheinseinnahme getroffen, deren protokolliertes Ergebnis in das Berufungsverfah-
ren durch Verlesung einzuführen das Berufungsgericht aufgrund entsprechenden
Verzichts der Beteiligten (s. S. 2 Mitte der Sitzungsniederschrift über die Berufungs-
verhandlung vom 3. November 2003) unterlassen durfte. Aufgrund des Hinweises in
der Berufungsverhandlung auf die vom Verwaltungsgericht in Parallelverfahren ge-
wonnenen tatsächlichen Erkenntnisse musste der Beklagte damit rechnen, dass
auch das Berufungsgericht diese Erkenntnisse verwerten würde. Dem hätte er durch
sein Verhalten im Prozess Rechnung tragen können und müssen, indem er darauf
hingewirkt hätte, dass das Ergebnis des Augenscheins, wie es auch in dem von den
Klägern zu den Berufungsakten gereichten Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart
vom 11. Dezember 2001 - 3 K 2870/00 - (Bl. 117/141 d.A., insbesondere S. 10 ff. des
Urteils) wiedergegeben ist, den aus Stichproben in dem Kleidershop gewonnenen
Erkenntnissen des Sachverständigen gegenübergestellt würden.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist darum zurückzuweisen. Damit
erledigen sich die Anträge der Kläger, ihnen Prozesskostenhilfe zu bewilligen und
ihren Prozessbevollmächtigten beizuordnen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit
auf § 188 Satz 2 VwGO.
Dr. Säcker Dr. Rothkegel Prof. Dr. Berlit