Urteil des BVerwG vom 25.02.2004

Sicherstellung, Berufungsfrist, Unterzeichnung, Verschulden

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 15.04
OVG 4 B 451/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Februar 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t und Dr. F r a n k e
beschlossen:
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Sächsischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 6. November 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die nicht innerhalb der
Berufungsfrist erhobene Berufung der Beigeladenen zu Recht gemäß § 125 Abs. 2
Satz 1 VwGO als unzulässig verworfen und die Voraussetzungen für eine Wieder-
einsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist gemäß § 60
VwGO zutreffend verneint. Der von der Beigeladenen geltend gemachte Verfah-
rensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt daher nicht vor.
1. Das mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des
Verwaltungsgerichts vom 6. März 2003 ist der Beigeladenen laut Empfangsbekennt-
nis am 25. April 2003 zugestellt worden. Die Berufungsschrift der Beigeladenen vom
6. Juni 2003 ist am 10. Juni 2003 - verfristet - beim Verwaltungsgericht eingegangen.
Das Oberverwaltungsgericht hat der Beigeladenen die begehrte Wiedereinsetzung
im Wesentlichen mit der Begründung versagt, sie habe zwar vorgetragen, dass die
Vertreterin der erkrankten Leiterin der Rechtsstelle im Sozialamt der Beigeladenen,
welche das Empfangsbekenntnis unterschrieben hatte, zusätzlich zu ihren normalen
Aufgaben über das normale Maß in Anspruch genommen gewesen sei, so dass sie
versehentlich vergessen habe, den Zeitpunkt der Zustellung des angefochtenen Ur-
teils zu vermerken; auch sei aus diesem Grunde eine - sonst übliche - Rücksprache
mit dem Bereich Recht über das weitere Vorgehen hinsichtlich des Urteils nicht er-
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folgt. Dem Wiedereinsetzungsantrag vom 20. Juni 2003 seien jedoch bereits die nä-
heren Umstände nicht zu entnehmen, die zu der übermäßigen Inanspruchnahme
geführt hätten. Zudem habe die Beigeladene mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag
nicht dargetan, welche organisatorischen Maßnahmen von Seiten der Behördenlei-
tung getroffen worden seien, um nachteiligen Folgen einer Arbeitsüberlastung der
Mitarbeiter wie im vorliegenden Vertretungsfall zu begegnen.
2. Die hiergegen erhobenen Einwendungen der Beigeladenen greifen nicht durch,
weil sie ein Organisationsverschulden auf Seiten der Beigeladenen im Zusammen-
hang mit der Sicherstellung der Beachtung von Rechtsmittelfristen nicht ausschlie-
ßen, im Gegenteil sogar nahe legen. Wie im Falle einer Prozessvertretung durch
Rechtsanwälte fällt auch einer Behörde ein die Sorgfaltspflichten im Rahmen der
Prozessführung verletzendes Organisationsverschulden zur Last, wenn sie nicht
durch allgemeine Anweisungen dafür Sorge trägt, dass der Ablauf von Rechtsmittel-
fristen zuverlässig rechtzeitig bemerkt wird (zu den Anforderungen an behördliche
Vorkehrungen zur Sicherstellung der Einhaltung von Rechtsmittelfristen vgl. Bundes-
verwaltungsgericht, Beschlüsse vom 22. Dezember 2000 - BVerwG 11 C 10.00 -
Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 237 und vom 31. Januar 2000 - BVerwG 1 C 21.99 -
Buchholz a.a.O. Nr. 232).
Die von der Beigeladenen in den Schriftsätzen vom 20. Juni und 18. August 2003 zur
Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs vorgetragenen Umstände reichen zur
Glaubhaftmachung, dass sie kein Organisationsverschulden hinsichtlich der Ver-
säumung der Berufungsfrist trifft, nicht aus. Nach dem Vorbringen der Beigeladenen
und ausweislich der Eingangsstempel ist das Urteil des Verwaltungsgerichts am
23. April 2003 im Büro des Oberbürgermeisters eingegangen und über den Bereich
Recht - dessen Einbeziehung, nach Angaben der Beigeladenen "in Fällen wie dem
vorliegenden, bei denen Vertretung durch Volljuristen bzw. Diplomjuristen zwingend
vorgeschrieben ist", absprachegemäß vorgesehen ist, bei dem das vorliegende Ver-
fahren aber nicht registriert gewesen sei - zum Bereich "Soziales" gelangt, wo es
unter dem 25. April 2003 mit einem handschriftlichen Vermerk ("Rechtliche Würdi-
gung? 3128 Ich bitte um rechtliche Würdigung; Beigeladene … Praxis z.T. anders.
Absprache mit Rechtsamt erforderlich") an die dortige Rechtsstelle weitergeleitet
worden ist. Nach dem Vorbringen der Beigeladenen (Schriftsätze vom 20. Juni und
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18. August 2003) war dort in Vertretung der erkrankten Leiterin der Rechtsstelle eine
andere Mitarbeiterin damit beauftragt, "die eingehende Post entgegen zu nehmen
und entweder selbst zu bearbeiten oder an weitere Mitarbeiter zu verteilen oder auch
den Bereich Recht mit einzubeziehen"; die gebotene Rücksprache mit dem Bereich
Recht zur Frage der weiteren Vorgehensweise sei - wie sonst bei der Verhinderung
der Leiterin der Rechtsstelle üblich - nicht erfolgt, da der Vertreterin, bei der es sich
um keine gemäß § 67 Abs. 1 Satz 3 VwGO vertretungsberechtigte Person gehandelt
habe, für deren Verschulden die Behörde entsprechend § 85 Abs. 2 ZPO einstehen
müsste, im vorliegenden Fall "weder die Auswirkungen des Urteils in vollem Umfang
noch die Möglichkeit der Berufungseinlegung durch die Beigeladene bewusst" gewe-
sen seien. Die Vertreterin hat danach das Empfangsbekenntnis unterschrieben und
zurückgeschickt, dies aber - überlastungsbedingt - versehentlich nicht auf dem Urteil
vermerkt. In der Folge ist - davon muss mangels weiterer Angaben über den Ge-
schäftsgang ausgegangen werden - die Sache bis zur Rückkehr der Leiterin der
Rechtsstelle des Bereiches Soziales und der schließlichen Einschaltung des Be-
reichs Recht am 27./28. Mai 2003 liegen geblieben; der nach den Feststellungen des
Oberverwaltungsgerichts am 26. Mai 2003 eingetretene Ablauf der Rechtsmittelfrist
blieb bis zur Übermittlung des Empfangsbekenntnisses durch das Verwaltungsgericht
am 11. Juni 2003 unentdeckt (vgl. Schriftsatz vom 20. Juni 2003).
Diese Darlegung des Geschäftsganges lässt erkennen, dass innerhalb der Behörde
keine besonderen Vorkehrungen getroffen worden sind, um einem Fristversäumnis
vorzubeugen. Seitens der Beigeladenen ist nichts dafür vorgetragen, dass bei Ein-
gang des Fristen auslösenden Schriftstücks im Bereich Recht oder bei der Unter-
zeichnung des Empfangsbekenntnisses im Bereich Soziales für eine Notierung der
Frist gesorgt und deren Wahrung kontrolliert wurde. Es gehört jedoch zu den Aufga-
ben eines Prozessbevollmächtigten bzw. Behördenleiters, durch allgemeine Anwei-
sung dafür Sorge zu tragen, dass der Ablauf von Rechtsmittelfristen zuverlässig be-
merkt und vom Aktenlauf, etwaigem persönlichen Wissen einzelner Mitarbeiter und
ihrer Vertrautheit mit Rechtsmitteln und Rechtsmittelfristen unabhängige Vorkehrun-
gen (etwa durch Anlage eines Fristenbuches) getroffen werden, die eine ordnungs-
gemäße Wahrnehmung der Aufgaben einer Prozessvertretung gewährleisten (vgl.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Dezember 2000 - BVerwG 11 C
10.00 - a.a.O.). Die Beigeladene hat insbesondere auch nichts dafür dargetan, dass
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- spätestens bei der Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses im Bereich Sozia-
les oder auch zu einem früheren Zeitpunkt, etwa beim Eingang fristenrelevanter
Schriftstücke in dem für die prozessuale Vertretung kompetenten Bereich Recht der
Beigeladenen - für die Notierung der Fristen gesorgt und deren Einhaltung kontrolliert
wird (vgl. Beschluss vom 31. Januar 2000 - BVerwG 1 C 21.99 - a.a.O.). Der
Umstand, dass es bei der von der Beigeladenen praktizierten Verfahrensweise bis-
lang "noch keine Probleme gegeben" habe, schließt ein Organisationsverschulden
nicht aus, denn zu den Sorgfaltspflichten einer Behörde gehört es, dass - unabhängig
vom Eintritt eines Vertretungsfalles und der juristischen Qualifikation des Vertreters -
ausreichende Vorkehrungen getroffen sind, dass gerichtliche Entscheidungen,
welche fristgebundene Prozesshandlungen auslösen können, den prozessführenden
Beamten bzw. die zur Prozessführung zuständige Stelle erreichen und die Frist bei
der Zustellung notiert und ausreichend überwacht wird. Das Unterlassen
ausreichender organisatorischer Maßnahmen zur Sicherstellung eines Fristversäum-
nisse nach Möglichkeit ausschließenden Geschäftsgangs stellt ein Verschulden der
Zustellungsadressaten dar und schließt die Gewährung von Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand aus. Für die Beigeladene bedeutet dies, dass sichergestellt sein muss,
dass die für die Prozessführung zuständige Stelle dem jeweiligen Fachbereich nicht
nur auf Anfrage zur Verfügung steht, sondern dass fristenrelevante Vorgänge dort
- unabhängig von Vertretungsfällen in den Fachbereichen - auch rechtzeitig vorgelegt
werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit
auf § 188 Satz 2 VwGO.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Franke