Urteil des BVerwG vom 20.08.2015

Selbsthilfe, Verfahrensmangel, Ausnahme, Überschreitung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 14.15
VGH 12 BV 14.1629
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. August 2015
durch die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Fleuß
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Bayerischen Verwal-
tungsgerichtshofs vom 14. Oktober 2014 wird zurückge-
wiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 55 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (1.), der Diver-
genz (2.) und eines Verfahrensmangels (3.) gestützte Beschwerde hat keinen
Erfolg.
1. Die Beschwerde ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer
Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebli-
che Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und
der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darle-
gungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulie-
rung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisi-
onsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem
die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende
Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern
die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht
beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen
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kann (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310
§ 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Dem genügt die Beschwerde nicht.
a) Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig,
"ob das Bundesverwaltungsgericht die im Urteil vom
1. Oktober 1986 noch vorgenommene Unterscheidung
zwischen qualifiziert beplanten Gebieten und unbeplanten
Innenbereichen angesichts der inzwischen veränderten
Rechtslage auch heute noch genauso treffen würde (vgl.
Urteil v. 01.10.1986 - 8 C 155/81 - juris Rn. 16 a.E. unter
Hinweis auf Urteil v. 02.12.1983)" (vgl. Beschwerdebe-
gründung vom 16. Dezember 2014 S. 7).
Mit dieser Frage und ihrem weiteren Vorbringen wird die Beschwerde den An-
forderungen an die Darlegung einer Grundsatzrüge nicht gerecht. Damit wird
nicht die Auslegung einer konkreten Rechtsnorm des revisiblen Rechts ange-
sprochen, wie dies für die Grundsatzrüge erforderlich ist. Vielmehr ist die Be-
schwerde darauf gerichtet, in Erfahrung zu bringen, ob das Bundesverwal-
tungsgericht an der im Urteil vom 1. Oktober 1986 - 8 C 53.85 - (Buchholz
454.51 MRVerbG Nr. 14) vertretenen, von der Beschwerde nicht näher darge-
legten Rechtsauffassung festhält. Die höchstrichterliche Rechtsprechung als
solche gehört indessen nicht zum revisiblen Recht im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 1 i.V.m. § 137 Abs. 1 VwGO.
b) Das Vorbringen der Klägerin,
"Abgesehen davon begegnet die vom Verwaltungsge-
richtshof - unausgesprochen unterstellte - generelle Zu-
lässigkeit nicht akzessorischer Wohnnutzung im fakti-
schen Kerngebiet grundsätzlichen Bedenken. Vielmehr
wäre in Anbetracht der konkreten Umgebung (Feiermeile,
verdichtete Ansiedlung von Diskos, Kneipen, Amüsierbe-
trieben) zu prüfen, ob eine Ausnahme (§ 34 Abs. 2 BauGB
i.V.m. § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) hier nicht schon prinzipi-
ell ausscheidet, ohne dass es noch auf eine Einzelfallbe-
urteilung anhand § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ankommt"
(vgl. Beschwerdebegründung vom 16. Dezember 2014
S. 8),
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genügt ebenfalls schon nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO. Denn damit wird keine konkrete Rechtsfrage formuliert.
Der Sache nach rügt die Klägerin in der Art einer Revisionsbegründung die ihrer
Ansicht nach fehlerhafte Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs und
setzt dieser ihre eigene, zu einem anderen Ergebnis führende Rechtsmeinung
entgegen. Eine solche Kritik der vorinstanzlichen Entscheidung kann in der Re-
gel und so auch hier die grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO nicht begründen.
2. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten Divergenz (§ 132 Abs. 2
Nr. 2 VwGO) zuzulassen.
Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt vor, wenn das
vorinstanzliche Gericht in Anwendung derselben Vorschrift mit einem seine
Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von einem in der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten
Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten
ebensolchen Rechtssatz abgewichen ist und die Entscheidung auf dieser Ab-
weichung beruht. Die Beschwerdebegründung muss darlegen, dass und inwie-
fern dies der Fall ist. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen An-
wendung der Rechtssätze, die das betreffende übergeordnete Gericht in seiner
Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsanforderungen nicht
(stRspr, BVerwG, vgl. Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buch-
holz 310 § 133 VwGO Nr. 26, vom 22. Februar 2011 - 2 B 72.10 - juris
Rn. 4 und vom 5. Juni 2013 - 5 B 7.13 - juris Rn. 2 m.w.N.). Gemessen daran
ist die Beschwerde nicht ausreichend begründet.
a) Dies gilt zunächst, soweit die Beschwerde geltend macht, die angefochtene
Entscheidung weiche mit den Ausführungen zum "Postulat nach architektoni-
scher Selbsthilfe (RdNr 31 des Urteils)" sowohl vom Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 1. Oktober 1986 - 8 C 53.85 - (Buchholz 454.51 MRVerbG
Nr. 14) als auch vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. November
2012 - 4 C 8.11 - (BVerwGE 145, 145) ab. Die Ausführungen im angegriffenen
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Beschluss stünden im Widerspruch zu dem Rechtssatz des Bundesverwal-
tungsgerichts, dass das Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO
nicht dadurch gewahrt werde, dass der Bauherr im Wege der architektonischen
Selbsthilfe passive Schutzmaßnahmen für die ihm genehmigte Wohnnutzung
vorgesehen habe (vgl. Beschwerdebegründung vom 16. Dezember 2014
S. 3 f.). Dies genügt schon deshalb nicht den Anforderungen an die Darlegung
einer Divergenz, weil die Beschwerde dieser Rechtsansicht keinen vom Verwal-
tungsgerichtshof in dem angefochtenen Beschluss aufgestellten, abweichenden
abstrakten Rechtssatz gegenüberstellt. Ein solcher Rechtssatz ist insbesondere
den weiteren Ausführungen der Beschwerde, "[g]erade das verlangt aber der
BayVGH im Rahmen seiner Ausführungen zur Zulässigkeit der Ausnahme nach
§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO vom Eigentümer für den Fall, dass bei der gefor-
derten Beweisaufnahme die Überschreitung der Grenzwerte festgestellt werden
sollte" (vgl. Beschwerdebegründung vom 16. Dezember 2014 S. 4), nicht zu
entnehmen. Ebenso wenig zeigt die Beschwerde auf, inwiefern der angefochte-
ne Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs auf der behaupteten Abweichung
beruht, zumal sie selbst davon ausgeht, dass die Forderung nach architektoni-
scher Selbsthilfe nur für den Fall erhoben wird, dass bei der erst noch vom
Verwaltungsgericht durchzuführenden Beweisaufnahme die Überschreitung der
Grenzwerte festgestellt werden sollte. Des Weiteren ist dem Urteil des Bundes-
verwaltungsgerichts vom 1. Oktober 1986 - 8 C 53.85 - (Buchholz 454.51
MRVerbG Nr. 14) der ihm von der Beschwerde zugeschriebene Rechtssatz
nicht zu entnehmen. Gleiches gilt für das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vom 29. November 2012 - 4 C 8.11 - (BVerwGE 145, 145). Soweit in diesem
Urteil ausgeführt wird, "das Oberverwaltungsgericht durfte jedoch das Rück-
sichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BauNVO nicht deswegen als
gewahrt ansehen, weil der Beigeladene im Wege der architektonischen Selbst-
hilfe passive Schallschutzmaßnahmen für die ihm genehmigte Wohnnutzung
vorgesehen hat" (BVerwGE 145, 145 Rn. 14), handelt es sich um das Ergebnis
der Subsumtion des Sachverhalts unter die nachfolgend formulierten Rechts-
sätze, das nicht in einen eigenständigen allgemeinen Rechtssatz umgedeutet
werden kann.
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b) Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang bemängelt, "[d]ie Forde-
rung nach architektonischer Selbsthilfe […] beinhaltet darüber hinaus einen zu-
sätzlichen Eingriff in die eigentumsrechtliche Position" und "ist in keiner Weise
mehr verfassungsrechtlich vertretbar" (vgl. Beschwerdebegründung vom
16. Dezember 2014 S. 4), benennt sie keine Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts, von der abgewichen wird.
c) Soweit die Beschwerde eine Abweichung von dem Urteil des Bundesge-
richtshofs vom 14. Juni 2012 (NJW-RR 2012, 1207) beanstandet (vgl. Be-
schwerdebegründung vom 16. Dezember 2014 S. 6), erfüllt dies die Begrün-
dungsanforderungen bereits deshalb nicht, weil Entscheidungen jenes Gerichts
im Verfahren der verwaltungsgerichtlichen Nichtzulassungsbeschwerde nicht
divergenzfähig sind.
3. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO) zuzulassen.
Nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfah-
rensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Damit sind Verstöße gegen Vorschriften gemeint, die den Verfahrensablauf
bzw. den Weg zu dem Urteil bzw. Beschluss und die Art und Weise des Urteils-
bzw. Beschlusserlasses regeln, nicht jedoch Vorschriften, die den Urteils- bzw.
Beschlussinhalt betreffen und deren Verletzung sich als Mangel der sachlichen
Entscheidung darstellt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2015 - 5 B
28.14 - juris Rn. 8 m.w.N.). Ein Verfahrensmangel ist nur dann im Sinne von
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ausreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn
(vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdi-
gung substantiiert dargetan wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. März
2014 - 5 B 48.13 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 62 Rn. 12 m.w.N.). Daran ge-
messen kommt die Zulassung der Revision nicht in Betracht.
Die Beschwerde sieht einen Verfahrensmangel darin, dass der Verwaltungsge-
richtshof unter Verkennung der Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache an das Verwal-
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tungsgericht zurückverwiesen habe. Denn die Voraussetzungen des § 130
Abs. 2 Nr. 1 VwGO hätten nicht vorgelegen. Das Verwaltungsgericht habe sei-
ne Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht verletzt. Es sei ent-
gegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht verpflichtet gewesen,
zur Klärung der Frage, ob die Wohnnutzung im Einzelfall vor allem unter Lärm-
gesichtspunkten ausnahmsweise baurechtlich zulässig sei, Beweis zu erheben,
und könne hierzu auch in dem angefochtenen Beschluss nicht verpflichtet wer-
den. Die Beklagte hätte entsprechende Ermittlungen durchführen müssen. Sie
trage die Beweislast für die Zumutbarkeit der Wohnnutzung unter Lärmge-
sichtspunkten. Da sie derartige Ermittlungen unterlassen habe, hätte sie unter
Aufhebung ihrer Bescheide zur Neubescheidung verpflichtet werden müssen
(vgl. Beschwerdebegründung vom 16. Dezember 2014 S. 5 f.). Hiermit zeigt die
Beschwerde keinen Verfahrensfehler auf, auf dem die Entscheidung beruhen
kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Zurückverweisung der Sache an das
Verwaltungsgericht selbstständig tragend auch auf eine entsprechende Anwen-
dung des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gestützt, weil das Verwaltungsgericht auf-
grund der Annahme, im Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 2 letzter Halbs. BauNVO
komme es lediglich auf eine typisierende Betrachtung an, die Weichen seiner
Entscheidung falsch gestellt und damit im Ergebnis nicht in der Sache selbst
entschieden habe (vgl. BA Rn. 25 und 30). Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts kann bei einer solchen Mehrfachbegründung
die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder der Begründungen
ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (vgl. z.B. BVerwG, Be-
schluss vom 19. Mai 2015 - 3 B 6.14 - juris Rn. 6 m.w.N.). Daran fehlt es hier.
Gegen die Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofs zur entsprechenden An-
wendung des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, insbesondere zur Notwendigkeit, im
Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 2 letzter Halbs. BauNVO eine Einzelfallprüfung
vorzunehmen, hat die Beschwerde keine durchgreifenden Zulassungsgründe
erhoben.
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
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5. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streit-
wertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Dr. Störmer
Dr. Fleuß
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