Urteil des BVerwG vom 15.02.2007

Sozialhilfe, Sachleistung, Rechtsschutz, Zustandekommen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 121.06
OVG 4 LC 164/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Februar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt und Dr. Franke
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulas-
sung der Revision in dem Beschluss des Nieder-
sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom
23. August 2006 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist nicht begründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe
der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO)
und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegen nicht vor.
1. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Beschwerde beigemessene grund-
sätzliche Bedeutung. Die als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Rechts-
fragen
„Wird die Hilfe in einer Einrichtung nach § 93 Abs. 2 S. 1
BSHG (Fassung 1999) durch den zuständigen Sozialhilfe-
träger rechtlich im Wege einer Geldleistung oder als Sach-
leistung erbracht?"
„Beinhaltet der ggf. anzunehmende Sachleistungsan-
spruch die Verpflichtung des Kostenträgers, das gesamte
zwischen dem Hilfeempfänger und der Einrichtung vertrag-
lich vereinbarte Heimentgelt zu übernehmen oder ist der
Anspruch auf bedarfsdeckende Leistung bereits durch die
Hilfe des Einrichtungsträgers erfüllt?"
„Kann ein Ausnahmefall des § 93 Abs. 3 BSHG in der hier
relevanten Fassung grundsätzlich solange nicht ange-
nommen werden, wie nicht feststeht, ob es noch zu einer
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endgültigen Vereinbarung nach § 93 Abs. 2 BSHG
kommt?"
„Ist bei einem Hilfebedürftigen in stationärer Betreuung ein
Notfall zwangsläufig ausgeschlossen, wenn zwischen Ein-
richtung und Sozialhilfeträger ein vorläufiger Abschlags-
pflegesatz vereinbart wurde und dieser auch geleistet
wird?"
„Kann die Anwendung von § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG 1999
auch ohne bestehende Leistungs- und Prüfungsvereinba-
rung und ohne Vereinbarung über ein endgültiges Entgelt
mit dem Argument gerechtfertigt werden, es liefe dem für
die Kalkulation von Pflegesätzen durch den Einrichtungs-
träger geltenden Grundsatz der Prospektivität zuwider,
wenn der Hilfeempfänger gegenüber dem für ihn zustän-
digen Sozialhilfeträger einen individuellen Leistungsan-
spruch hätte, aufgrund dessen er schon vor dem Ab-
schluss endgültiger Pflegesatzvereinbarungen die volle im
Heimvertrag vereinbarte Vergütung übernehmen müsste?"
„Ist der sozialhilferechtliche Bedarf des in einer Einrichtung
untergebrachten und bedürfnisentsprechend versorgten
Hilfeempfängers dadurch gedeckt, dass der für ihn zu-
ständige Sozialhilfeträger nicht die vollen Unterbringungs-
kosten in Höhe des vereinbarten Heimentgelts übernimmt,
sondern nur Abschläge zahlt?"
sind nach dem Urteil des Senats vom 4. August 2006 - BVerwG 5 C 13.05 -
juris (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgese-
hen) nicht (mehr) klärungsbedürftig oder stellen sich auf der Grundlage dieses
Urteils nicht (mehr) in entscheidungserheblicher Weise.
Wie der Senat in diesem Urteil näher ausgeführt hat, liegt - auch im Verhältnis
zu ortsfremden Sozialhilfeträgern - ein „anderer Fall“ i.S.d. § 93 Abs. 2 Satz 1
Halbs. 2 BSHG F. 1994 bzw. ein Fall des § 93 Abs. 3 Satz 1 BSHG F. 1999
nicht vor, solange gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1994 bzw. § 93 Abs. 2
Satz 1 BSHG F. 1999 eine Vereinbarung bzw. eine sie gestaltende Schiedsstel-
lenentscheidung zwischen einer Einrichtung und dem örtlich zuständigen Träger
der Sozialhilfe tatsächlich und rechtlich möglich ist. Vorläufig festgesetzte oder
vereinbarte Entgelte bzw. Vergütungen stehen zwar den endgültig vereinbarten
oder festgesetzten Entgelten bzw. Vergütungen nicht gleich. Die Gewährung
von Sozialhilfe ohne Bezug zu einer Vereinbarung ist aber „gesperrt“, solange
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der angestrebte Abschluss einer Vereinbarung bzw. eine vereinbarungs-
gestaltende Schiedsstellenentscheidung rechtlich und tatsächlich möglich ist
(Urteil vom 4. August 2006 a.a.O. juris Rn. 23).
Die nach diesem Urteil bestehende Sperrwirkung in Fällen, in denen gemäß
§ 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1994 bzw. § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG F. 1999 eine
Vereinbarung bzw. eine sie gestaltende Schiedsstellenentscheidung zwischen
einer Einrichtung und dem örtlich zuständigen Träger der Sozialhilfe tatsächlich
und rechtlich noch möglich ist, gegenüber weitergehenden Leistungsansprü-
chen des Hilfeempfängers hängt gerade auch nicht von der Beantwortung der
beiden ersten Fragen ab, ob die Hilfe in den beschriebenen Fällen als Geld-
oder als Sachleistung gewährt wird. Nach der zutreffenden Auffassung des Be-
rufungsgerichts hätte der Hilfebedürftige für den Fall, dass die Hilfegewährung
in der Einrichtung als Sachleistung erbracht wird, keinen Anspruch auf die hier
begehrte Übernahme von Vergütungen in bestimmter Höhe gegen den Leis-
tungsträger.
Die Revision ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Ab-
weichung von dem Urteil des Senats vom 4. August 2006 (a.a.O.) zuzulassen.
Das Berufungsgericht ist von den in diesem Urteil aufgestellten Rechtssätzen
schon nicht in entscheidungserheblicher Weise abgewichen.
Das Berufungsgericht hat - im Einklang mit der Entscheidung des Senats vom
4. August 2006 (a.a.O.) - angenommen, dass eine „der in Absatz 2 genannten
Vereinbarungen endgültig nicht abgeschlossen (ist) im Sinne von § 93 Abs. 3
Satz 1 BSHG Fassung 1999“ und folglich ein in § 93 Abs. 3 BSHG Fassung
1999 geregelter Fall einer nicht vertragsgebundenen Einrichtung nur dann ge-
geben ist, „wenn weder endgültige Vereinbarungen noch vorläufige (Vergü-
tungs-)Vereinbarungen oder … vorliegen und das Zustandekommen endgülti-
ger Vereinbarungen auch nicht mehr zu erwarten ist“ (BA S. 11 Abs. 2). Auch
die weiteren Ausführungen im Berufungsbeschluss sind von der Auffassung
getragen, dass ein Fall des § 93 Abs. 3 BSHG nicht vorliegt, solange Verhand-
lungen/Verfahren über in Absatz 2 genannte Vereinbarungen noch laufen (BA
S. 13 Abs. 2, S. 14 Abs. 2 und 3), also der Abschluss einer endgültigen Verein-
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barung bzw. eine vereinbarungsgestaltende Schiedsstellenentscheidung noch
möglich ist. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, dass kein Fall des § 93
Abs. 3 BSHG vorliegt, setzt demnach die Feststellung voraus und enthält sie
- jedenfalls konkludent, aber auch ausdrücklich (BA S. 14 Abs. 4/S. 15 Abs. 1) -,
dass das Zustandekommen endgültiger Vereinbarungen bzw. einer
bestandskräftigen Schiedsstellenentscheidung noch möglich ist. Nach der Auf-
fassung des Berufungsgerichts ist bei erbrachten Abschlagszahlungen „die
Übernahme eines über diese Abschlagszahlungen hinausgehenden Heiment-
gelts nach der gesetzlichen Konzeption … ausgeschlossen, solange Verhand-
lungen/Verfahren über diese Vereinbarungen … laufen“ (BA S. 14 Abs. 3). Da-
nach ist auch das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf
höhere Leistungen lediglich derzeit nicht besteht und damit für den Fall der
noch ausstehenden Entscheidung über das endgültig geschuldete Entgelt eine
weitere Leistung noch in Betracht kommt. Daraus ergibt sich für den umgekehr-
ten Fall, dass eine Vereinbarung bzw. eine sie gestaltende Schiedsstellenent-
scheidung zwischen einer Einrichtung und dem örtlich zuständigen Träger der
Sozialhilfe tatsächlich und rechtlich nicht mehr möglich ist, ein „anderer Fall“
i.S.d. § 93 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BSHG (F. 1994) bzw. ein Fall des § 93 Abs. 3
Satz 1 BSHG (F. 1999) vorliegt, aufgrund dessen eine weitere Leistung in Be-
tracht kommen kann.
Jedenfalls die Ergebnisrichtigkeit der Berufungsentscheidung steht in entspre-
chender Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO (stRspr; vgl. etwa Beschlüsse
vom 17. März 1998 - BVerwG 4 B 25.98 - Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht
Nr. 66 und vom 22. August 1996 - BVerwG 8 B 100.96 - Buchholz 310 § 144
VwGO Nr. 62 m.w.N.) der Zulassung der Revision entgegen.
Die weitere Frage schließlich
„Ab welchem Zeitpunkt und anhand welcher Kriterien kann
beurteilt werden, ob ein angestrebter Abschluss einer Ver-
einbarung bzw. einer vereinbarungsgestaltenden Schieds-
stellenentscheidung tatsächlich und rechtlich möglich ist?"
ist nicht generell abstrakt, sondern nur auf den Einzelfall bezogen zu beantwor-
ten. Sie würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren auf der Grundlage
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der Feststellungen des Berufungsgerichts in der angegriffenen Entscheidung
auch nicht stellen.
2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zu-
zulassen.
Es erscheint bereits fraglich, ob - wie die Beschwerde meint - der Berufungs-
entscheidung ein (abstrahierungsfähiger) Grundsatz dahin entnommen werden
kann,
„dass Vereinbarungen über vorläufige Abschlagsbeträge
auf den zu erwartenden Pflegesatz, welche infolge von
Beschlüssen im einstweiligen Rechtsschutz geschlossen
sind, nach Sinn und Zweck des § 93 BSHG Fassung 1999
einer endgültigen Vereinbarung im Sinne des § 93 Abs. 2
BSHG gleichzusetzen sind und daher die Anwendung des
Ausnahmetatbestandes des § 93 Abs. 3 BSHG allein da-
durch ausgeschlossen ist."
Aus den weiteren Ausführungen in der Berufungsentscheidung ergibt sich - wie
bereits ausgeführt -, dass vorläufigen Vereinbarungen und darauf beruhenden
Abschlagszahlungen Bedeutung nur zukommt, wenn endgültige Vereinbarun-
gen noch zu erwarten sind (BA S. 11 Abs. 2), und eine (vorläufige) Beschrän-
kung der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers auf Abschlagszahlungen nur bis
zum Inkrafttreten einer endgültigen Regelung berechtigt ist (BA S. 11). Das
Berufungsgericht setzt die vorläufigen Vereinbarungen den endgültigen mithin
nicht insgesamt gleich, sondern nur insoweit, als sie seiner (zutreffenden) Auf-
fassung nach einer Übernahme der Vergütung gemäß § 93 Abs. 3 BSHG ent-
gegenstehen. Außerdem käme es darauf nach dem Urteil des Senats vom
4. August 2006 (a.a.O.) nicht an.
Es kann auch offenbleiben, ob die Gleichsetzung von vorläufigen mit endgülti-
gen Vereinbarungen in Bezug auf den Anwendungsausschluss des § 93 Abs. 3
BSHG durch das Berufungsgericht von dem Urteil vom 4. August 2006 (a.a.O.
juris u.a. Rn. 24) abweicht. Nach diesem Urteil ist ein Anspruch auf endgültig
höhere Sozialhilfeleistungen für die Heimunterbringung nicht deshalb - derzeit -
unbegründet, weil für die streitgegenständliche Zeit vorläufige Entgelte bzw.
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Vergütungen sei es aufgrund von Schiedsstellenentscheidungen oder von ge-
richtlichen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz festgesetzt oder als
vorläufig vereinbart worden sind, sondern deshalb, weil eine angestrebte end-
gültige Vereinbarung (noch) nicht abgeschlossen ist bzw. eine Schiedsstellen-
entscheidung noch nicht bestandskräftig ist, solches aber noch möglich ist. Im
Einklang hiermit hat das Berufungsgericht - wie ebenfalls bereits ausgeführt -
zwischen vorläufiger und endgültiger Vergütungsvereinbarung differenziert und
darauf abgestellt, dass „solange (die) auf den Abschluss (endgültiger) Verein-
barungen gerichteten Verhandlungen/Verfahren ‚schweben’ und im Hinblick
hierauf Abschläge an den Einrichtungsträger gezahlt werden, nicht angenom-
men werden (kann), dass Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 Satz 1 BSHG Fas-
sung 1999 nicht abgeschlossen sind und damit ein Fall einer nicht vertragsge-
bundenen Einrichtung vorliegt, den allein § 93 Abs. 3 Satz 1 BSHG Fassung
1999 regelt“ (BA S. 11 Abs. 1).
Selbst wenn das Berufungsgericht mit einer Gleichsetzung von vorläufigen und
endgültigen Vereinbarungen von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vom 4. August 2006 a.a.O. abweichen sollte, so beruht die Berufungsentschei-
dung jedenfalls hierauf nicht. Denn diese Gleichsetzung ist für den Ausschluss
der Anwendung des § 93 Abs. 3 BSHG in der Berufungsentscheidung nicht
tragend.
Die ferner geltend gemachte Abweichung vom Urteil des Senats vom 20. Ok-
tober 1994 - BVerwG 5 C 28.91 - BVerwGE 97, 53 liegt schon deswegen nicht
vor, weil die vermeintlich divergierenden Entscheidungen nicht zu derselben
Regelung ergangen sind. § 93 BSHG ist durch das Zweite Gesetz zur Umset-
zung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezem-
ber 1993 (BGBl I S. 2374) zum 1. Juli 1994 grundlegend umgestaltet worden.
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Hund Schmidt Dr. Franke
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