Urteil des BVerwG vom 18.06.2007

Vorrang, Hund, Leistungsvereinbarung, Sozialhilfe

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 104.06
OVG 4 LC 14/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Juni 2007
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 12. Juli 2006 wird zurückgewie-
sen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist nicht begründet.
I. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor; die Rechtssache hat
nicht die ihr von der Beschwerde beigemessene grundsätzliche Bedeutung.
1. Der Senat lässt offen, ob sich die Entscheidung des Berufungsgerichts nach
den im Urteil des Senats vom 4. August 2006 - BVerwG 5 C 13.05 - (BVerwGE
126, 295) aufgestellten Grundsätzen deswegen als im Ergebnis richtig erweist
(§ 144 Abs. 4 VwGO), weil eine Vereinbarung bzw. eine sie gestaltende
Schiedsstellenentscheidung zwischen der Einrichtung, in der der Kläger in dem
streitbefangenen Zeitraum betreut worden ist, und dem örtlich zuständigen Trä-
ger der Sozialhilfe tatsächlich und rechtlich möglich ist und daher die Gewäh-
rung von Sozialhilfe ohne Bezug zu einer Vereinbarung „gesperrt“ ist. Der Ein-
richtungsträger hatte hier für die Außenwohngruppe in C. ein Leistungsangebot
vorgelegt, und zwar mit dem Ziel des Abschlusses einer Leistungsvereinbarung,
zu der es bislang nicht gekommen ist; die auf Abschluss einer Leistungs-
vereinbarung gerichtete Klage des Klinikums W. hat das Verwaltungsgericht
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Hannover mit Urteil vom 30. März 2006 (- 7 A 158/03 -) abgewiesen; der hier-
gegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung (bei dem Berufungsgericht
unter dem Aktenzeichen 4 LA 150/06 anhängig) ist noch nicht beschieden. Der
Senat lässt auch offen, inwieweit die Erwägungen in dem Beschluss des Senats
vom 22. März 2005 - BVerwG 5 B 55.04 - im vorliegenden Fall hätten Geltung
beanspruchen können.
2. Die als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Rechtsfrage,
„1.
Genügt ein im Rahmen des § 93 Abs. 3 BSHG (Fassung
1999) unterbreitetes Angebot den Voraussetzungen des
§ 93a Abs. 1 BSHG, wenn in dem Angebot die Inhalte auf-
geführt werden, die in ständiger Verwaltungspraxis vom
zuständigen Sozialhilfeträger vereinbart werden und die
Gegenstand von Rahmenleistungsbeschreibungen sind,
die Grundlage der Verwaltungspraxis sind? Ist diese Ver-
waltungspraxis bei der Auslegung der unbestimmten
Rechtsbegriffe ‚Ziel und Qualität der Leistung’ zu berück-
sichtigen?“,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht, weil sie sich, soweit sie auf eine
fallübergreifende Klärung der Auslegung revisiblen Bundesrechts gerichtet ist,
unmittelbar aus dem Gesetz beantworten lässt. Welche Anforderungen an ein
Leistungsangebot nach § 93 Abs. 3 Satz 2 BSHG (F. 1999) zu stellen sind, folgt
aus § 93a Abs. 1 BSHG, auf den verwiesen wird. Es ist anhand des Angebotes
zu beurteilen, ob es den gesetzlichen Anforderungen des § 93a Abs. 1 BSHG
(F. 1999) entspricht. Ist dies nicht der Fall, rechtfertigt keine andere Beurteilung,
dass in dem Leistungsangebot die Inhalte aufgeführt worden sein mögen
- hierzu enthält das Berufungsurteil keine tatrichterlichen Feststellungen -, „die
in ständiger Verwaltungspraxis vom zuständigen Sozialhilfeträger vereinbart
werden“. Eine ständige Verwaltungspraxis, die mit dem Gesetz nicht in Einklang
steht, hat keine gesetzesderogierende Kraft und ist auch nicht bei der
Anwendung und Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Ziele und Quali-
tät der Leistung“ zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht hat zudem einge-
hend dargelegt (Urteilabdruck S. 12 bis 15), dass und aus welchen Gründen
das im September 1999 unterbreitete Leistungsangebot für den entschei-
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dungserheblichen Zeitraum nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen ent-
spricht. Es hat dabei aber nicht - wie in der zur revisionsgerichtlichen Prüfung
zu stellenden Frage vorausgesetzt - festgestellt, dass das Angebot die Inhalte
umfasste, „die in ständiger Verwaltungspraxis vom zuständigen Sozialhilfeträger
vereinbart werden und die Gegenstand von Rahmenleistungsbeschreibungen
sind“.
3. Auch die Fragen,
„2.
a) Wird gegen den Bedarfsdeckungsgrundsatz verstoßen,
wenn die Übernahme der Unterbringungskosten für den
Aufenthalt in einer Einrichtung mit der Begründung versagt
wird, das Leistungsangebot des Einrichtungsträgers, in
dessen Einrichtung der Hilfesuchende untergebracht ist,
genüge nicht den gesetzlichen Voraussetzungen, obwohl
der Hilfesuchende eine bedürfnisentsprechende
Versorgung durch die Einrichtung erhält?
b) Muss der Sozialhilfeträger darauf hinweisen, dass das
Leistungsangebot der Einrichtung, in der der Hilfesuchen-
de die Hilfe begehrt, nicht den Anforderungen des § 93a
BSHG (Fassung 1999) genügt und aus welchen Gründen
die Voraussetzungen des § 93a BSHG nicht erfüllt wer-
den?“,
rechtfertigen nicht die Zulassung der Revision. Sie verknüpfen Rechtsfragen mit
tatsächlichen Voraussetzungen, die so von dem Berufungsgericht nicht
festgestellt worden sind.
Die Beschwerde gibt keinen Anlass zur Klärung, ob bzw. unter welchen Vor-
aussetzungen in Fällen, in denen bei einer Betreuung in einer nicht vereinba-
rungsgebundenen Einrichtung auch kein § 93 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 93a Abs. 1
BSHG (F. 1999) genügendes Leistungsangebot vorgelegt worden ist, in Be-
tracht kommt, dass das zwischen Hilfeempfänger und Einrichtung vereinbarte
Heimentgelt gleichwohl im Hinblick auf den Bedarfsdeckungsgrundsatz des So-
zialhilferechts zu übernehmen ist, wenn eine ebenfalls geeignete und zumutba-
re anderweitige Hilfemöglichkeit nicht besteht (so insoweit zu Gunsten des Klä-
gers das Berufungsurteil, Urteilsabdruck S. 16). Denn nach den nicht mit Ver-
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fahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts
war dem Kläger ein ihm zumutbare, bedarfsdeckende Alternative der Betreuung
in einer Einrichtung angeboten worden, für die Vereinbarungen im Sinne des
§ 93 Abs. 2 BSHG bestanden bzw. angestrebt wurden (und in diesem Sinne
„vereinbarungsgebundenen Einrichtung“). Nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts (Urteilsabdruck S. 17) bestanden dabei keine Anhaltspunkte,
dass die als Betreuungsalternative angebotene Einrichtung zur Betreuung des
Klägers nicht geeignet oder nicht zumutbar gewesen sei. Vor diesem
Hintergrund sind auch die von dem Kläger aufgeworfenen Fragen nicht ent-
scheidungserheblich, weil die Betreuung gerade in der vom Kläger tatsächlich
genutzten Einrichtung nicht zur Bedarfsdeckung erforderlich war und daher kein
Verstoß gegen das Bedarfsdeckungsprinzip in Betracht kam. Dies gilt um so
mehr, als der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsge-
richts die seinen Bedarf deckende Haupteinrichtung in I. freiwillig verlassen hat,
ohne den Beklagten zu informieren, der hiervon erst über neun Monate später
erfahren hat. Auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens ist klar, dass
zumindest in einem Fall, in dem die andere Einrichtung die nach § 93 Abs. 3
Satz 2 i.V.m. § 93a Abs. 1 BSHG (F. 1999) zu stellenden Anforderungen nicht
erfüllt, der Bedarfsdeckungsgrundatz jedenfalls dann nicht die Übernahme der
Kosten für diese neue Einrichtung erfordert und dem Hilfeempfänger die Rück-
kehr in die alte Einrichtung auch ohne weiteres zuzumuten ist, wenn die alte
Einrichtung nach wie vor zur Deckung des Bedarfs geeignet ist. Wechselt der
Hilfeempfänger ohne Wissen und Mitwirkung des Leistungsträgers in eine Ein-
richtung, für die Vereinbarungen im Sinne des § 93 Abs. 2 BSHG nicht beste-
hen, handelt er auf eigene Verantwortung.
4. Auch die Fragen,
„3.
a) Sind die Grundsätze aus dem Urteil des BVerwG vom
20.10.1994 (Az. 5 C 28.91; BVerwGE 97, 53) anwendbar,
wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 3 BSHG (Fas-
sung 1999) nicht erfüllt sind, es insbesondere an der Vor-
lage eines Leistungsangebotes mangelt, das die Voraus-
setzungen des § 93a Abs. 1 Satz 1 BSHG (Fassung 1999)
erfüllt?
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b) Wenn die Grundsätze aus dem Urteil vom 20.10.1994
anwendbar sind: Reicht es aus, dass der Sozialhilfeträger
dem Hilfesuchenden eine andere Einrichtung nachgewie-
sen hat, die Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 Satz 1
BSHG abgeschlossen hat, bei der die Voraussetzungen
des § 93 Abs. 3 BSHG erfüllt sind oder aber der Ab-
schluss von Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 Satz 1
BSHG noch zu erwarten ist, oder muss die vom Sozialhil-
feträger angebotene alternative Unterbringung auch kos-
tengünstiger sein als die Unterbringung in der vom Hilfe-
suchenden gewünschten Einrichtung?
c) Wenn ein Nachweis einer Einrichtung unabhängig von
der Höhe der Unterbringungskosten in dieser Einrichtung
ausreichend ist: Reicht es aus, dass der Sozialhilfeträger
dem Hilfesuchenden eine andere Einrichtung nachgewie-
sen hat, die noch keine andere Vereinbarung nach § 93
Abs. 2 BSHG abgeschlossen hat, der Abschluss dieser
Vereinbarung aber noch möglich ist, mit der Folge, dass
eine Anwendung von § 93 Abs. 3 BSHG auf Bewohner
dieser Einrichtung nicht möglich ist?,“
führt hier nicht zur Zulassung der Revision. Soweit sie sich nach dem für den
streitbefangenen Zeitraum anzuwendenden Recht ergeben, sind sie nach dem
Urteil des Senats vom 4. August 2006 - BVerwG 5 C 13.05 - BVerwGE 126,
295 nicht (mehr) klärungsbedürftig oder stellen sich auf der Grundlage dieses
Urteils nicht (mehr) in entscheidungserheblicher Weise.
Bei der auf eine Anwendbarkeit der „Grundsätze aus dem Urteil des BVerwG
vom 20.10.1994“ gerichteten Frage ist schon zweifelhaft, ob damit in einer den
Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise eine abs-
trakte, fallübergreifender Klärung zugänglich Rechtsfrage zu einer hinreichend
bestimmten Norm des revisiblen Rechts bezeichnet ist; denn die vorbezeichne-
te Entscheidung ist zu einer Gesetzeslage ergangen, die im hier streitbefange-
nen Zeitraum nicht mehr galt, so dass zumindest zu bezeichnen gewesen wäre,
in Bezug auf welche Rechtsnorm des nunmehr anzuwendenden Rechts welcher
hierzu in dem vorbezeichneten Urteil entwickelte „Grundsatz“ weiter anzu-
wenden sein sollte. Das Berufungsgericht hat weiterhin zutreffend ausgeführt,
dass jedenfalls ab dem 1. Januar 1999 auch bei nicht vereinbarungsgebunde-
nen Einrichtungen der Anspruch auf Übernahme des Heimentgelts gemäß § 93
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Abs. 3 Satz 3 BSHG stets der Höhe nach begrenzt ist und sich daher die Frage,
ob die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit
der Übernahme des Heimentgelts entgegenstehen können, nicht in der von
dem Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 20. Oktober 1994 entschie-
denen Konstellation stellen könne.
Weiterhin ist durch das Urteil des Senats vom 4. August 2006 (- BVerwG 5 C
13.06 -) geklärt, dass der Gesetzgeber mit der Systemumstellung einen Vor-
rang der Sozialhilfegewährung auf der Grundlage von Vereinbarungen ein-
schließlich ggf. erforderlicher Schiedsstellenentscheidungen gewollt und im
Gesetz festgeschrieben hat und bei Nichtabschluss von Vereinbarungen Hilfe
durch eine solche Einrichtung nur gewährt werden kann, wenn dies nach den
Besonderheiten des Einzelfalles geboten ist.
Auch insoweit können etwa weitergehende Ansprüche aus dem Bedarfsde-
ckungsprinzip in Fällen offen bleiben, in denen bei einer nicht vereinbarungs-
gebundenen Einrichtung kein Leistungsangebot vorgelegt worden ist. Solche
Ansprüche kommen nach dem Vorrang der Sozialhilfegewährung auf der
Grundlage von Vereinbarungen jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn eine
zumutbare und geeignete Alternative in einer vereinbarungsgebundenen Ein-
richtung besteht, denen solche Einrichtungen gleichstehen, für die der ange-
strebte Abschluss einer Vereinbarung bzw. eine vereinbarungsgestaltende
Schiedsstellenentscheidung noch aussteht, rechtlich und tatsächlich aber mög-
lich ist. Für die Gesetzeskonformität der alternativen Möglichkeit der bedarfsde-
ckenden Hilfegewährung kommt es nach dem gesetzlichen Regelungssystem
auch nicht auf einen direkten Kostenvergleich zwischen der vereinbarungsge-
bundenen Einrichtung und jener Einrichtung an, für die nicht einmal ein den
gesetzlichen Mindestanforderungen entsprechendes Leistungsangebot vorge-
legt worden ist. Allein der Umstand, dass die vom Hilfesuchenden gewünschte
Einrichtung in dem Sinne „kostengünstiger“ als ein als Alternative angebotene
bedarfsdeckende vereinbarungsgebundene Einrichtung ist, dass das dort zu
zahlende Entgelt niedriger ist, erlaubt weder zur Sicherung der Bedarfsdeckung
von den gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen noch von dem Vorrang der
Hilfegewährung in Einrichtungen nach § 93 Abs. 2 BSHG abzusehen. Ohne das
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kraft Gesetzes erforderliche Leistungsangebot, das den Anforderungen des
§ 93a Abs. 1 BSHG entspricht, kann zudem regelmäßig nicht abschließend be-
urteilt werden kann, ob/inwieweit Kostendifferenzen bestehen.
II. Die Revision ist auch nicht wegen der geltend gemachten Divergenz von der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.
Eine Abweichung im Sinne dieser Vorschrift liegt nur dann vor, wenn sich das
Oberverwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem
seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in einer Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechts-
satz in Widerspruch gesetzt hat (stRspr; vgl. z.B. Beschluss vom 12. Dezember
1991 - BVerwG 5 B 68.91 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302 m.w.N.). Die
geltend gemachte Abweichung von dem Urteil des Senats vom 20. Oktober
1994 - BVerwG 5 C 28.91 - BVerwGE 97, 53 liegt hiernach schon deswegen
nicht vor, weil die vermeintlich divergierenden Entscheidungen nicht zu dersel-
ben Regelung ergangen sind. § 93 BSHG ist durch das Zweite Gesetz zur Um-
setzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (vom 21. De-
zember 1993, BGBl I S. 2374) zum 1. Juli 1994 grundlegend umgestaltet wor-
den (s. bereits Senat, Beschluss vom 15. Februar 2007 - BVerwG 5 B 48.06 -).
III. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskos-
tenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Hund Dr. Franke Prof. Dr. Berlit
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