Urteil des BVerwG vom 08.03.2004

Beweisantrag, Rechtsmittelbelehrung, Zustellung, Übereinstimmung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 4 C 8.03
VGH 8 S 259/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. März 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. L e m m e l , H a l a m a ,
Prof. Dr. R o j a h n und Dr. J a n n a s c h
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 2. April 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zu-
rückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger wendet sich gegen eine Baugenehmigung, die der Beklagte den Beigela-
denen für die Erweiterung eines bestehenden Stalles und für den Neubau eines
Schweinestalles erteilt hat. Seine Klage ist vom Verwaltungsgericht als unbegründet
abgewiesen worden.
Der Kläger hat beantragt, die Berufung zuzulassen. Zur Begründung hat er insbe-
sondere gerügt, dass das Verwaltungsgericht dem Gutachten des TÜV gefolgt sei,
ohne sich mit dem von ihm - dem Kläger - vorgelegten Gegengutachten des Sach-
verständigen Dr. K. auseinander zu setzen. Hierzu hat er nähere Ausführungen ge-
macht und vorgetragen, im Berufungsverfahren sei darzulegen, dass er bereits jetzt
einer unzumutbaren Geruchsbeeinträchtigung ausgesetzt sei. Schließlich hat er an-
gekündigt, er werde im Berufungsverfahren die Aufhebung der streitigen Baugeneh-
migung beantragen.
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Das Berufungsgericht hat die Berufung mit Beschluss vom 6. Februar 2003 zugelas-
sen, weil ernstliche Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit
der Entscheidung des Verwaltungsgerichts beständen. Denn entgegen der Auffas-
sung des Verwaltungsgerichts ergebe sich aus dem von den Beigeladenen eingehol-
ten Gutachten des TÜV nicht, dass das Vorhaben die vorhandene Immissionsbelas-
tung nicht merklich erhöhe; und auch die Schlüsse, die das Verwaltungsgericht aus
dem Gutachten Dr. K. gezogen habe, begegneten Bedenken.
Der Beschluss des Berufungsgerichts enthält eine Belehrung über das zugelassene
Rechtsmittel. In ihr wird unter anderem ausgeführt, die Berufung sei innerhalb von
einem Monat nach Zustellung des Beschlusses zu begründen. Die Begründung müs-
se einen bestimmten Antrag sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der An-
fechtung (Berufungsgründe) enthalten.
Der Beschluss ist dem Kläger am 12. Februar 2003 zugestellt worden. Mit Schriftsatz
vom 3. März 2003 hat der Kläger beantragt, den Sachverständigen Dr. K. zur Rich-
tigkeit seiner gutachterlichen Ausführungen und zur etwaigen Befragung durch den
Senat zu laden und zu vernehmen. Weitere Ausführungen enthält das am 5. März
2003 beim Berufungsgericht eingegangene Schreiben nicht.
Mit Beschluss vom 2. April 2003 hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers
verworfen, weil sie nicht binnen eines Monats ordnungsgemäß begründet worden
sei. Ein Schriftsatz, mit dem der Kläger lediglich beantrage, einen im erstinstanzli-
chen Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen zu laden und zu vernehmen,
stelle keine den Anforderungen des § 124a Abs. 6 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO
genügende Berufungsbegründung dar.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend: Ein gesonderter
Schriftsatz zur Berufungsbegründung sei entbehrlich, wenn sich das Berufungs-
begehren und die dafür wesentlichen Gründe bereits aus dem Zulassungsantrag ent-
nehmen ließen. Der Berufungsbegründung sei jedenfalls Genüge getan, wenn er in
einem gesonderten Schriftsatz zu erkennen gebe, dass er weiterhin die Durchfüh-
rung des Berufungsverfahrens erstrebe und auf sein Vorbringen im Zulassungsver-
fahren Bezug nehme. Auch eine konkludente Bezugnahme reiche aus. Diesen Er-
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fordernissen genüge der Schriftsatz vom 3. März 2003. Die Frist des § 124a Abs. 6
Satz 1 VwGO wäre selbst dann nicht versäumt, wenn man strengere Anforderungen
an die Berufungsbegründung stellen würde. Denn der Zulassungsbeschluss habe
keine ausreichende Rechtsmittelbelehrung enthalten. Die Belehrung müsse nämlich
konkret auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnitten werden. Es hätte deshalb aus-
drücklich dargelegt werden müssen, dass die Antragstellung und Begründung im
Zulassungsverfahren für das Berufungsverfahren nicht ausreiche, sondern dass in
einem Schriftsatz ausdrücklich auf die Begründung Bezug genommen werden müs-
se. Die Berufung sei begründet, weil die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung
das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verletze.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 2. April
2003 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung zurückzuverweisen,
hilfsweise,
den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 2. April
2003, das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Juli 2002 sowie die
Baugenehmigung des Beklagten vom 28. August 2000 in Gestalt des Wi-
derspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 8. Februar
2001 aufzuheben.
Der Beklagte und die Beigeladenen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte macht geltend, der Schriftsatz vom 3. März 2003 enthalte weder eine
schlüssige Berufungsbegründung noch könne er in eine solche umgedeutet werden.
Der Kläger habe die Berufung nicht begründen, sondern einen Beweisantrag stellen
wollen. Ferner fehle der Berufungsantrag. Der Zweck der Berufungsbegründungs-
pflicht bestehe darin, durch klare prozessuale Kriterien zu einer Verkürzung und Be-
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schleunigung des Berufungsverfahrens beizutragen. Hierfür reiche der Schriftsatz
vom 3. März 2003 nicht aus. Die Rechtsmittelbelehrung im Zulassungsbeschluss sei
nicht zu beanstanden.
Auch die Beigeladenen sind der Auffassung, dass der Schriftsatz des Klägers vom
3. März 2003 den Anforderungen an eine Berufungsbegründung nicht genüge.
II.
Über die Revision des Klägers entscheidet der Senat gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im
schriftlichen Verfahren, weil die Verfahrensbeteiligten auf die Durchführung einer
mündlichen Verhandlung verzichtet haben.
Die zulässige Revision ist begründet. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht die Beru-
fung des Klägers verworfen. Denn der von ihm angenommene Verstoß gegen die
Begründungspflicht liegt nicht vor.
1. Allerdings ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Beru-
fung gemäß § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO nach Zustellung des Zulassungsbeschlus-
ses durch einen gesonderten Schriftsatz innerhalb eines Monats begründet werden
muss. Mit der Einreichung der Begründungsschrift nach Zulassung der Berufung soll
der Berufungskläger nämlich eindeutig zu erkennen geben, dass er nach wie vor an
der Durchführung des Berufungsverfahrens interessiert ist (BVerwG, Urteil vom
30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - BVerwGE 107, 117 <121> = NVwZ 1998, 1311 -
zu § 124a Abs. 3 VwGO 1996; Beschluss vom 3. Dezember 2002 – BVerwG 1 B
429.02 - NVwZ 2003, 868 - zum wortgleichen § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO 2001;
stRspr). Entgegen der Rechtsauffassung der Revision genügt es deshalb nicht, dass
die Anträge und die Begründung der Berufung schon im Antrag auf Zulassung der
Berufung enthalten waren. Die im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom
25. August 1997 - BVerwG 9 B 690.97 - (DVBl 1997, 1325) geäußerte gegenteilige
Auffassung ist bereits im Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - (a.a.O.) aus-
drücklich aufgegeben worden.
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2. Zu Unrecht macht die Revision ferner geltend, der Kläger habe die Monatsfrist des
§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO zur Berufungsbegründung nicht versäumt, weil der Zu-
lassungsbeschluss vom 6. Februar 2003 keine ausreichende Rechtsmittelbelehrung
enthalten habe, so dass er die Berufung wegen der unrichtig erteilten Belehrung ge-
mäß § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO innerhalb eines Jahres habe begründen können und
die in seinem Schriftsatz vom 10. Juni 2003 enthaltene Begründung noch rechtzeitig
beim Berufungsgericht eingegangen sei. Dem ist nicht zu folgen. Die dem Kläger er-
teilte Rechtsmittelbelehrung ist nicht zu beanstanden. Insbesondere wird in ihr in
Übereinstimmung mit § 124a Abs. 6 Satz 1 und 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO zutreffend
darauf hingewiesen, dass die Berufung nach Zustellung des Zulassungsbeschlusses
zu begründen sei und dass die Begründung einen bestimmten Antrag sowie die im
Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten müs-
se. Eine auf die Besonderheiten des Einzelfalles eingehende Belehrung, wie sie die
Revision wünscht, ist nicht erforderlich.
3. Der innerhalb der Monatsfrist des § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO beim Berufungsge-
richt eingegangene Schriftsatz des Klägers vom 3. März 2003 genügt jedoch den
Mindestanforderungen, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts an eine Berufungsbegründung zu stellen sind.
Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass hinreichend deutlich zum Ausdruck
kommt, dass und weshalb der Berufungsführer an der Durchführung des zugelasse-
nen Berufungsverfahrens festhalten will (BVerwG, Beschluss vom 1. Dezember 2000
- BVerwG 9 B 549.00 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 60). Im Übrigen kommt
es wesentlich auf die Umstände des konkreten Einzelfalles an (BVerwG, Beschluss
vom 15. Oktober 1999 - BVerwG 9 B 499.99 - NVwZ 2000, 315). Eine Bezugnahme
auf das Zulassungsvorbringen im Begründungsschriftsatz ist zulässig und kann - je
nach den Umständen des Einzelfalles - für eine ordnungsgemäße Berufungsbegrün-
dung ausreichen (BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - BVerwGE
107, 117 <122>). Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kann es zur Berufungs-
begründung auch genügen, dass der Berufungsführer innerhalb der Berufungsbe-
gründungsfrist durch einen gesonderten Schriftsatz erkennbar zum Ausdruck bringt,
dass er die Berufung durchführen will und weshalb er sie für begründet hält. Einer
ausdrücklichen Bezugnahme auf das bereits im Antrag auf Zulassung der Berufung
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enthaltene Begehren und die dort genannten Gründe bedarf es insbesondere nicht,
wenn sich beides aus dem Gesamtzusammenhang (Urteil erster Instanz, Antrag auf
Zulassung der Berufung und Zulassungsbeschluss) hinreichend deutlich ergibt. Ein
solcher Fall liegt hier vor.
Allerdings ist der Schriftsatz des Klägers vom 3. März 2003 nicht als Berufungsbe-
gründung gekennzeichnet. Er dürfte nicht einmal als Berufungsbegründung gedacht
gewesen sein. Allem Anschein nach ist der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter
davon ausgegangen, dass eine Begründung nach Zulassung der Berufung nicht
nötig sei, und hat in Ergänzung seiner Begründung im Zulassungsverfahren nur noch
einen Beweisantrag für das Berufungsverfahren stellen wollen. Gleichwohl ergibt sich
aus diesem Beweisantrag, dass das Berufungsverfahren durchgeführt werden soll.
Das stellt auch das Berufungsgericht nicht in Frage. Der Schriftsatz enthält ferner die
stillschweigende Mitteilung, dass der Kläger jedenfalls insoweit an seinem bisherigen
Vortrag aus dem Zulassungsverfahren festhalte, als er sich wegen seines Antrags,
die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung aufzuheben, auf den Sachverständi-
gen Dr. K. berufen hat. Geht man - in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - mit dem Berufungsgericht davon
aus, dass im vorliegenden Fall eine ausdrückliche Bezugnahme auf das Vorbringen
im Zulassungsverfahren oder auf den Zulassungsbeschluss des Berufungsgerichts
als Begründung im Sinne von § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO ausgereicht hätte, so
erscheint es als unangemessen, die in dem Beweisantrag enthaltene still-
schweigende Bezugnahme auf die Begründung im Zulassungsverfahren nicht aus-
reichen zu lassen. Dies gilt hier umso mehr, weil das Berufungsgericht selbst in sei-
nem ausführlich begründeten Zulassungsbeschluss Zweifel an der Richtigkeit der
Entscheidung des Verwaltungsgerichts geäußert und deutlich gemacht hatte, dass es
im Berufungsverfahren um die Begutachtung der von den Stallanlagen ausgehenden
Gerüche und damit auch und vor allem um eine Auseinandersetzung mit den
Stellungnahmen des TÜV und des Sachverständigen Dr. K. gehen werde. Der Zweck
der Begründungspflicht nach § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO besteht zwar, wie der
Beklagte zutreffend geltend macht, darin, dass der Berufungskläger eindeutig
klarstellt, dass er die Berufung durchführen will und weshalb er sie für begründet hält
(vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2001 - BVerwG 1 C 33.00 - BVerwGE 114, 155
<158>). Deshalb verbietet es sich, in jedem innerhalb der Berufungsbegründungsfrist
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eingehenden Schriftsatz des Berufungsklägers eine stillschweigende Berufungsbe-
gründung zu sehen. Im vorliegenden Fall bestehen jedoch weder Zweifel am Willen
des Klägers, das Berufungsverfahren durchzuführen, noch an seiner Begründung
und am Ziel des Verfahrens.
An die Berufungsbegründung dürfen auch nicht deshalb erhöhte Anforderungen ge-
stellt werden, weil der Kläger in seinem Zulassungsantrag weiteren Vortrag für das
Berufungsverfahren angekündigt hatte. Denn eine Verpflichtung hierzu begründet
diese Ankündigung nicht.
4. Das Berufungsgericht hätte die Berufung des Klägers deshalb nicht als unzulässig
verwerfen dürfen. In der Sache kann das Revisionsgericht nicht entscheiden, weil
das Berufungsgericht - von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent - keine
tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, die eine abschließende Beurteilung er-
möglichen. Daher ist das Berufungsurteil gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO
nur aufzuheben; die Sache ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Dr. Paetow Dr. Lemmel Halama
Prof. Dr. Rojahn Dr. Jannasch
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € fest-
gesetzt.
Dr. Paetow Dr. Lemmel Halama
Prof. Dr. Rojahn Dr. Jannasch