Urteil des BVerwG vom 07.01.2015

Europäische Kommission, Aussetzung, Urg, Aeuv

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 C 13.14
OVG 5 K 19/09
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Januar 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Dr. Decker
beschlossen:
Das Verfahren wird mit Rücksicht auf die beim Europäi-
schen Gerichtshof von der Europäischen Kommission
gemäß Art. 258 Abs. 2 AEUV unter dem 21. März 2014
eingereichte Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland
(C-137/14) ausgesetzt.
G r ü n d e :
1. Die Klägerin wendet sich gegen die naturschutzrechtliche Ersatzmaßnahme
„Martensches Bruch“, die der Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom
6. August 2009 für die mit dem Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung-OPAL-
Vorhaben verbundenen Eingriffe in Natur und Landschaft vorsieht. Inhalt der
Kompensationsmaßnahme ist die Wiedervernässung des Martenschen Bruches
durch Wasseranstau in dessen Wasserläufen während eines mehrjährigen Zeit-
raumes. Vorhabenträger sind die Beigeladenen. Die Ortslage der Klägerin be-
findet sich im Norden der zu vernässenden und zu überflutenden Flächen des
„Martenschen Bruches“ in einer Entfernung von etwa drei bis vier Kilometern.
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Die gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 6. August 2009 erhobene Klage
hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 12. Juni 2014 abgewiesen. Es
war der Auffassung, dass die Klage unbegründet ist, weil die Klägerin mit ihren
Einwendungen gemäß § 43a Nr. 7 EnWG präkludiert sei. Das gelte auch für
einen Aufhebungsanspruch nach § 4 Abs. 3, Abs. 1 Satz 2 UmwRG.
Die Klägerin hat die vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Be-
deutung bislang höchstrichterlich noch nicht geklärter Fragen der Einwen-
dungspräklusion von Gemeinden in Bezug auf die Vorschriften des Umwelt-
rechtsbehelfsgesetzes zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Meinung,
dass eine Präklusion nach § 43a Nr. 7 EnWG nicht eingetreten sei. Die Ausle-
gung des § 4 Abs. 3, Abs. 1 Satz 2 UmwRG durch das Oberverwaltungsgericht
sei zudem mit Art. 11 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung
bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. EU 2012 L 26 S. 1
- UVP-RL -) und der sog. Altrip-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-72/12 [ECLI:EU:C:2013:712], Ge-
meinde Altrip - NVwZ 2014, 49 = ZfBR 2014, 61 = DVBl 2013, 1597) nicht ver-
einbar.
Beklagter und Beigeladene verteidigen das angefochtene Urteil. Mit Schriftsatz
vom 15. Dezember 2014 regte der Beklagte an, das vorliegende Verfahren im
Hinblick auf das von der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik
Deutschland eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gemäß § 94 VwGO
auszusetzen. Nach Ansicht der Kommission soll die Bundesrepublik Deutsch-
land u.a. gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 11 UVP-RL verstoßen haben, in-
dem sie die Bestimmungen der UVP-Richtlinie grundsätzlich als keine subjekti-
ven Rechte verleihend ansehe und damit deren gerichtliche Geltendmachung
durch Einzelpersonen wegen § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO weitgehend aus-
schließe, sowie dadurch, dass sie die Klagebefugnis und den gerichtlichen
Prüfumfang auf Einwendungen beschränke, die bereits innerhalb der Einwen-
dungsfrist im Verwaltungsverfahren, das zur Annahme der Entscheidung ge-
führt hat, eingebracht worden seien (§ 2 Abs. 3 UmwRG und § 73 Abs. 6
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VwVfG). Beigeladene und Klägerin haben einer Aussetzung des Verfahrens
zugestimmt.
2. Im Einverständnis mit allen Beteiligten wird das Verfahren in entsprechender
Anwendung des § 94 VwGO ohne gleichzeitige Vorlage an den Europäischen
Gerichtshof ausgesetzt. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:
a) Die Abweisung der Klage als unbegründet hat das Oberverwaltungsgericht
damit begründet, dass die Klägerin ihre Einwendungen gegen den Planfeststel-
lungsbeschluss vom 6. August 2009 nicht rechtzeitig geltend gemacht habe; sie
sei damit gemäß § 43a Nr. 7 EnWG präkludiert. Das gelte auch in Bezug auf
die fehlerhafte Vorprüfung der Umweltverträglichkeit des verfahrensgegen-
ständlichen Vorhabens. Damit ist vorliegend nicht nur die Frage entscheidungs-
erheblich, ob die Voraussetzungen des § 43a Nr. 7 EnWG gegeben sind (was
die Klägerin bestreitet), sondern vielmehr als Vorfrage hierzu zu klären, ob die
Norm mit Unionsrecht im Einklang steht. Denn ist letzteres nicht der Fall, darf
§ 43a Nr. 7 EnWG nicht angewendet werden und muss nicht mehr geklärt wer-
den, ob die Voraussetzungen der Präklusionsnorm erfüllt sind. Die Klägerin wä-
re dann mit ihren Einwendungen nicht ausgeschlossen, ihre Revision voraus-
sichtlich erfolgreich.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar bereits mehrfach die Unionsrechtskon-
formität der Präklusionsregelungen im deutschen Recht geprüft und bejaht (vgl.
BVerwG, Urteile vom 14. Juli 2011 - 9 A 12.10 - BVerwGE 140, 149 zu § 17a
Nr. 7 Satz 2 FStrG und vom 14. April 2010 - 9 A 5.08 - BVerwGE 136, 291 zu
§ 61 Abs. 3 BNatSchG 2002; Beschlüsse vom 14. September 2010 - 7 B
15.10 - Buchholz 406.254 URG Nr. 2 zu § 2 Abs. 3 UmwRG und zu § 10 Abs. 3
BImSchG und vom 11. November 2009 - 4 B 57.09 - Buchholz 406.254 URG
Nr. 1 zu § 2 Abs. 3 UmwRG), auch in Bezug auf § 43a Nr. 7 EnWG (BVerwG,
Beschluss vom 17. Juni 2011 - 7 B 79.10 - Buchholz 406.254 Nr. 3). Die Euro-
päische Kommission hält hingegen die zu § 43a Nr. 7 EnWG vergleichbaren § 2
Abs. 3 UmwRG und § 73 Abs. 6 VwVfG für unionsrechtswidrig und hat u.a.
deshalb beim Europäischen Gerichtshof ein Vertragsverletzungsverfahren ge-
gen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet (C-137/14). Wie der Gerichts-
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hof entscheiden wird, erscheint als offen (vgl. BVerwG, Beschluss vom
16. September 2014 - 7 VR 1.14 - NuR 2014, 782 - juris Rn. 17).
b) Im Regelfall verpflichtet Art. 267 Abs. 3 AEUV das nationale Gericht, den
Europäischen Gerichtshof zur Klärung einer - wie hier - entscheidungserhebli-
chen und zweifelhaften Frage des Unionsrechts anzurufen. Im vorliegenden Fall
kann der Rechtsstreit jedoch ohne Vorlage an den Gerichtshof in entsprechen-
der Anwendung des § 94 VwGO ausgesetzt werden.
Im Einklang mit der Praxis anderer oberster Bundesgerichte (vgl. BVerwG, Be-
schluss vom 10. November 2000 - 3 C 3.00 - BVerwGE 112, 166 = juris Rn. 11
m.w.N.) hält es der Senat unter den hier gegebenen Umständen für zulässig
und sachgerecht, den Rechtsstreit auszusetzen, ohne zugleich eine Vorabent-
scheidung des Gerichtshofs einzuholen. Denn die im vorliegenden Verfahren
entscheidungserhebliche Frage der Vereinbarkeit des § 43a Nr. 7 EnWG mit
Unionsrecht ist in der Sache bereits Gegenstand des beim Europäischen Ge-
richtshof anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens. Die Anrufung in einem
Vorlageverfahren würde zum einen den Gerichtshof zusätzlich belasten, ohne
dass davon irgendein zusätzlicher Erkenntniswert zu erwarten wäre; weder in
tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht verlässt das vorliegende Verfahren
den Rahmen, der Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens ist. Zum an-
deren bestünde die Gefahr, dass sich durch ein weiteres Vorlageverfahren die
Beantwortung der entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Frage sogar
hinauszögern könnte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. November 2000 - 3 C
3.00 - BVerwGE 112, 166 = juris Rn. 11). Schließlich haben sich die Beteiligten
mit einer Aussetzung des Verfahrens ohne Vorlage an den Europäischen Ge-
richtshof im Hinblick auf das anhängige Vertragsverletzungsverfahren einver-
standen erklärt.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Decker
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