Urteil des BVerwG vom 16.03.2010

Bebauungsplan, Genehmigungsverfahren, Prognostische Beurteilung, Kraftwerk

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 66.09
OVG 10 D 121/07.NE
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. März 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
beschlossen:
Die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigela-
denen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Ur-
teil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 3. September 2009 werden zurückgewie-
sen.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Kos-
ten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte mit Ausnah-
me ihrer außergerichtlichen Kosten, die sie jeweils selbst
tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Das Oberverwaltungsgericht hat den Bebauungsplan Nr. 105 - E.ON Kraft-
werk - vom 15. Januar 2007 für unwirksam erklärt. Der Bebauungsplan soll die
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planungsrechtlichen Voraussetzungen für die Errichtung eines Steinkohlekraft-
werks mit einer Feuerungswärmeleistung von ca. 2 600 MW und einer elektri-
schen Nettoleistung von ca. 1 055 MW schaffen. Für den größten Teil des
Plangebietes ist nach § 9 Abs. 1 Nr. 12 BauGB eine Fläche für Versorgungsan-
lagen mit der Zweckbestimmung „Kraftwerk“ festgesetzt. Innerhalb dieser Flä-
che sind verschiedene Baugrenzen mit unterschiedlichen Angaben zur maxi-
malen Höhe der zulässigen baulichen Anlagen zwischen 80 m und 240 m über
NN sowie eine Grundflächenzahl von 0,8 festgesetzt.
Am 31. Januar 2007 erteilte die Bezirksregierung Münster der Beigeladenen
den beantragten immissionsschutzrechtlichen Vorbescheid zur Errichtung und
zum Betrieb eines Steinkohlekraftwerks auf der im Bebauungsplan vorgesehe-
nen Fläche sowie in der Folgezeit fünf Teilgenehmigungen für die Errichtung
des Kraftwerks. Unter anderem der Antragsteller hat gegen den Vorbescheid
und die erste Teilgenehmigung Klage erhoben.
Der Antragsteller ist Eigentümer einer ca. 1,3 km südöstlich vom Plangebiet
entfernt liegenden landwirtschaftlichen Hofstelle.
II
Die Beschwerden, die jeweils auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1
und 2 VwGO gestützt sind, bleiben ohne Erfolg.
1. Die gegen die Antragsbefugnis des Antragstellers gerichteten Rügen greifen
nicht durch.
Das Oberverwaltungsgericht hat eine Verletzung des subjektiven Rechts des
Antragstellers auf Abwägung seiner Belange nach § 1 Abs. 7 BauGB aus drei
selbständig tragenden Gründen als möglich angesehen: Das Wohnhaus und die
Betriebsflächen des Antragstellers lägen innerhalb des Untersuchungsgebiets
für Luftschadstoffe nach der TA Luft (Ziffer 4.6.2.5 TA Luft); negative
Umwelteinwirkungen durch Luftschadstoffe innerhalb dieser Flächen seien je-
denfalls nicht von vornherein auszuschließen. Weitere negative Auswirkungen
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durch die Verwirklichung des Bebauungsplans kämen im Hinblick auf eine grö-
ßere Lärmbelastung in Betracht. Schließlich und vor allem kämen negative
Auswirkungen durch den cirka 180 m hohen Kühlturm und seine Kühlturm-
schwaden sowie weitere Hochbauten in Betracht; die genannten technischen
Anlagen seien vom Wohnhaus und von Teilen seiner Betriebsflächen aus
sichtbar (UA S. 27 f.).
Ist eine Entscheidung - wie hier - auf mehrere, jeweils selbständig tragende
Gründe gestützt worden, kann eine Beschwerde nach § 132 Abs. 2 VwGO nur
Erfolg haben, wenn ein Zulassungsgrund bei jedem der Urteilsgründe zulässig
vorgetragen und gegeben ist (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG
7 B 261.97 - NJW 1997, 3328, stRspr). Die Zulassungsgründe, die die Be-
schwerden in Bezug auf die zweite und dritte Begründung geltend machen, lie-
gen nicht vor. Schon aus diesem Grund können auch ihre Rügen zur Antrags-
befugnis auf Grund der Lage des Grundstücks des Antragstellers im Untersu-
chungsgebiet nach der TA Luft (Antragsgegnerin: Rüge Nr. 1; Beigeladene:
B.I.2) den Beschwerden nicht zum Erfolg verhelfen.
1.1 Beschwerde der Antragsgegnerin
1.1.1 Im Hinblick auf die Lärmbelastung erhebt die Antragsgegnerin eine Diver-
genzrüge (Rüge Nr. 2). Das Oberverwaltungsgericht habe dem im Beschluss
vom 24. Mai 2007 - BVerwG 4 BN 16.07 - (BRS 71 Nr. 35) aufgestellten
Rechtssatz widersprochen, dass nicht jede planbedingte Lärmzunahme die An-
tragsbefugnis begründe, sondern nur Veränderungen, die die Geringfügigkeits-
schwelle überschritten. Das angefochtene Urteil basiere demgegenüber auf der
Annahme, dass planbedingte „größere Lärmbelastung“ zu abwägungser-
heblichen negativen Auswirkungen führe.
Einen solchen Rechtssatz hat das Oberverwaltungsgericht entgegen der Auf-
fassung der Antragsgegnerin weder ausdrücklich noch konkludent aufgestellt.
Wie die Bezugnahme auf das Urteil des Senats vom 24. September 1998
- BVerwG 4 CN 2.98 - (BVerwGE 107, 215) und den Beschluss vom 27. Juni
2007 - BVerwG 4 BN 18.07 - (ZfBR 2007, 685) zeigt, ist es vielmehr davon aus-
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gegangen, dass eine die Geringfügigkeitsschwelle überschreitende planbeding-
te Lärmbetroffenheit des Antragstellers nicht ausgeschlossen werden kann. Die
in den Lärmgutachten der A. GmbH und der M. GmbH genannten Werte, auf
die die Beschwerde in diesem Zusammenhang verweist, standen dieser An-
nahme schon deshalb nicht entgegen, weil gegen deren Verwertbarkeit ver-
schiedene, nicht von vornherein von der Hand zu weisende Bedenken erhoben
worden waren (UA S. 94 bis 98).
1.1.2 Im Hinblick auf die negativen Auswirkungen des Kühlturms, der Kühlturm-
schwaden und der weiteren Hochbauten bezeichnet die Antragsgegnerin fol-
gende Frage als klärungsbedürftig (Rüge Nr. 3):
Reicht es für die Annahme einer abwägungsrelevanten
Grundstücksbeeinträchtigung und damit der Antragsbe-
fugnis im Sinne des § 47 Abs. 2 VwGO aus, dass im
Plangebiet vorgesehene Anlagen von einem außerhalb
des Plangebiets liegenden Grundstück aus sichtbar sind?
Diese Frage würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn das
Oberverwaltungsgericht hat die Antragsbefugnis des Antragstellers nicht wegen
einer Beeinträchtigung durch die bloße Sicht vom Wohnhaus und den Betriebs-
flächen auf das geplante Kraftwerk bejaht. Der Antragsteller hatte seine An-
tragsbefugnis in Bezug auf Kühlturm und Kühlturmschwaden mit einer negati-
ven Veränderung der Lichtverhältnisse (Verschattung der Felder; Beeinträchti-
gungen durch die nächtliche Beleuchtung der Hochbauten) und eine Verände-
rung des Mikroklimas (Erhöhung der Luftfeuchte durch die Kühlturmschwaden)
begründet (Antragsbegründung vom 17. Oktober 2007, S. 5; Beiakte 19, Bl. 280
Rs). Die Feststellung, dass die Anlagen vom Wohnhaus und von Teilen der
Betriebsflächen aus „sichtbar“ sind, belegt lediglich, dass die Grundstücke
gegen eine vorhabenbedingte Veränderung der Belichtungs- und Beleuch-
tungsverhältnisse sowie gegen mikroklimatische Veränderungen nicht abge-
schirmt sind.
1.2 Beschwerde der Beigeladenen
1.2.1 Die Beigeladene möchte rechtsgrundsätzlich geklärt wissen (B.I.1),
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ob es eine räumliche Wirkungsgrenze von Bebauungsplä-
nen gibt, jenseits derer abwägungsrelevante Belange
zwingend ausgeschlossen sind und welche Maßstäbe bei
der Ermittlung dieser äußeren räumlichen Grenze des
Abwägungsgebotes anzulegen sind.
Diese Frage ist einer rechtsgrundsätzlichen Klärung, die über die in der Recht-
sprechung des Senats bereits entwickelten Grundsätze hinausgeht, nicht zu-
gänglich.
Nach der Rechtsprechung des Senats sind Interessen eines Eigentümers, des-
sen Grundstück nicht in den Geltungsbereich des Bebauungsplans einbezogen
werden soll, abwägungserheblich, wenn der Bebauungsplan oder seine Aus-
führung nachteilige Auswirkungen auf das Grundstück und seine Nutzung ha-
ben kann; solche planungsbedingten Folgen müssen, wenn sie mehr als ge-
ringfügig, schutzwürdig und erkennbar sind, ebenso wie jeder vergleichbare
Konflikt innerhalb des Plangebiets im Rahmen des Abwägungsgebots bewältigt
werden (Urteil vom 30. April 2004 - BVerwG 4 CN 1.03 - BRS 67 Nr. 51; Urteil
vom 24. September 1998 a.a.O.). Unter welchen Voraussetzungen planungs-
bedingte Folgen mehr als geringfügig sind, hängt nicht nur von der räumlichen
Distanz zwischen dem Grundstück des Antragstellers und dem Plangebiet,
sondern auch davon ab, welche Anlagen im Plangebiet zulässig sind und wel-
che Auswirkungen von ihnen ausgehen. Die Beschwerde zeigt nicht auf, welche
allgemeingültigen, über das Geringfügigkeitskriterium hinausgehenden
Maßstäbe für die Abwägungsrelevanz eines Belangs zu entwickeln sein könn-
ten; Ansätze hierfür sind auch nicht ersichtlich.
1.2.2 In Bezug auf die Lärmbelastung des Antragstellers rügt auch die Beigela-
dene eine Divergenz zum Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom
24. Mai 2007 a.a.O. (B.II.5). Eine Abweichung liegt aus den bereits dargelegten
Gründen (1.1.1) nicht vor. Gleiches gilt für die Divergenz zum Urteil vom
21. Oktober 1999 - BVerwG 4 CN 1.98 - (BRS 62 Nr. 51). Diesem Urteil ent-
nimmt die Beschwerde keinen anderen Rechtssatz als dem Beschluss vom
24. Mai 2007.
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1.2.3 Die Frage zur Antragsbefugnis aufgrund der „Sichtbarkeit“ von Anlagen
(B.I.3) würde sich aus den bereits dargelegten Gründen (1.1.2) nicht stellen.
1.2.4 Die Frage (B.I.4),
ob bei der Prüfung einer auf die Verletzung des Rechts
auf Abwägung der eigenen Belange gestützten Antrags-
befugnis die Ergebnisrelevanz des Mangels im Sinne der
Planerhaltungsvorschriften des § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1,
Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BauGB zu berücksichtigen ist,
ist bereits auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung des Senats zu
verneinen.
In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass an die Geltendmachung
einer Rechtsverletzung nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine höheren Anforde-
rungen gestellt werden können, als sie auch für die Klagebefugnis nach § 42
Abs. 2 VwGO gelten; danach genügt der Antragsteller seiner Darlegungspflicht,
wenn er hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als
möglich erscheinen lassen, dass er durch Festsetzungen des Bebauungsplans
in einem Recht verletzt wird (Urteil vom 24. September 1998 a.a.O. S. 217). Auf
die Frage, ob eine vom Antragsteller geltend gemachte Verletzung des Abwä-
gungsgebots, wenn sie vorläge, nach den Planerhaltungsvorschriften beachtlich
wäre, kommt es für die Antragsbefugnis mithin nicht an. Kann ein Antragsteller
geltend machen, durch Festsetzungen des Bebauungsplans in eigenen Rech-
ten verletzt zu sein, so muss das Normenkontrollgericht die Wirksamkeit des
Bebauungsplans grundsätzlich umfassend prüfen; der gegen den Bebauungs-
plan insgesamt gerichtete Normenkontrollantrag darf grundsätzlich auch nicht
deshalb als teilweise unzulässig verworfen werden, weil der Bebauungsplan nur
für teilnichtig zu erklären ist (Urteil vom 9. April 2008 - BVerwG 4 CN 1.07 -
BVerwGE 131, 100 Rn. 13 m.w.N.). Das Verfahren der Normenkontrolle nach
§ 47 VwGO dient nicht nur dem subjektiven Rechtschutz; es stellt zugleich ein
Verfahren der objektiven Rechtskontrolle dar (Urteil vom 9. April 2008 a.a.O.).
2. In der Sache hat das Oberverwaltungsgericht dem Normenkontrollantrag aus
zwei selbständig tragenden Gründen stattgegeben: Der Bebauungsplan sei
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entgegen § 1 Abs. 4 BauGB nicht den Zielen der Raumordnung angepasst
(I. der Urteilsgründe). Er sei zudem unter mehreren Gesichtspunkten abwä-
gungsfehlerhaft und verstoße deshalb gegen § 1 Abs. 7 BauGB (II. der Urteils-
gründe). Die gegen die Feststellung der Abwägungsfehler erhobenen Rügen
greifen - wie im Folgenden dargestellt wird - nicht durch. Schon aus diesem
Grund können die gegen die fehlende Zielkonformität gerichteten Rügen (An-
tragsgegnerin: Rügen Nr. 4 bis 12; Beigeladene: B.I.5 -26) den Beschwerden
nicht zum Erfolg verhelfen. Auf die hierzu aufgeworfenen Fragen kommt es
nicht an.
Auch die Unwirksamkeit des Bebauungsplans wegen einer Verletzung des Ab-
wägungsgebots ist auf mehrere jeweils selbständig tragende Gründe gestützt.
Einen Abwägungsfehler sieht das Oberverwaltungsgericht zunächst darin, dass
der Rat der Antragsgegnerin das Gefahrenpotential, das von dem Nebeneinan-
der des Kraftwerks und schützwürdiger Bereiche ausgehe, weitestgehend aus-
geklammert habe; mit der Verlagerung dieser Frage in das immissionsschutz-
rechtliche Vorbescheidsverfahren liege insoweit ein Abwägungsausfall vor (II. 1
der Urteilsgründe). Selbst wenn die Antragsgegnerin die Anforderungen des
§ 50 BImSchG nicht vollständig außer Acht gelassen, sondern die Gesichts-
punkte lediglich nicht in die Begründung des Bebauungsplans und die Abwä-
gungsdokumentation aufgenommen haben sollte, wäre die Abwägung wegen
einer gravierenden Fehleinschätzung der abwägungsrelevanten Belange
rechtswidrig (II. 2). Darüber hinaus verletze der Bebauungsplan durch die na-
hezu vollständige Verlagerung der durch die Planverwirklichung absehbaren
Konflikte in das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren das Gebot
der planerischen Konfliktbewältigung (II. 3). Die möglichen Auswirkungen der
Planung auf das FFH-Gebiet „Lippeauen“ sei nicht ausreichend untersucht und
bewertet worden (II. 4). Das Integritäts- und Kompensationsinteresse von Natur
und Landschaft sei nicht hinreichend gewürdigt worden (II. 5). Die Abwä-
gungsfehler seien offensichtlich und ergebnisrelevant (II. 6). Der im Hinblick auf
die Störfallproblematik festgestellte nahezu vollständige Abwägungsausfall (UA
S. 30) trägt die Feststellung der Unwirksamkeit des Bebauungsplans selbstän-
dig. Auf die Fehleinschätzung der für den Störfallschutz abwägungsrelevanten
Belange ist das Urteil nur hilfsweise gestützt („selbst wenn“, UA S. 57). Die Ver-
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letzung des Gebots der planerischen Konfliktbewältigung (II. 3) ist eine zusätzli-
che, ihrerseits selbständig tragende Begründung. Gleiches gilt für die unter II. 4
und 5 dargelegten, den Naturschutz betreffenden Abwägungsfehler. Die in Be-
zug auf den Abwägungsausfall hinsichtlich der Störfallproblematik (II. 1) und
seine Erheblichkeit für die Wirksamkeit des Bebauungsplans geltend gemach-
ten Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Auf die Zulas-
sungsgründe, die die Antragsgegnerin und die Beigeladene in Bezug auf die
übrigen Urteilsgründe, insbesondere zu II. 4 und 5 vorbringen (Antragsgegnerin:
Nr. 26 - 29; Beigeladene: B.I. 37 - 42, II.2 und 3), kommt es deshalb nicht an.
2.1 Beschwerde der Antragsgegnerin
Die Antragsgegnerin erhebt unter Nr. 13 bis 25 Grundsatzrügen gegen die vom
Oberverwaltungsgericht unter II. 1 bis 3 dargelegten Abwägungsfehler, ohne die
Rügen den einzelnen Begründungselementen des Urteils ausdrücklich zu-
zuordnen. Nach dem Inhalt der Fragen, der Beschwerdebegründung und den in
Bezug genommenen Urteilsgründen beziehen sich die Rügen 15 bis 21 auf die
Hilfserwägung des Oberverwaltungsgerichts zur Fehleinschätzung der Störfall-
belange (II. 2 der Urteilsgründe), die Rügen 22 bis 25 auf die Verletzung des
Gebots der Konfliktbewältigung (II. 3 der Urteilsgründe). Als auf die Störfall-
problematik und den insoweit festgestellten Abwägungsausfall bezogen kom-
men allein die Rügen 13 und 14 in Betracht. Unter Nr. 30 erhebt die Antrags-
gegnerin zudem eine Rüge zur Ergebnisrelevanz der Abwägungsfehler.
2.1.1 Mit der Rüge Nr. 13 möchte die Antragsgegnerin geklärt wissen,
ob § 50 BImSchG im Hinblick auf die Vermeidung schwe-
rer Unfälle im Sinne der Seveso-II-Richtlinie bereits auf
der Ebene der Bauleitplanung eine Prüfung des konkreten
Gefährdungspotentials künftiger Störfallbetriebe und die
räumliche Anordnung entsprechender Betriebsbereiche
sowie die Festlegung anlagenbezogener Sicherheitsme-
chanismen durch planerische Festsetzungen erfordert,
wenn der Plangeber sicher davon ausgehen kann, dass
die Einhaltung erforderlicher Schutzabstände bzw. die
Durchführung technischer Sicherheitsmaßnahmen im
nachgelagerten Anlagenzulassungsverfahren sicherge-
stellt werden wird.
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Diese Frage würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Das Ober-
verwaltungsgericht hat den Abwägungsausfall nicht damit begründet, dass die
Antragsgegnerin das Gefahrenpotential künftiger Störfallbetriebe nicht konkret
ermittelt und von geplanten Festsetzungen zur Anordnung entsprechender Be-
triebsbereiche sowie von anlagenbezogenen Sicherheitsvorkehrungen abgese-
hen habe. Es hat festgestellt, dass der Bebauungsplan die Errichtung eines
Kraftwerks ermöglicht und auch ermöglichen soll, das nach seiner Dimensionie-
rung und der Menge der eingesetzten Gefahrstoffe einen Störfallbetrieb im Sin-
ne des § 50 BImSchG i.V.m. der 12. BImSchV darstellt (UA S. 51). Welche
planungsrechtlichen Anforderungen § 50 BImSchG konkret für das hier in Rede
stehende Vorhaben stellt, hat es offen gelassen (UA S. 55). Es hat vielmehr
festgestellt, dass sich die Antragsgegnerin ausweislich der Aufstellungsvorgän-
ge mit dieser Problematik - gemeint ist die Wahl des Standorts im Hinblick auf
die Auswirkungen eines Störfalls - überhaupt nicht befasst habe. Sie habe ent-
sprechende Bedenken dahingehend beschieden, Fragen des Störfallschutzes
müssten im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren geklärt wer-
den. Im Bebauungsplanverfahren hätten keinerlei Ermittlungen zu den relevan-
ten Parametern stattgefunden (UA S. 55). Die genaue Entfernung zur nächst-
gelegenen, schützenswerten Wohnbebauung sei nicht konkret ermittelt und
bewertet worden. Das Störfallpotential selbst habe ebenfalls keine erkennbare
Rolle gespielt. Auch die in der Abwägung angesprochenen Gutachten seien
weder öffentlich ausgelegt noch zum Bestandteil der Aufstellungsvorgänge ge-
macht worden. Eine Prüfung im Bebauungsplanverfahren habe insoweit nicht
stattgefunden (UA S. 56). Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsge-
richts hat die Antragsgegnerin im Planaufstellungsverfahren mithin nicht ge-
prüft, ob die im Bebauungsplan festgesetzte Versorgungsfläche „Kraftwerk“ für
ein bauplanungsrechtlich auf dieser Fläche zulässiges Vorhaben unter dem
Gesichtspunkt des Störfallschutzes überhaupt geeignet ist. Sie hat nicht ermit-
telt, in welchem Abstand zum vorgesehenen Standort sich schutzbedürftige
Nutzungen befinden und ob das Kraftwerk, dessen Errichtung und Betrieb
durch den Bebauungsplan ermöglicht werden soll, die empfohlenen Abstände
zu diesen Nutzungen voraussichtlich wird einhalten können. Die Antragsgegne-
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rin konnte deshalb auch nicht - wie in der Frage vorausgesetzt - sicher davon
ausgehen, dass die erforderlichen Schutzabstände eingehalten werden können.
Einen Klärungsbedarf im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Befassung mit den
genannten Fragen des Störfallschutzes im Rahmen der planerischen Abwägung
nach § 1 Abs. 7 BauGB, § 50 BImSchG zeigt die Antragsgegnerin mit ihrer
Frage nicht auf. Er ist auch nicht ersichtlich. In der Rechtsprechung des Senats
ist geklärt, dass grundsätzlich jeder Bebauungsplan die von ihm geschaffenen
oder zurechenbaren Konflikte zu lösen hat. Dies schließt eine Verlagerung von
Problemen in ein nachfolgendes Verwaltungsverfahren nicht zwingend aus. Von
einer abschließenden Konfliktbewältigung im Bebauungsplan darf die
Gemeinde Abstand nehmen, wenn bei vorausschauender Betrachtung die
Durchführung der als notwendig erkannten Konfliktlösungsmaßnahmen außer-
halb des Planungsverfahrens auf der Stufe der Verwirklichung der Planung si-
chergestellt ist (Beschlüsse vom 14. Juli 1994 - BVerwG 4 NB 25.94 - NVwZ-
RR 1995, 130 <131>, vom 8. November 2006 - BVerwG 4 BN 32.06 - juris
Rn. 10 und vom 15. Oktober 2009 - BVerwG 4 BN 53.09 - juris Rn. 6). Soll ein
Bebauungsplan die Errichtung und den Betrieb eines Störfallbetriebs ermögli-
chen und befinden sich in der Nähe der hierfür vorgesehenen Fläche schutz-
bedürftige Nutzungen, darf die Gemeinde die Lösung eines daraus möglicher-
weise resultierenden Nutzungskonflikts jedenfalls nur dann in das immissions-
schutzrechtliche Genehmigungsverfahren verweisen, wenn dieser Konflikt dort
bei vorausschauender Betrachtung sachgerecht gelöst werden kann. Nach den
tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat die Antragsgeg-
nerin die Konflikte, die möglicherweise durch Störfälle im Betrieb des Kraftwerks
entstehen, in das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren
verwiesen, ohne zu prüfen, ob sie dort voraussichtlich gelöst werden können.
2.1.2 Mit der Frage Nr. 14 möchte die Antragsgegnerin geklärt wissen,
ob § 50 BImSchG bei der Neuansiedlung eines Störfallbe-
triebes in der Nähe schutzwürdiger Gebiete eine „grund-
sätzlich nur schwer überwindbare Schranke der Abwä-
gung“ (UA S. 53) bildet mit der Folge, dass die sich aus
§ 50 BImSchG ergebenden Anforderungen „nur in selte-
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nen Ausnahmefällen im Rahmen der Abwägung über-
wunden werden können“ (UA S. 59).
Ein Zulassungsgrund in Bezug auf den vom Oberverwaltungsgericht ange-
nommenen Abwägungsausfall (II.1 der Urteilsgründe) ergibt sich aus dieser
Frage nicht. Das Oberverwaltungsgericht hat die Abwägung insoweit nicht we-
gen einer zu geringen Gewichtung des Schutzes der Umgebung vor der Gefahr
eines Störfalles im Kraftwerk für rechtswidrig erklärt, sondern - wie bereits dar-
gelegt - weil sich die Antragsgegnerin mit dieser Problematik überhaupt nicht
befasst hat.
2.1.3 Die Antragsgegnerin wirft schließlich die Frage auf (Nr. 30),
ob es für die Bejahung der Ergebnisrelevanz zahlreicher
vom Normenkontrollgericht angenommener Abwägungs-
fehler im Sinne des § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB notwendig
ist, dass differenziert nach den einzelnen Abwägungs-
fehlern die jeweils in Betracht kommenden Planungsalter-
nativen konkret dargelegt werden.
Diese Frage ist einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Welche
Anforderungen an die Darlegung der Ergebnisrelevanz mehrerer vom Normen-
kontrollgericht festgestellter Abwägungsfehler in seiner Entscheidung zu stellen
sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgebend ist insbesonde-
re, ob jeder Abwägungsfehler die Unwirksamkeit des Bebauungsplans selb-
ständig tragen soll oder nicht. Mehrere nebeneinander bestehende Fehler im
Abwägungsvorgang tragen die Unwirksamkeit des Bebauungsplans nur dann
selbständig, wenn jeder von ihnen für sich betrachtet beachtlich (§ 214 Abs. 1
Satz 1 BauGB) bzw. erheblich (§ 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB) und nicht, weil er
nicht rechtzeitig gegenüber der Gemeinde geltend gemacht wurde, gemäß
§ 215 Abs. 1 BauGB unbeachtlich geworden ist. Ein Mangel im Abwägungser-
gebnis ist stets beachtlich; er führt unabhängig vom Vorliegen weiterer Mängel
der Abwägung zur (Teil-)Unwirksamkeit des Bebauungsplans (Lemmel, in: Ber-
liner Kommentar zum BauGB, Bd. 2, Stand November 2009 § 214 Rn. 59, 59a).
Ob mehrere vom Normenkontrollgericht festgestellte Mängel der Abwägung die
Unwirksamkeit des Bebauungsplans selbständig tragen sollen, ist eine Frage
der Auslegung des jeweiligen Normenkontrollurteils. Welche Anforderungen
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dabei an die Darlegung der Beachtlichkeit bzw. Erheblichkeit eines Mangels im
Abwägungsvorgang zu stellen sind, um ihn als selbständig tragend ansehen zu
können, hängt vom jeweiligen Abwägungsfehler und der betroffenen Planung
ab.
Im vorliegenden Fall ergibt die Auslegung des angefochtenen Urteils, dass der
unter II. 1 festgestellte Abwägungsausfall hinsichtlich der Störfallproblematik die
Unwirksamkeit des Bebauungsplans selbständig trägt. Das Oberverwaltungsge-
richt hat im Vorspann der Begründetheitsprüfung die Abwägungsmängel aufge-
listet und sodann festgestellt, dass „die Abwägungsfehler“ offensichtlich und
ergebnisrelevant seien (UA S. 30). Diese Feststellung bezieht sich auf jeden
der vorgenannten Abwägungsfehler gesondert. Dass das Oberverwaltungsge-
richt lediglich eine Gesamtschau der Abwägungsfehler vorgenommen haben
sollte, liegt schon deshalb fern, weil die Fehler verschiedene, gesondert zu be-
trachtende Belange betreffen. Unter II. 6 wird die Relevanz der Abwägungsfeh-
ler zwar nur für die „unter II. 2 - 5 aufgezeigten Abwägungsfehler“ (UA S. 87)
näher dargelegt. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, das Oberver-
waltungsgericht habe den Abwägungsausfall und damit den an erster Stelle
genannten, am weitesten gehenden Abwägungsfehler nicht als für die Wirk-
samkeit des Bebauungsplans erheblich angesehen. Die Erheblichkeit dieses
Fehlers hat es vielmehr für evident und einer näheren Darlegung nicht bedürftig
gehalten. Unter welchem Gesichtspunkt im Ergebnis Zweifel an der Ergebnisre-
levanz des Abwägungsausfalls bestehen sollten, zeigt auch die Antragsgegne-
rin nicht auf.
2.2 Beschwerde der Beigeladenen
Auch die Beigeladene erhebt unter B.I. 27 bis 36 Grundsatzrügen zu II. 1 bis 3
der Urteilsgründe, ohne die Rügen den einzelnen Begründungselementen zu-
zuordnen. In ihrem ergänzenden Schriftsatz vom 29. Januar 2010 (S. 8 f.)
macht sie geltend, die Fragen seien auch für den Abwägungsausfall entschei-
dungserheblich. Das trifft für die Fragen 29, 33, 34 und 36 offensichtlich nicht
zu. Insoweit lassen weder die Fragestellung noch die Beschwerdebegründung
einen Bezug zu dem unter II. 1 der Urteilsgründe festgestellten Abwägungsaus-
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fall erkennen. Die Grundsatzrügen 27, 28, 30 bis 32 und 35 bedürfen insoweit
näherer Betrachtung. Gleiches gilt für die Divergenzrüge B.II.1 und die
Grundsatzrüge B.I.43 zur Ergebnisrelevanz der Abwägungsfehler. Die Diver-
genzrüge B.II.4 betrifft die Frage, ob eine Verlagerung der Konfliktbewältigung
auf ein nachfolgendes Genehmigungsverfahren voraussetzt, dass das Vorha-
ben das planerische Angebot vollständig ausnutzt (UA S. 71, 74 - 76), und da-
mit allein die unter II. 3 angenommene Verletzung des Gebots der Konfliktbe-
wältigung.
2.2.1 Die Frage 27 entspricht inhaltlich der Frage 13 der Antragsgegnerin. Sie
würde sich aus den dargelegten Gründen (2.1.1) in einem Revisionsverfahren
nicht stellen.
2.2.2 Mit der Frage 28 möchte die Beigeladene geklärt wissen,
ob Abstandsunterschreitungen auch durch technische
Maßnahmen im Rahmen des Genehmigungsverfahrens
ausgeglichen werden können und, wenn dies der Fall sein
sollte, inwieweit § 50 BImSchG i.V.m. der Seveso-II-
Richtlinie erfordert, dass die technischen Maßnahmen be-
reits auf bauplanungsrechtlicher Ebene gesichert werden
oder ob eine prognostische Beurteilung ausreichend sein
kann.
Auch diese Frage wäre in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheb-
lich. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat sich die An-
tragsgegnerin weder prognostisch noch in anderer Weise mit der Frage befasst,
ob technische Maßnahmen etwaige Abstandsunterschreitungen ausgleichen
können. Die den Abwägungsausfall tragende Begründung des Oberver-
waltungsgerichts entfiele entgegen der Auffassung der Beigeladenen nicht,
wenn technische Maßnahmen einen angemessenen Abstand gewährleisten
könnten und insoweit die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Konfliktlösung
im anschließenden Genehmigungsverfahren ausreichend wäre. Das Oberver-
waltungsgericht hat dargelegt, dass § 50 BImSchG einen planerischen und kei-
nen anlagenbezogenen Ansatz verfolge (UA S. 54); der Richtlinien- bzw. Ge-
setzgeber sei davon ausgegangen, dass anlagenbezogene Anforderungen al-
lein nicht ausreichten (UA S. 56). In Bezug auf den Abwägungsausfall hat es
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damit lediglich zum Ausdruck gebracht, dass der Plangeber, wenn seine Pla-
nung Probleme des Störfallschutzes aufwirft, diese Probleme nicht in das anla-
genbezogene Genehmigungsverfahren verweisen darf, ohne sich selbst mit ih-
nen zu befassen; er muss im Planaufstellungsverfahren jedenfalls prüfen, ob
die Probleme des Störfallschutzes im immissionsschutzrechtlichen Genehmi-
gungsverfahren realistischerweise sachgerecht gelöst werden können oder ob
sie eine planerische Lösung durch Festsetzungen in einem Bebauungsplan er-
fordern.
2.2.3 Die Frage Nr. 30 lautet:
Muss eine Gemeinde auch im Rahmen einer Angebots-
planung aufgrund von § 50 BImSchG i.V.m. Seveso-II-
Richtlinie Vorsorge dafür treffen, dass nur solche Störfall-
betriebe als Nutzungen im Plangebiet zulässig sind, die
einen ausreichenden Abstand einhalten? Muss die Ge-
meinde in diesem Sinne eine „abstrakte“, vorweggenom-
mene Beurteilung aller - je nach Gefahrstoffen - in Be-
tracht kommenden Abstände durchführen und entspre-
chende Nutzungsbeschränkungen festsetzen?
Einen Klärungsbedarf im Hinblick auf den vom Oberverwaltungsgericht festge-
stellten Abwägungsausfall zeigt die Beigeladene auch mit dieser Frage nicht
auf. Das Oberverwaltungsgericht hat den Bebauungsplan insoweit nicht deshalb
als abwägungsfehlerhaft angesehen, weil er keine Nutzungsbeschränkungen
enthält, die eine Unterschreitung angemessener Abstände bereits planerisch
ausschließen, sondern weil sich die Antragsgegnerin mit der Störfallproblematik
überhaupt nicht befasst hat. Im Rahmen der Beschwerdebegründung macht die
Beigeladene geltend, das Oberverwaltungsgericht gelange zu einem
Abwägungsfehler, weil es den von der Antragsgegnerin bei der Planung
zugrunde gelegten vorläufigen Sicherheitsbericht der Beigeladenen und die
darin getroffenen Feststellungen zum Fehlen einer ernsten Gefahr nicht für
ausreichend erachte (Beschwerdebegründung S. 91); die diesen Vorwurf tra-
genden Begründungen entfielen jedoch, wenn das vom Oberverwaltungsgericht
vertretene Prüfprogramm störfallrechtlicher Auswirkungen aufgrund der Vorbe-
fassung mit den Antragsunterlagen des immissionsschutzrechtlichen Vorbe-
scheids zulässigerweise dem entsprechenden Genehmigungsverfahren habe
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überlassen werden können. Letzteres trifft nicht zu. Wie bereits dargelegt
(2.1.1), durfte die Lösung etwaiger störfallrechtlicher Probleme dem immissi-
onsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren allenfalls dann überlassen wer-
den, wenn die Konflikte dort bei vorausschauender Betrachtung sachgerecht
gelöst werden konnten. Jedenfalls diese Frage hätte im Bebauungsplanverfah-
ren geprüft werden müssen. Davon ist unter II. 1 der Urteilsgründe auch das
Oberverwaltungsgericht ausgegangen. Nach seinen Feststellungen ist das nicht
geschehen (UA S. 55 f.).
2.2.4 Mit den Fragen 31 und 32 möchte die Beigeladene geklärt wissen,
ob - unter Berücksichtigung von Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie - die störfallrechtlichen Anforderungen des § 50
BImSchG auch im Rahmen des immissionsschutzrechtli-
chen Genehmigungsverfahrens von der Genehmigungs-
behörde geprüft und potentielle Auswirkungen auf Dritte
durch geeignete Abstände und /oder technische Maß-
nahmen verhindert/verringert werden müssen, so dass ei-
ne Bauleitplanung insoweit auf das Genehmigungsverfah-
ren verweisen kann
und
ob eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung gemäß
§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BImSchG versagt wer-
den kann, wenn zu geringe Sicherheitsabstände der Anla-
ge zu schutzbedürftigen Gebieten bestehen und eine
sonstige Alternativlösung fehlt.
Die Fragen wären nicht entscheidungserheblich. Das Oberverwaltungsgericht
hat die Verlagerung der Störfallproblematik in das immissionsschutzrechtliche
Genehmigungsverfahren aus zwei selbständig tragenden Gründen für fehlerhaft
gehalten: Zum einen verfolge § 50 BImSchG einen planerischen und keinen
anlagenbezogenen Ansatz (UA S. 54). Unabhängig davon komme eine
Verlagerung deshalb nicht in Betracht, weil umstritten sei, ob diese Vorschrift
insoweit überhaupt im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren
berücksichtigt werden könne oder ob bei gebundenen Entscheidungen auf Si-
cherheitsabstände nicht abgestellt werden dürfe, weil es sich nicht mehr um
betreiberbezogene Schutz- und Vorsorgeverpflichtungen handele (UA S. 54).
Die Fragen 31 und 32 beziehen sich auf die zweite Erwägung. Ein Klärungsbe-
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darf im Hinblick auf die Anforderung des Oberverwaltungsgerichts, die Belange
der Verhütung schwerer Unfälle bzw. der Verminderung ihrer Auswirkungen in
die planerische Abwägung einzustellen, weil § 50 BImSchG einen planerischen
Ansatz verfolge, ergibt sich aus den Fragen nicht. Sollten die Fragen 31 und 32
zu bejahen sein, hätte im Bebauungsplanverfahren gleichwohl geprüft werden
müssen, ob das Kraftwerk, dessen Zulassung ermöglicht werden soll, im Hin-
blick auf die für den Störfallschutz erforderlichen Abstände an diesem Standort
voraussichtlich genehmigungsfähig sein würde. Inwieweit die Fragen der Klä-
rung bedürften, kann deshalb dahinstehen. Zweifel daran, dass die Nichteinhal-
tung angemessener Abstände zur Versagung einer Genehmigung führen kann,
hat der Senat nicht für die immissionsschutzrechtliche Genehmigung eines
Störfallbetriebs, sondern für die bauplanungsrechtliche Zulassung einer an ei-
nen bestehenden Störfallbetrieb heranrückenden schutzbedürftigen Nutzung
nach § 34 Abs. 1 BauGB geäußert (Beschluss vom 3. Dezember 2009
- BVerwG 4 C 5.09 - juris).
2.2.5 Die Frage 35 lautet:
Verlangt eine zulässige Prognose anderweitiger Konflikt-
bewältigung, dass sich der Plangeber mit dem nachge-
ordneten Verfahren intensiv beschäftigt? Muss dies unmit-
telbar durch den Gemeinderat erfolgen? Lässt eine feh-
lende Dokumentation in den Planungsunterlagen oder den
Ratssitzungsprotokollen den Schluss zu, dass sich der Rat
bei der Abwägung mit der Konfliktbewältigung nicht
auseinandergesetzt hat?
Diese Frage richtet sich, wie die Bezugnahme der Beigeladenen in der Be-
schwerdebegründung auf die entsprechenden Urteilsgründe bestätigt, auf die
insbesondere im Hinblick auf die weiteren immissionsschutzrechtlichen Prob-
leme (u.a. Verwendung schadstoffarmer Technik, Einhausung der Kohlehalden)
bejahte Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme (II. 3 der Urteilsgründe);
auf diese Gesichtspunkte käme es in einem Revisionsverfahren nicht an.
2.2.6 Die den Abwägungsausfall tragende Begründung des angefochtenen Ur-
teils enthält auch nicht - wie die Beigeladene mit ihrer ersten Divergenzrüge
(B.II.1) geltend macht - Rechtssätze, die von den Beschlüssen des Bundesver-
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waltungsgerichts vom 25. August 1997 - BVerwG 4 BN 4.97 - und vom 14. Juli
1994 - BVerwG 4 NB 25.94 - abweichen. Nach Auffassung der Beigeladenen
kontrolliert das Oberverwaltungsgericht die Abwägung der nach § 50 BImSchG
i.V.m. der Seveso-II-Richtlinie relevanten Belange auf der Grundlage der
Rechtssätze, dass die in diesem Zusammenhang möglichen Konflikte grund-
sätzlich nur planerisch gelöst werden können und dass der Plangeber die Lö-
sung eines Konflikts in Bezug auf § 50 BImSchG i.V.m. der Seveso-II-Richtlinie
allenfalls dann späteren behördlichen Verfahren überlassen kann, wenn im
Zeitpunkt der Beschlussfassung ist, dass es zu gesetzes- und plankon-
formen Lösungen kommen wird. Damit widerspreche es der Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts, dass im Rahmen der planerischen Abwägungsent-
scheidung die Bewältigung der durch den Bebauungsplan aufgeworfenen Prob-
leme nicht (rechtlich) gesichert sein müsse; vielmehr stehe der Gemeinde eine
Prognoseentscheidung dahingehend zu, ob die Probleme durch zukünftiges
Verwaltungshandeln (wahrscheinlich) gelöst werden könnten.
Die Beschwerde misst den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts eine
Bedeutung bei, die ihnen nicht zukommt. Das Oberverwaltungsgericht hat ein-
leitend zur Feststellung des Abwägungsausfalls (II. 1 a) dargelegt, die Antrags-
gegnerin sei verpflichtet gewesen, die Belange der Verhütung schwerer Unfälle
bzw. der Vermeidung ihrer Auswirkungen in die Abwägung einzustellen, ihrer
herausgehobenen Bedeutung Rechnung zu tragen und einen abwägungsge-
rechten Ausgleich zu erzielen. Ein Offenlassen von Problemen im Verfahren der
Bauleitplanung und ihre Verschiebung in spätere Genehmigungsverfahren führe
zur Rechtswidrigkeit der Planung (UA S. 52). Nach Auffassung des Oberverwal-
tungsgerichts darf die Gemeinde die Frage, ob die zur Begrenzung der
Auswirkungen eines Störfalls erforderlichen Abstände eingehalten werden kön-
nen, nicht in das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren verwei-
sen, ohne sich selbst mit dieser Frage zu befassen und jedenfalls zu prüfen, ob
die für die Konfliktlösung erforderlichen Maßnahmen im Genehmigungsverfah-
ren getroffen werden können. Anderenfalls bliebe offen, ob schutzbedürftige
Nutzungen vor den Auswirkungen eines Störfalls überhaupt angemessen ge-
schützt werden können und gegebenenfalls in welchem Verfahren der Schutz
sichergestellt werden kann. Einen Rechtssatz des Inhalts, dass die in diesem
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Zusammenhang möglichen Probleme nur planerisch gelöst werden können, hat
das Oberverwaltungsgericht nicht aufgestellt. Er ist auch der Literatur, auf die
es verweist (UA S. 52), nicht zu entnehmen. Ein so weitgehender Rechtssatz
wäre auch nicht erforderlich, um festzustellen, dass es jedenfalls abwägungs-
fehlerhaft ist, sich bei Aufstellung eines Bebauungsplans für einen Störfallbe-
trieb nicht mit der Frage zu befassen, ob angemessene Abstände zu schutzbe-
dürftigen Nutzungen voraussichtlich eingehalten werden können. Im Zusam-
menhang mit dem Abwägungsausfall hat das Oberverwaltungsgericht auch
keinen Rechtssatz zu der Frage aufgestellt, wie sicher die Durchführung der als
notwendig erkannten Konfliktlösungsmaßnahmen auf der Stufe der Planver-
wirklichung sein muss, um von einer Lösung des Konflikts im Wege der Bau-
leitplanung absehen zu dürfen. Da sich die Antragsgegnerin nach den Feststel-
lungen des Oberverwaltungsgerichts mit der Flächenzuordnung unter dem Ge-
sichtspunkt des Störfallschutzes überhaupt nicht befasst hat, kam es hierauf
nicht an.
Das Oberverwaltungsgericht hat auch nicht dem Rechtssatz des Bundesverwal-
tungsgerichts, dass der Grundsatz der räumlichen Trennung unverträglicher
Nutzungen eine Abwägungsdirektive darstelle, die gegenüber anderen gewich-
tigen Belangen zurücktreten kann (Beschluss vom 5. Dezember 2008 - BVerwG
9 B 28.08 - NVwZ 2009, 320 <324>), widersprochen. Es hat sich dieser Recht-
sprechung vielmehr ausdrücklich angeschlossen (UA S. 52 f.).
2.2.7 Mit der Grundsatzrüge 43 wirft die Beigeladene schließlich folgende Fra-
gen auf:
Sind in einer Normenkontrollentscheidung festgestellte
Abwägungsfehler bereits dann unbeachtlich, wenn das
Oberverwaltungsgericht diese im Rahmen seiner Ausfüh-
rungen zur Beachtlichkeit nach § 214 BauGB nicht an-
spricht, sondern ausdrücklich nur andere Abwägungsdefi-
zite anführt? Welche Anforderungen müssen erfüllt sein,
damit die Beachtlichkeits-/Offensichtlichkeitsprüfung über
pauschale Behauptungen hinausgeht? Erfordert § 214
BauGB für jeden festgestellten Abwägungsfehler eine in-
dividuelle Beachtlichkeits-/Offensichtlichkeitsprüfung?
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Die erste Teilfrage ist einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, dass ein Oberverwaltungsgericht die
Beachtlichkeit eines festgestellten Abwägungsfehlers in einem bestimmten
Kontext nicht ausdrücklich anspricht, ist durch Auslegung des jeweiligen Urteils
zu ermitteln. Für die Auslegung des hier angefochtenen Urteils und die anderen
beiden Teilfragen kann auf die Ausführungen zu Frage 30 der Antragsgegnerin
(2.1.3) verwiesen werden. Zweifel an der Ergebnisrelevanz des vom Oberver-
waltungsgericht festgestellten Abwägungsausfalls zeigt auch die Beigeladene
nicht auf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3 VwGO, die Streitwert-
festsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Jannasch
Dr. Philipp
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Städtebaurecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
VwGO
§ 47 Abs. 2
BauGB
§ 1 Abs. 7; § 214 Abs. 3 Satz 2
BImSchG
§ 50
Stichworte:
Geringfügigkeit; Antragsbefugnis; Störfallbetrieb; Seveso-II-Richtlinie; Standort;
Abwägungsausfall; Konfliktbewältigung; immissionsschutzrechtliches Genehmi-
gungsverfahren; Sicherheitsabstand; Ergebnisrelevanz.
Leitsatz:
Für die Antragsbefugnis kommt es nicht darauf an, ob eine vom Antragsteller
geltend gemachte Verletzung des Abwägungsgebots, wenn sie vorläge, nach
den Planerhaltungsvorschriften beachtlich wäre.
Soll ein Bebauungsplan die Errichtung und den Betrieb eines Störfallbetriebs
ermöglichen und befinden sich in der Nähe der hierfür vorgesehenen Fläche
schutzbedürftige Nutzungen, darf die Gemeinde die Lösung eines daraus mög-
licherweise resultierenden Nutzungskonflikts nur dann in das immissionsschutz-
rechtliche Genehmigungsverfahren verweisen, wenn dieser Konflikt dort bei
vorausschauender Betrachtung sachgerecht gelöst werden kann.
Beschluss des 4. Senats vom 16. März 2010 - BVerwG 4 BN 66.09
OVG Münster vom 03.09.2009 - Az.: OVG 10 D 121/07.NE -