Urteil des BVerwG vom 19.08.2003

Gemeinde, Vergleich, Rechtsverletzung, Abrede

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 51.03
VGH 26 N 99.1281
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. August 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a und Prof. Dr. R o j a h n
beschlossen:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen die Nichtzulassung der Re-
vision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
12. Mai 2003 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur
Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren
auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde ist un-
begründet.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Antragsteller beile-
gen.
a) Die Frage, ob "im Rahmen des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO das Vorliegen einer möglichen
Verletzung des subjektiven Rechts gemäß § 1 Abs. 6 BauGB bei planbedingter Verkehrszu-
nahme wegen 'Geringfügigkeit' verneint werden (kann), wenn sich die Lärmbelastung an
dem betroffenen Grundstück in einem allgemeinen Wohngebiet nach Verwirklichung der
Planung mehr als verdoppelt", rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision auf der Grundla-
ge des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ob vermehrte Verkehrslärmbeeinträchtigungen im Sinne
des Senatsbeschlusses vom 9. November 1979 - BVerwG 4 N 1.78 u.a. - (BVerwGE 59, 87)
mehr als "geringfügig" zu Buche schlagen, lässt sich nicht anhand fester Maßstäbe beurtei-
len. Im Beschluss vom 19. Februar 1992 - BVerwG 4 NB 11.91 - (NJW 1992, 2844) hat der
Senat darauf hingewiesen, dass sich die Schwelle der Abwägungsrelevanz bei Verkehrs-
lärmerhöhungen nicht allein durch einen Vergleich von Lärmwerten markieren lässt. Selbst
eine Lärmzunahme, die, bezogen auf einen rechnerisch ermittelten Dauerschallpegel, für
das menschliche Ohr kaum hörbar ist, kann nach dieser Entscheidung zum Abwägungsma-
terial gehören. Daraus lässt sich indes nicht im Umkehrschluss folgern, dass Lärmerhöhun-
gen oberhalb der Hörbarkeitsschwelle stets als Abwägungsposten zu berücksichtigen sind.
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Es bedarf vielmehr einer wertenden Betrachtung der konkreten Verhältnisse. Eine Lärmver-
doppelung kann je nachdem, welche Rolle die Vorbelastung spielt und wie schutzwürdig das
jeweilige Gebiet ist, ein Indikator für eine mehr als geringfügige Betroffenheit sein. Regelhaf-
te Schlüsse lässt sie, für sich genommen, indes nicht zu. Maßgeblich sind vielmehr die Um-
stände des Einzelfalls. Zu Erkenntnissen, die hierüber hinausgehen, würde das von den An-
tragstellern erstrebte Revisionsverfahren keine Gelegenheit bieten.
b) Die Antragsteller halten für klärungsbedürftig, ob "die Frage der 'Geringfügigkeit' der
Lärmbeeinträchtigung aufgrund einer planbedingten Verkehrszunahme ausschließlich an-
hand prognostizierter Verkehrs(aufkommens)zahlen bewertet werden (kann), wenn auch
Lärmpegelwerte bzw. Differenzwerte der Dauerschallpegel vor und nach Verwirklichung der
Planung bezüglich der betroffenen Grundstücke vorliegen". Diese Frage lässt sich unschwer
beantworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf. Zwischen
dem Verkehrsaufkommen und den Lärmpegelwerten besteht ein untrennbarer Zusammen-
hang. Zu den privaten Belangen, die im Rahmen der Abwägung nach § 1 Abs. 6 BauGB zu
berücksichtigen sind, gehört ggf. auch das Interesse, vor vermehrten Lärmimmissionen be-
wahrt zu bleiben. Ob dieses Interesse gewichtig genug ist, um abwägungsbeachtlich zu sein,
hängt von der aus Pegelangaben ablesbaren Intensität der zusätzlichen Lärmbelastung ab,
die sich wiederum nicht losgelöst davon beurteilen lässt, in welchem Umfang sich die Ver-
kehrsmenge verändert. Ohne sich Klarheit darüber zu verschaffen, welches Verkehrsmehr-
aufkommen zu erwarten ist, ist der Planungsträger gar nicht in der Lage, eine Lärmprognose
anzustellen. Übersteigt die Lärmbelastung trotz der Pegelerhöhung nicht das Maß des Ge-
ringfügigen, so kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die mangelnde Abwägungser-
heblichkeit von der einen oder der anderen Warte her begründet wird.
c) Auch mit der Frage, ob "eine Verletzung des subjektiven Rechts gemäß § 1 Abs. 6 BauGB
wegen planbedingter Verkehrszunahme offensichtlich ausscheiden (kann), wenn die
planende Gemeinde in dem Bebauungsplanverfahren es als erforderlich angesehen hat,
bezüglich der betroffenen Grundstücke der Antragsteller ein Immissionsgutachten einzuho-
len", zeigen die Antragsteller keinen Klärungsbedarf im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
auf. Ob das Interesse, vor vermehrten Verkehrslärmimmissionen verschont zu bleiben, zum
Abwägungsmaterial gehört, hängt davon ab, ob es den vom Senat in der Grundsatzent-
scheidung vom 9. November 1979 - BVerwG 4 N 1.78 u.a. - (a.a.O.) formulierten Relevanz-
kriterien genügt. Danach dürfen Belange außer Betracht bleiben, die durch die Planungsent-
scheidung nicht mehr als geringfügig betroffen werden. Ob dies der Fall ist, ist eine Frage
rechtlicher Wertung, die nur auf der Grundlage von tatsächlichen Erkenntnissen getroffen
werden kann. Erst wenn die Gemeinde klare Vorstellungen von den immissionsschutzrecht-
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lichen Auswirkungen ihrer Planung hat, kann sie abschätzen, ob die Schwelle der Abwä-
gungsrelevanz erreicht ist oder nicht. Verfügt sie insoweit nicht selbst über eine zuverlässige
Datenbasis, so muss sie sich die erforderlichen Kenntnisse anderweitig verschaffen. Die
Einholung eines Immissionsgutachtens bietet sich als ein für diesen Zweck geeignetes Mittel
an. Denn lässt die Gemeinde unaufgeklärt, welche Lärmbeeinträchtigungen durch ihr Plan-
vorhaben voraussichtlich hervorgerufen werden, so setzt sie sich der Gefahr eines Abwä-
gungsdefizits aus.
2. Die geltend gemachten Abweichungen liegen nicht vor.
a) Die Antragsteller zeigen nicht auf, mit welchem abstrakten Rechtssatz sich das Normen-
kontrollgericht in Widerspruch zu der Rechtsauffassung gesetzt haben soll, die der Senat im
Beschluss vom 19. Februar 1992 - BVerwG 4 NB 11.91 - (a.a.O.) vertreten hat. Sie bestrei-
ten selbst nicht, dass die Vorinstanz das von ihnen zitierte Judikat zur Kenntnis genommen
und zur Grundlage seiner eigenen Entscheidung gemacht hat. Sie räumen auch ein, dass
der Senat im Beschluss vom 19. Februar 1992 zum Ausdruck gebracht hat, dass es bei der
Beurteilung der Abwägungserheblichkeit von Verkehrslärm nicht allein auf einen Vergleich
von Lärmwerten ankommt. Sie entnehmen indes dem Geist der Senatsentscheidung, dass
jedenfalls Pegelerhöhungen in einer Größenordnung von mehr als 8 dB(A) nicht als gering-
fügige Mehrbelastung eingestuft werden dürfen. Nach ihrer Ansicht ist dem Umstand, dass
der Senat im Beschluss vom 19. Februar 1992 selbst einer Pegeldifferenz von 1,5 dB(A) die
Eignung, abwägungsbeachtlich zu sein, nicht abgesprochen hat, als Wertungsvorgabe
Rechnung zu tragen. Die von ihnen zitierte Entscheidung enthält jedoch keine regelhaften
Aussagen. Der Senat hebt im Gegenteil hervor, dass weder eine Pegelerhöhung um
2 dB(A), die die Hörbarkeitsschwelle markiert, noch eine Zunahme um 3 dB(A), die einer
Verdoppelung des Verkehrsaufkommens entspricht, für sich genommen als Indikator dafür
zu werten ist, dass die Interessen der Anwohner einer Straße nicht mehr nur geringfügig
betroffen sind. Vielmehr hängt es von den konkreten Gegebenheiten ab, wann die Grenzlinie
der Abwägungsrelevanz überschritten ist. Diesen rechtlichen Ansatz hat das Normenkon-
trollgericht nicht in Frage gestellt.
b) Der Standpunkt, den die Vorinstanz eingenommen hat, kollidiert auch nicht mit abstrakten
Rechtssätzen, die der Senat im Urteil vom 24. September 1998 - BVerwG 4 CN 2.98 -
(BVerwGE 107, 215) formuliert hat. Danach sind an die Geltendmachung einer Rechtsver-
letzung nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine höheren Anforderungen zu stellen, als sie auch
für die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO gelten. Der Antragsteller genügt seiner
Darlegungspflicht, wenn er hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als
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möglich erscheinen lassen, dass seine abwägungserheblichen Belange bei der Pla-
nungsentscheidung zu kurz gekommen sind. Aus dem Vorbringen der Antragsteller ergibt
sich nicht, dass die Vorinstanz die Anforderungen, die sich aus der Senatsrechtsprechung
ergeben, überspannt hat. Das Normenkontrollgericht durfte, ohne sich in Widerspruch zu der
vom Senat im Urteil vom 24. September 1998 geäußerten Rechtsauffassung zu setzen, die
schalltechnische Untersuchung vom 21. Januar 1998 und das in den Akten enthaltene Fo-
tomaterial verwerten, um sich einen Eindruck von dem Gewicht der geltend gemachten
Nachteile zu verschaffen. Die Antragsteller lassen außer Acht, dass es für die Antragsbe-
fugnis nicht genügt, verbale Behauptungen aufzustellen. Wie der Senat in dem von ihnen
zitierten Urteil hervorgehoben hat, kommt es nicht allein darauf an, bestimmte Tatsachen
vorzutragen. Erforderlich sind vielmehr Angaben, die hinreichend substantiiert sind, um eine
Rechtsverletzung möglich erscheinen zu lassen. Die Antragsteller stellen selbst nicht in Ab-
rede, ihr Vorbringen mit den Ergebnissen der schalltechnischen Untersuchung vom
21. Januar 1998 untermauert zu haben. Als kritikwürdig sehen sie an, dass es das Normen-
kontrollgericht nicht damit hat bewenden lassen, das Gutachten unter dem von ihnen ange-
sprochenen Blickwinkel der Lärmpegelerhöhung zu würdigen, sondern dass das Gericht
anhand der in der Untersuchung genannten Zahlen maßgeblich auf das prognostizierte Ver-
kehrsaufkommen abgestellt hat. Indes liegt auf der Hand, dass es bei der Prüfung der An-
tragsbefugnis nicht vom Belieben des Antragstellers abhängen kann, welche Teile eines von
ihm als Tatsachenstütze ins Verfahren eingeführten Gutachtens oder welche sonstigen von
ihm als rechtsbedeutsam qualifizierten Aktenvorgänge der Tatrichter zur Kenntnis nehmen
und zur Grundlage seiner Entscheidung machen darf.
3. Die Verfahrensrüge greift ebenfalls nicht durch.
Das angefochtene Urteil beruht nicht auf aktenwidrigen Feststellungen. Zwar ist an keiner
Stelle davon die Rede, dass nach den Berechnungen der Sachverständigen Pegelerhöhun-
gen von zum Teil mehr als 8 dB(A) zu erwarten sind. Dies ist indes kein Beleg dafür, dass
das Normenkontrollurteil mit dem Akteninhalt nicht übereinstimmt. Das Normenkontrollge-
richt stellt maßgeblich darauf ab, dass die Straße, an der die Grundstücke der Antragsteller
liegen, schon jetzt eine Erschließungsfunktion hat. Es geht davon aus, dass im Falle der
Verwirklichung des Planvorhabens die Verkehrsmenge um 40 Kfz/24 h steigt. Diese Zunah-
me stuft es unter Berücksichtigung der Funktion und der bisherigen Verkehrsbelastung der
Straße als "geringfügig" im Sinne der Senatsrechtsprechung ein. Daraus folgert es im Hin-
blick auf das Interesse der Antragsteller, vor vermehrten Verkehrslärmbeeinträchtigungen
bewahrt zu bleiben, dass "die Belastung durch den zu erwartenden Erschließungsverkehr,
der durch das geplante Neubaugebiet hervorgerufen wird, nicht die Grenze zur Abwägungs-
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erheblichkeit (überschreitet)". Aus dieser Begründungsstruktur ergibt sich mittelbar, dass es
die von den Sachverständigen prognostizierten Pegelerhöhungen für rechtlich irrelevant hält.
Selbst wenn sich diese Einschätzung als fehlerhaft erwiesen hätte, würde es sich nicht um
einen Verfahrensmangel, sondern um eine Frage der Anwendung des materiellen Rechts
gehandelt haben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 und § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100
Abs. 1 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 und 3 und § 13 Abs. 1 Satz 1
GKG.
Paetow Halama Rojahn