Urteil des BVerwG vom 10.04.2014

Gemeinde, Wechsel, Eugh, Verminderung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 49.13
OVG 1 KN 217/11
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. April 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Külpmann
beschlossen:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in
dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsge-
richts vom 6. August 2013 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdever-
fahrens je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten der Beige-
ladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
30 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Er-
folg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Be-
schwerde beimisst.
Liegt ein Verstoß gegen § 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3 BauGB ins-
besondere im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Ermitt-
lung und Berücksichtigung des relevanten Abwägungsma-
terials sowie des Verbotes der Verlagerung von Konflikten
auf nachgeordnete (Zulassungs-)Ebenen vor, wenn etwa
nach dem Wechsel im laufenden Bauleitplanverfahren
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- insbesondere nach Durchführung der frühzeitigen Betei-
ligung nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 BauGB - von einer vor-
habenbezogenen Bebauungsplanung hin zu einer Ange-
botsbebauungsplanung die Auswirkungen der durch die
nunmehr avisierte Angebotsplanung (maximal) ermöglich-
ten Vorhabenvariante nicht erneut und eingehend ermittelt
und bewertet werden, sondern im Wesentlichen als
Grundlage für die Beurteilung möglicher Auswirkungen
und damit für die Abwägungsentscheidung nach wie vor
die für die vorhabenbezogene Bebauungsplanung hin-
sichtlich eines konkreten Projektes eingeholten Untersu-
chungen, Gutachten etc. fungieren; mithin keine erneuten
Gutachten, Untersuchungen etc. durchgeführt, sondern
lediglich ergänzende Stellungnahmen eingeholt werden?
Sie schließt hieran die Frage an:
Reicht es für die Abwägung eines Angebotsbebauungs-
planes, wenn der Plangeber seiner Planung und den zu
erstellenden Unterlagen eine von ihm bzw. einem späte-
ren Vorhabenträger als möglich erachtete - jedoch nicht
die einzige und auch nicht unter Berücksichtigung der
Festsetzungen maximale - Umsetzungsvariante als maß-
gebliche Ausgangsgrundlage zugrunde legt?
Einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde damit nicht
auf. Die rechtsgrundsätzlichen Anforderungen des Abwägungsgebotes sind in
der Rechtsprechung des Senats geklärt (Urteile vom 12. Dezember 1969
- BVerwG 4 C 105.66 - BVerwGE 34, 301 <309> und vom 5. Juli 1974
- BVerwG 4 C 50.72 - BVerwGE 45, 309 <314 f.>), ebenso die Anforderungen
des Gebots der planerischen Konfliktbewältigung (Urteil vom 19. April 2012
- BVerwG 4 CN 3.11 - BVerwGE 143, 24 Rn. 19). Dass alle denkbaren Nut-
zungskonflikte schon bei der Aufstellung des Bebauungsplans durch planeri-
sche Festsetzungen gelöst werden, fordert das Abwägungsgebot nicht. Der
Grundsatz, dass die durch die Bauleitplanung geschaffenen Probleme auch
durch die Bauleitplanung gelöst werden müssen, wird durch den Grundsatz der
planerischen Zurückhaltung eingeschränkt. Probleme, die noch während des
Vollzugs des Bebauungsplans bewältigt werden können, brauchen nicht schon
durch den Plan selbst gelöst werden (Urteil vom 18. September 2003 - BVerwG
4 CN 3.02 - BVerwGE 119, 45 <49>).
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Die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Änderungen eines Pla-
nungsentwurfs weitere Ermittlungen bei der Zusammenstellung des Abwä-
gungsmaterials notwendig machen, entzieht sich weiterer rechtsgrundsätzlicher
Klärung. Dies gilt auch für den Fall, dass an die Stelle des Entwurfs eines vor-
habenbezogenen Bebauungsplans ein Angebotsbebauungsplan tritt. Die von
der Beschwerde insoweit angestrebte Konkretisierung (Beschwerdebegründung
S. 42) erforderte eine Beantwortung der Frage für einzelne, konkrete Fallgestal-
tungen nach Art eines Lehrbuchs. Dies ist nicht Aufgabe eines Revisionsverfah-
rens (Beschluss vom 23. Oktober 2012 - BVerwG 4 BN 35.12 - BRS 79 Nr. 1
= juris Rn. 4). Soweit die Beschwerde meint, das Oberverwaltungsgericht habe
die von der Antragsgegnerin eingeholten ergänzenden Stellungnahmen für un-
zureichend halten müssen (Beschwerdebegründung S. 40), wendet sie sich
allein gegen die tatrichterliche Würdigung, ohne grundsätzlichen Klärungsbe-
darf aufzuzeigen.
Auch die Beantwortung der zweiten Frage bedarf keiner grundsätzlichen Klä-
rung. Das Oberverwaltungsgericht hat für das Revisionsgericht bindend (§ 137
Abs. 2 VwGO) festgestellt, dass die von der Antragsgegnerin zur Erforschung
der Auswirkungen durchgeführten Maßnahmen für die Annahme ausreichten,
auch ohne weitere planerische Vorsorge könnten die mit dem Anlagenbetrieb
verbundenen Auswirkungen zureichend bewältigt werden (UA S. 16). Eine An-
lage mit 1,5 MW sei gegenüber dem Planangebot nicht unterwertig, sondern
könne als substantiell angesehen werden (UA S. 16). Das Oberverwaltungsge-
richt hat sodann hinsichtlich des Lärms (UA S. 17 f.), der Gerüche (UA S. 19)
und des Störfallrechts (UA S. 22 ff.) im Einzelnen dargelegt, warum es die er-
hobenen Ermittlungen für ausreichend und eine Konfliktbewältigung für größere
Anlagen im Zulassungsverfahren für möglich hält. Die Beschwerde zeigt keinen
weiteren grundsätzlichen Klärungsbedarf auf. Sie knüpft ihre Überlegungen an
den Wechsel vom Entwurf eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans zu ei-
nem Angebotsbebauungsplan an. Sie setzt sich aber nicht hinreichend damit
auseinander, dass die Antragsgegnerin und nachfolgend das Oberverwaltungs-
gericht nicht die Auswirkungen einer Anlage mit 600 kW, die noch Gegenstand
der ursprünglichen, vorhabenbezogenen Planung war, sondern die Auswirkun-
gen einer leistungsstärkeren Anlage in den Blick genommen haben.
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b) Als weitere Fragen grundsätzlicher Bedeutung sieht die Beschwerde an:
Ist ein planerisches Vorgehen mit den Vorgaben des § 50
BImSchG unter Berücksichtigung der dieser Vorschrift zu-
grunde liegenden Richtlinie 96/82/EG vereinbar - und sta-
tuiert in der Folge keinen Abwägungsfehler nach § 1
Abs. 7 BauGB - wonach ein Standort zwecks Ausweisung
eines Sondergebietes zur möglichen Realisierung eines
Störfallbetriebes (Biomasseanlage) aufgrund anderweiti-
ger Kriterien zunächst ohne Berücksichtigung des Tren-
nungsgebotes auserwählt und erst nachträglich im Hin-
blick auf die Vorgabe der Trennung unverträglicher Nut-
zungen etwa durch Aufnahme textlicher Festsetzungen
hinsichtlich Wandstärken der Komponenten der zu reali-
sierenden Vorhaben gerechtfertigt wird, oder gebieten
insbesondere die europäischen Vorgaben der Richtlinie
96/82/EG, dass der Planungsträger zunächst das durch
die Planung (maximal) Ermöglichte ermittelt und unter Zu-
grundelegung dessen die Standortwahl unter Berücksich-
tigung angemessener Abstände von vornherein an den Er-
fordernissen des Trennungsgebotes und der Richtlinie
96/82/EG misst und erst in einem zweiten Schritt andere
Belange sowie gefahrenabwehrtechnische Maßnahmen in
die Gesamtbetrachtung mit einbezieht?
Gebietet § 50 BImSchG i.V.m. der Richtlinie 96/82/EG be-
reits auf der Bebauungsplanebene das Erfordernis einer
Standortalternativenprüfung zur europarechtskonformen
Anwendung des Trennungsgebotes, insbesondere zur
Bestimmung angemessener Abstände im Sinne des
Art. 12 der Richtlinie 96/82/EG?
Die Fragen führen ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Sie lassen sich
ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens auf der Grundlage der bisheri-
gen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Senats beantwor-
ten.
Die Antragsteller sehen mit ihrer ersten Frage Klärungsbedarf dahin, ob die von
der planenden Gemeinde zu beachtende Verpflichtung aus Art. 12 Abs. 1 der
Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der
Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (ABl 1997 L 10/13)
(Beschluss vom 16. Januar 2013 - BVerwG 4 B 15.10 - ZfBR 2013, 363 Rn. 12)
fordert, zunächst isoliert die Lage eines Störfallbetriebes im Hinblick auf die Zie-
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le der Richtlinie zu bestimmen, und so die Ziele der Richtlinie mindestens vor-
rangig durch bestimmte Flächenzuordnungen zu verfolgen, während technische
Anforderungen an die Anlage nur nachrangig als Korrektiv herangezogen wer-
den könnten (Beschwerdebegründung S. 53). Die Frage ist zu verneinen, ohne
dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.
Wann im Sinne der von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie ein angemessener
Abstand eingehalten wird, hängt vom Einzelfall ab. Zu den zu berücksichtigen-
den störfallspezifischen Faktoren können neben der Art der jeweiligen gefährli-
chen Stoffe, die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls in einem unter die
Richtlinie fallenden Betrieb sowie die Folgen eines etwaigen Unfalls für die
menschliche Gesundheit und die Umwelt, die Art der Tätigkeit der neuen An-
siedlung oder die Intensität ihrer öffentlichen Nutzung und die Leichtigkeit gehö-
ren, mit der Notfallkräfte bei einem Unfall eingreifen können (EuGH, Urteil vom
15. September 2011 - Rs. C-53/10 - Slg. I 8311 - Tz. 44). Auch technische
Maßnahmen zur Verminderung des Unfallrisikos oder zur weiteren Begrenzung
möglicher Unfallfolgen können zu berücksichtigen sein, auch solche im Be-
triebsbereich (Urteil vom 20. Dezember 2012 - BVerwG 4 C 11.11 - BVerwGE
145, 290 Rn. 18). Hieraus ergibt sich unmittelbar, dass die Gemeinde und nach-
folgend das Normenkontrollgericht - wie geschehen - bei der Prüfung der An-
gemessenheit des Abstandes die festgesetzten technischen Vorkehrungen,
namentlich die festgesetzten Wandstärken, von vornherein mit in den Blick neh-
men konnten (UA S. 24), solchen Vorkehrungen also nicht die Funktion eines
Korrektivs eines „an sich“ unangemessenen Abstandes zukommt.
Auch die zweite Frage bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren.
Es gibt keine Verpflichtung einer Planungsbehörde, bei der Wahl zwischen
mehreren Alternativstandorten denjenigen auszuwählen, bei dem das Unfallrisi-
ko für Störfälle möglichst begrenzt wird (Beschluss vom 16. Januar 2013 a.a.O.
Rn. 15). Angesichts der verschiedenen spezifischen Faktoren bei der Bestim-
mung des angemessenen Abstands und des den Mitgliedstaaten eingeräumten
Wertungsspielraums ist auch nicht ersichtlich, dass Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie
96/82/EG für die Wahrung angemessener Abstände eine Alternativenprüfung
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erzwingen könnte, wenn bereits an dem ausgewählten Standort ein angemes-
sener Abstand gewahrt wird.
2. Auch die Divergenzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO führt nicht zur Zulas-
sung der Revision.
a) Die Beschwerde meint, das angegriffene Urteil weiche vom Urteil des Senats
vom 16. Dezember 2010 - BVerwG 4 C 8.10 - (BVerwGE 138, 301) ab. Eine die
Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist indes nur
dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn
die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung
tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen,
die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in An-
wendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 26 S. 14, stRspr).
Das Oberverwaltungsgericht hat sich dem Senatsurteil vom 16. Dezember 2010
(a.a.O.) ausdrücklich angeschlossen (UA S. 10) und in Übereinstimmung mit
diesem Senatsurteil der Sache nach angenommen, dass Soll-Vorschriften, die
dem nachgeordneten Planungsträger bei der Einschätzung, ob ein atypischer
Fall vorliegt, einen eigenen Abwägungsspielraum einräumten, keinen Verbind-
lichkeitsanspruch entfalten (a.a.O. Rn. 10). Dazu hat es auf die Festlegung des
Zielrahmens durch positive und negative Abgrenzungskriterien abgestellt. Auch
dies entspricht dem Senatsurteil vom 16. Dezember 2010 (a.a.O. Rn. 13). So-
weit die Beschwerde dem Oberverwaltungsgericht vorwirft, es habe aus einem
Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts die falschen Schlüsse gezogen
(Beschwerdebegründung S. 72), rügt sie lediglich eine fehlerhafte Rechtsan-
wendung im Einzelfall. Dies führt nicht zur Zulassung der Revision nach § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO (Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O.).
b) Eine Divergenz zu dem Senatsurteil vom 20. Dezember 2012 - BVerwG 4 C
11.11 - (BVerwGE 145, 290) legt die Beschwerde nicht dar. Wie die Beschwer-
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de selbst einräumt, ist die genannte Entscheidung nicht zu § 50 Satz 1
BImSchG, sondern zu § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ergangen, so dass eine Di-
vergenz ausscheidet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m.
§ 100 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1
GKG.
Prof. Dr. Rubel
Petz
Dr. Külpmann
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