Urteil des BVerwG vom 02.02.2010

Schweigen, Rüge, Versorgung, Bebauungsplan

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 4.10
VGH 3 C 2578/08.N
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Februar 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Petz
beschlossen:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulas-
sung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwal-
tungsgerichtshofs vom 29. Oktober 2009 wird zurückge-
wiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen der gerügten
Abweichungen des angefochtenen Normenkontrollurteils von Entscheidungen
des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.
Der Revisionszulassungsgrund der Abweichung liegt vor, wenn die Vorinstanz
in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem ihre Entscheidung tragen-
den Rechtssatz einem ebensolchen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts
widerspricht (vgl. Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 -
NVwZ-RR 1996, 712; stRspr). § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt, dass der
Tatbestand der Divergenz nicht nur durch die Angabe der höchstrichterlichen
Entscheidung, von der abgewichen sein soll, sondern auch durch Gegenüber-
stellung der miteinander unvereinbaren Rechtssätze dargelegt wird.
a) Der Antragsteller zitiert das Normenkontrollurteil mit dem Rechtssatz: „Die
Kombination von Einzelhandel und Wohnen ist der Baunutzungsverordnung als
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‚Nutzungsmix’ nicht fremd, vielmehr ist diese Kombination in Kerngebieten
grundsätzlich vorgesehen, so dass sich deren - abstrakte - Verträglichkeit be-
reits aus den Regelungen der Baunutzungsverordnung selbst herleiten lässt“.
Er meint, dieser Rechtssatz kollidiere mit einem Rechtssatz im Beschluss des
Senats vom 22. Juli 2004 - BVerwG 4 B 29.04 - (NVwZ-RR 2004, 815), der
sinngemäß laute, die BauNVO sehe großflächigen Einzelhandel und Wohnnut-
zung innerhalb desselben Baugebiets nicht vor.
Der geltend gemachte Widerspruch existiert nicht. Die Formulierung im Se-
natsbeschluss vom 22. Juli 2004, großflächige Einzelhandelsbetriebe sollten
von den in den §§ 2 bis 9 BauNVO bezeichneten Baugebieten ferngehalten
werden, rechtfertigt nicht den Schluss, den der Antragsteller aus ihm zieht. Wie
sich aus dem Beschluss (a.a.O., 816) ergibt, ist dem Senat nicht entgangen,
dass großflächige Einzelhandelsbetriebe nach § 11 Abs. 3 Satz 1 BauNVO au-
ßer in eigens für sie festgesetzten Sondergebieten auch in Kerngebieten zuge-
lassen werden können. Wohnungen sind nach Maßgabe von Festsetzungen
des Bebauungsplans in Kerngebieten ebenfalls zulässig (§ 7 Abs. 2 Nr. 7,
Abs. 4 BauNVO). Der Verordnungsgeber der BauNVO hält mithin großflächige
Einzelhandelsbetriebe und Wohnungen für miteinander gebietsverträglich. Aus
welchen Gründen er den Katalog der im Kerngebiet zulässigen Nutzungen um
die Wohnnutzung ergänzt hat, ist entgegen der Ansicht des Antragstellers ohne
Belang.
b) Das Normenkontrollurteil weicht ferner nicht vom Urteil des Senats vom
26. März 2009 - BVerwG 4 C 21.07 - (BVerwGE 133, 310) ab. Das Normenkon-
trollurteil enthält weder ausdrücklich noch konkludent einen Rechtssatz des
Inhalts, auch Festsetzungen, die nicht oder nicht vollständig der Realisierung
der mit der Planung verfolgten städtebaulichen Zielsetzungen dienten, seien
erforderlich im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB. Die These des Verwaltungsge-
richtshofs, an der Erforderlichkeit der Bauleitplanung fehle es nur dann, wenn
sie von keiner erkennbaren Konzeption getragen werde (UA S. 12), ist erkenn-
bar der Aussage des Senats im Beschluss vom 11. Mai 1999 - BVerwG 4 NB
15.99 - (BRS 62 Nr. 19 S. 97) nachgebildet, nicht erforderlich seien nur solche
Bauleitpläne, die einer positiven Planungskonzeption entbehrten. In der Not-
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wendigkeit einer positiven Planungskonzeption hat der Senat freilich nicht die
einzige Voraussetzung für die Erforderlichkeit eines Bebauungsplans gesehen.
Der Verwaltungsgerichtshof vertritt keine gegenteilige Auffassung.
Bei seinem Vorhalt, der Antragsteller habe nicht substantiiert belegen können,
dass die von der Antragsgegnerin planerisch vorgesehenen Angebote von
vornherein nicht umsetzbar sein oder unter keinen denkbaren Umständen an-
genommen werden (UA S. 26), geht der Verwaltungsgerichtshof ersichtlich von
dem rechtlichen Ansatz aus, ein Bebauungsplan sei nicht erforderlich, wenn
seiner Verwirklichung auf unübersehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hin-
dernisse im Wege stehen. Dieser Ansatz entspricht der Rechtsprechung des
Senats (Urteil vom 18. März 2004 - BVerwG 4 CN 4.03 - BVerwGE 120, 239
<241>), die durch das Urteil vom 26. März 2009 (a.a.O.) nicht berührt wird.
c) Die behauptete Divergenz zum Senatsurteil vom 24. November 2005 -
BVerwG 4 C 10.04 - (BVerwGE 124, 364) besteht nicht. Der Antragsteller be-
mängelt, dass der Verwaltungsgerichtshof seiner Schlussfolgerung, die Größe
der Lebensmittelverbrauchermärkte von maximal 1 500 m² (Verkaufsfläche)
belege, dass sie nicht der Nahversorgung dienten, nicht gefolgt sei, da sie zu-
mindest auch der Nahversorgung dienten (UA S. 13). Unabhängig davon, ob
dem Normenkontrollurteil überhaupt ein Rechtssatz zur Funktion von großflä-
chigen Lebensmittelmärkten für die Nahversorgung zu entnehmen ist, steht die
Entscheidung jedenfalls nicht im Widerspruch zum Senatsurteil vom 24. No-
vember 2005. Die darin enthaltene Aussage, Einzelhandelsbetriebe mit nicht
mehr als 800 m² Verkaufsfläche seien als Betriebe einzustufen, die der Nah-
versorgung der Bevölkerung dienten, rechtfertigt nicht den vom Antragsteller
gezogenen Gegenschluss, Betriebe mit einer Verkaufsfläche von 800 m² und
mehr könnten zur wohnungsnahen Versorgung der Bevölkerung nichts beitra-
gen.
d) Der Verwaltungsgerichtshof hat sich schließlich nicht dem Senatsbeschluss
vom 20. August 1992 - BVerwG 4 NB 3.92 - (BRS 54 Nr. 21) widersetzt. Den
von der Beschwerde unterstellten Rechtssatz, das Interesse am Fortbestand ur-
sprünglich bestehender Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung auf
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einem Nachbargrundstück könne kein abwägungsbeachtlicher Belang eines
Planbetroffenen sein, hat er nicht schon dadurch aufgestellt, dass er die Zulas-
sung einer Bebauung mit einer Länge, für die es kein Vorbild gibt, nur unter
dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit der Planung geprüft hat (UA S. 27).
Soweit der Antragsteller bemängelt, der Verwaltungsgerichtshof habe sich nicht
zu der Frage geäußert, ob die Antragsgegnerin das nachbarliche Interesse am
Fortbestand der bisherigen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung
rechtsfehlerfrei in ihre Abwägungsentscheidung eingestellt hat, ließe sich sei-
nem Vorbringen eine Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs entnehmen. Sie
führt freilich nicht zu einer Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO. Abgesehen davon, dass aus dem Schweigen der Urteilsgründe zu Ein-
zelheiten des Parteivortrags allein noch nicht der Schluss gezogen werden
kann, das Gericht habe diesen nicht zur Kenntnis genommen oder in Erwägung
gezogen (vgl. Beschluss vom 5. Februar 1999 - BVerwG 9 B 797.98 - Buchholz
310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 4), hat der Antragsteller die nunmehr vermisste
Prüfung der Abwägung der nachbarschaftlichen Interessen in der Vorinstanz
nicht angemahnt. Im Schriftsatz vom 2. Dezember 2008, auf den er in seiner
Beschwerdebegründung Bezug nimmt, hat er zwar darauf aufmerksam ge-
macht (S. 12 Rn. 33), dass eine zulässige Bebauung mit einer Länge von 68 m
völlig aus dem Rahmen der nachbarschaftlichen Bebauung fällt, nicht jedoch
geltend gemacht, dass die Planungsentscheidung deshalb an einem Abwä-
gungsfehler leidet.
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zur Klärung der
Frage zuzulassen, ob die Nutzung „großflächiger Einzelhandel“ mit der Nutzung
„Wohnen“ in einem am Ortsrand gelegenen Sondergebiet „abstrakt verträglich“
ist. Die Frage ist auf der Grundlage der Darlegungen des Senats im Urteil vom
28. Mai 2009 - BVerwG 4 CN 2.08 - (NVwZ 2010, 40) mit dem Verwaltungsge-
richtshof (UA S. 18 f.) ohne weiteres zu bejahen. Da im Kerngebiet ein Neben-
einander von großflächigem Einzelhandel und Wohnnutzung zulässig ist, ist die
Festsetzung einer solchen Nutzungskombination grundsätzlich auch in einem
Sondergebiet möglich. Etwaige Nutzungskonflikte im Einzelfall können auf der
Planebene durch eine Gliederung des Sondergebiets (vgl. Beschluss vom
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7. September 1984 - BVerwG 4 N 3.84 - BRS 42 Nr. 55), auf der Ebene der
Vorhabenzulassung mittels § 15 Abs. 1 BauNVO (Beschluss vom 6. Dezember
2000 - BVerwG 4 B 4.00 - BRS 63 Nr. 77) entschärft werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und die Streitwertfes-
tesetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
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