Urteil des BVerwG vom 30.06.2014

Gemeinde, Bebauungsplan, Rüge, Ausschluss

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 38.13
OVG 10 D 41/11.NE
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juni 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigela-
denen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nord-
rhein-Westfalen vom 26. April 2013 werden zurückgewie-
sen.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Kos-
ten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für die Beschwer-
deverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die insgesamt auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO ge-
stützten Beschwerden bleiben ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), die ihr die Antragsgegnerin und die Beigeladene beimessen.
a) Für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig hält die Beigeladene die Frage,
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ob die Festsetzung einer die Obergrenzen des § 17 Abs. 1
BauNVO überschreitenden Grund- bzw. Geschossflä-
chenzahl innerhalb eines festgesetzten Baugebiets im
Sinne der §§ 2 bis 11 BauNVO bereits deshalb unwirksam
ist, weil sich die Festsetzung des Baugebiets als unwirk-
sam erweist.
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie ist, soweit ent-
scheidungserheblich, nicht klärungsbedürftig. Das Oberverwaltungsgericht (UA
S. 15) hat festgestellt, dass vor dem Hintergrund der unzulässigen Baugebiets-
festsetzung auch die für das Sondergebiet festgesetzten Grund- und Geschoss-
flächenzahlen rechtswidrig seien, weil sie in Abhängigkeit von der Baugebiets-
festsetzung festgesetzt worden seien. Diese Feststellung ist mit Verfahrensrü-
gen nicht angegriffen; sie stimmt mit den Angaben im Tatbestand des angegrif-
fenen Urteils (UA S. 4) überein, wonach der Bebauungsplan zum Maß der bau-
lichen Nutzung für das Kerngebiet eine GRZ von 1,0 und eine GFZ von 3,0 so-
wie für das Sondergebiet eine GRZ von 1,0 und eine GFZ von 5,5 festsetze.
Entscheidungserheblich ist die aufgeworfene Frage deshalb nur, soweit sie sich
auf diese Fallkonstellation bezieht. Insoweit ist die Frage aber nicht klärungsbe-
dürftig. Denn dass eine festgesetzte Grund- bzw. Geschossflächenzahl unwirk-
sam ist, wenn sie auf spezielle Baugebietstypen bezogen ist, diese aber nicht
wirksam festgesetzt worden sind, liegt auf der Hand und bedarf nicht der Klä-
rung in einem Revisionsverfahren.
b) Rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf reklamieren beide Beschwerdeführe-
rinnen hinsichtlich der Frage,
ob bei der Aufstellung eines Angebots-Bebauungsplans,
der - wie hier - ausschließlich dazu diene, die baupla-
nungsrechtliche Grundlage für die Zulassung eines den
gesamten räumlichen Geltungsbereich des Bebauungs-
plans in Anspruch nehmenden konkreten Vorhabens zu
legen, den Anforderungen des § 1 Abs. 7 BauGB an eine
gerechte Abwägung genügt, wenn alle das konkrete Vor-
haben betreffenden Belange vollständig ermittelt, jeweils
zutreffend gewichtet und hiernach mangelfrei untereinan-
der und gegeneinander abgewogen worden sind,
bzw.,
ob die zutreffende Ermittlung der abwägungsrelevanten
Belange im Sinne des § 2 Abs. 3 BauGB im Rahmen einer
Angebotsplanung die Betrachtung sämtlicher nach den
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Festsetzungen des Bebauungsplans zulässigen, unter
Umständen jedoch fernliegenden Vorhaben voraussetzt,
oder ob die Betrachtung eines konkreten Vorhabens, das
Anlass der Angebotsplanung war und von dessen Umset-
zung bei realistischer Betrachtung ausgegangen werden
muss, genügt.
Die Beantwortung dieser Frage hängt von den Umständen des Einzelfalls ab
und ist einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. § 1 Abs. 7 BauGB
bestimmt, dass bei der Aufstellung der Bauleitpläne die öffentlichen und priva-
ten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind, § 2
Abs. 3 BauGB ergänzt dieses materiell-rechtliche Abwägungsgebot um die Ver-
fahrensanforderung (siehe § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB), dass die abwä-
gungserheblichen Belange zu ermitteln und zu bewerten sind. Zu ermitteln und
zu bewerten und gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind
alle Belange, die in der konkreten Planungssituation nach Lage der Dinge in die
Abwägungsentscheidung eingestellt werden müssen (Urteil vom 12. Dezember
1969 - BVerwG 4 C 105.66 - BVerwGE 34, 301 <309>). Von diesen Maßstäben
hat sich das Oberverwaltungsgericht (UA S. 18 f.) ersichtlich leiten lassen. Aus-
gehend hiervon hat es festgestellt, dass angesichts einer vorhandenen Vorbe-
lastung durch Verkehrslärm und einer im Bebauungsplan vorgesehenen bzw.
im Umfeld bereits vorhandenen Wohnnutzung eine sämtliche Faktoren einbe-
ziehende umfassende Ermittlung der zu erwartenden Lärmimmissionen erfor-
derlich sei; das schalltechnische Gutachten, auf das sich der Rat bei der Abwä-
gungsentscheidung gestützt habe, betrachte (demgegenüber) nur eine der im
Plangebiet denkbaren Bebauungsmöglichkeiten, obwohl mit der vorliegenden
Angebotsplanung (aufgrund der getroffenen Festsetzungen) auch andere Bau-
vorhaben denkbar seien, die aufgrund ihrer Größe, ihrer Lage im Plangebiet
und der Art ihrer Nutzung die für die störempfindliche Wohnnutzung relevanten
Beurteilungspegel maßgeblich beeinflussen könnten. Bezogen auf die konkrete
Planungssituation ist das Oberverwaltungsgericht also zu dem Ergebnis ge-
langt, dass eine Betrachtung des Vorhabens der Beigeladenen nicht ausreiche,
womit es auch zum Ausdruck gebracht hat, dass es andere denkbare Bebau-
ungsmöglichkeiten in der konkreten Planungssituation gerade nicht für fernlie-
gend hält.
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Mit dem Vortrag, ein anderer Senat desselben Gerichts habe es (in einer ande-
ren Planungssituation) als unbedenklich angesehen, dass die Gemeinde im
Rahmen eines Angebotsbebauungsplans, der als planungsrechtliche Grundlage
für ein konkretes Vorhaben gedient habe, vor allem dieses Vorhaben zur reali-
tätsnahen Abschätzung beeinträchtigter Belange herangezogen habe, zeigen
die Beschwerdeführerinnen grundsätzlichen Klärungsbedarf ebenfalls nicht auf.
Denn wenn zwei Spruchkörper eines Gerichts hinsichtlich unterschiedlicher
Planungssituationen unterschiedliche Anforderungen an das Abwägungsmate-
rial stellen, ist dies für sich genommen noch kein Beleg für eine unterschiedli-
che Handhabung der einschlägigen bundesrechtlichen Maßstäbe. Warum dies
vorliegend ausnahmsweise anders sein soll, legen weder die Antragsgegnerin
noch die Beigeladene substantiiert dar.
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen der von der
Antragsgegnerin und der Beigeladenen behaupteten Divergenz zuzulassen.
a) Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen den vom Oberverwaltungs-
gericht (UA S. 13) formulierten Rechtssatz, dass die Festsetzung eines Sonder-
gebiets (im Sinne des § 11 BauNVO) ausscheide, wenn die planerische Zielset-
zung der Gemeinde durch Festsetzung eines Baugebiets nach den §§ 2 bis 10
BauNVO in Kombination mit den Gestaltungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 4 bis 9
BauNVO verwirklicht werden könne. Mit diesem Rechtssatz weiche die Vor-
instanz nach Ansicht der Beschwerdeführerinnen von dem Beschluss vom
7. Juli 1997 - BVerwG 4 BN 11.97 - (Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 22) und
dem Urteil vom 28. Mai 2009 - BVerwG 4 CN 2.08 - (BVerwGE 134, 117) ab.
Nach Ansicht der Beigeladenen habe das Bundesverwaltungsgericht in dem
Beschluss klargestellt, dass die Frage, ob die Gemeinde durch die Festsetzung
eines Sondergebiets im Sinne des § 11 Abs. 1 BauNVO von den Baugebietsty-
pen der §§ 2 bis 10 BauNVO „wesentlich“ abweiche, anhand der normierten
allgemeinen Zweckbestimmung dieser Baugebietstypen „abstrakt“ zu beurteilen
sei, wohingegen nicht entscheidend sei, in welcher Weise die Gemeinde, indem
sie die ihr in § 1 Abs. 5 ff. BauNVO eröffneten Möglichkeiten nutze, einen in den
§§ 2 ff. BauNVO vorgesehenen Gebietstypen verändern könne. Eine die Revi-
sion begründende Divergenz ist damit nicht dargetan.
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Nach § 11 Abs. 1 BauNVO sind als sonstige Sondergebiete solche Gebiete
darzustellen und festzusetzen, die sich von den Baugebieten nach den §§ 2
bis 10 BauNVO wesentlich unterscheiden. Ein wesentlicher Unterschied be-
steht, wenn ein Festsetzungsgehalt gewollt ist, der sich keinem der Gebietsty-
pen nach §§ 2 bis 10 BauNVO zuordnen und der sich deshalb sachgerecht
auch mit einer auf sie gestützten Festsetzung nicht erreichen lässt. Diesen
Maßstab hat der Senat in dem von den Beschwerdeführerinnen angeführten
Beschluss vom 7. Juli 1997 (a.a.O.) dahingehend konkretisiert, dass die allge-
meine Zweckbestimmung des Baugebiets das entscheidende Kriterium dafür
ist, ob sich das festgesetzte Sondergebiet wesentlich von einem Baugebietstyp
im Sinne der §§ 2 bis 10 BauNVO unterscheidet. Zu vergleichen sind die kon-
kreten Festsetzungen des Sondergebiets mit der jeweiligen „abstrakten“ allge-
meinen Zweckbestimmung des Baugebietstyps. Können die mit der Planung
verbundenen Zielsetzungen mit der allgemeinen Zweckbestimmung der ande-
ren Baugebiete nicht in Deckung gebracht werden, unterscheiden sie sich von
ihnen wesentlich. Den Erfordernissen des § 11 Abs. 1 BauNVO ist damit ent-
sprochen. Mit diesen Ausführungen hat der Senat indes nicht in Abrede gestellt,
dass es für die umgekehrte Schlussfolgerung auch auf die Gestaltungsmöglich-
keiten des § 1 Abs. 5 bis 9 BauNVO ankommen kann. Dies hat er in seinem
Urteil vom 28. Mai 2009 (a.a.O. Rn. 10) ausdrücklich bestätigt: Die Festsetzung
eines Sondergebiets scheidet aus, wenn die planerische Zielsetzung der Ge-
meinde durch Festsetzung eines Baugebiets nach den §§ 2 bis 10 BauNVO in
Kombination mit den Gestaltungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO
verwirklicht werden kann. Diese Formulierung hat sich das Oberverwaltungsge-
richt (UA S. 13) ausdrücklich zu eigen gemacht.
b) Soweit die Beschwerdeführerinnen darüber hinaus geltend machen, das
Oberverwaltungsgericht habe „in diesem Zusammenhang … der Sache nach“
den weiteren Rechtssatz aufgestellt, dass sich ein städtebaulich gewünschter
Nutzungsmix selbst dann im Wege der Feinsteuerung gemäß § 1 Abs. 4 bis 9
BauNVO festsetzen lasse, wenn durch den damit verbundenen Ausschluss ein-
zelner Nutzungen die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets nicht mehr
gewahrt sei, findet diese Behauptung im angegriffenen Urteil keine Stütze. Ent-
sprechendes gilt für die Rüge der Antragsgegnerin, das Oberverwaltungsgericht
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habe aus dem zitierten Urteil vom 28. Mai 2009 (a.a.O. Rn. 10) den letzten Teil
des Satzes („die insoweit begrenzt sind, als die festgelegte allgemeine Zweck-
bestimmung des Baugebietstypus gewahrt bleiben muss“) nicht zur Kenntnis
genommen und deshalb bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Das
Oberverwaltungsgericht (UA S. 13) hat sich dem im Urteil des Senats vom
28. Mai 2009 (a.a.O.) formulierten Rechtssatz, dass die konkreten Festsetzun-
gen des Sondergebiets mit der jeweiligen „abstrakten“ allgemeinen Zweckbe-
stimmung des Baugebietstyps zu vergleichen sind, ausdrücklich zu eigen ge-
macht. Dass es hinsichtlich der nach § 1 Abs. 4 bis 9 BauNVO eröffneten Mög-
lichkeiten der Feinsteuerung von dieser Maßstabsbildung wieder abgerückt wä-
re, kann dem angegriffenen Urteil nicht entnommen werden. Abgesehen davon
lässt sich mit dem Vortrag, die Vorinstanz habe bundesrechtliche Maßstäbe
nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt,
der der Sache nach gegen eine als unzutreffend erachtete vorinstanzliche
Rechtsanwendung zielt, eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Diver-
genz nicht begründen.
3. Unsubstantiiert ist schließlich auch die seitens der Beigeladenen erhobene
Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die Beigeladene macht geltend,
das Oberverwaltungsgericht habe in verfahrensfehlerhafter Weise gegen an-
erkannte Erfahrungssätze und damit gegen den Grundsatz der freien Beweis-
würdigung im Sinne des § 108 VwGO verstoßen. Als „gesicherte Erfahrung“ be-
trachtet die Beigeladene ihre Annahme, dass die durch Baugrenzen bzw. Bauli-
nien festgesetzten Baufenster innerhalb hochwertigster zentraler Lagen im
innerstädtischen Bereich vollständig ausgenutzt würden. In Wahrheit wendet sie
sich damit wiederum nur gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung. Eine Ver-
fahrensrüge kann hierauf nicht mit Erfolg gestützt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m.
§ 100 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3,
§ 52 Abs. 1 GKG.
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